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Kommentar zum Aufsatz meines Vaters (JR 2010)




Das Thema Klaviertechnik wurde in unserm Haus durchaus nicht so entspannt gehandhabt, wie es bei der Handhabung des Klaviers vorausgesetzt scheint. Mein älterer Bruder und ich empfanden in der eigenen Praxis das Manko des gleichmäßigen Fingerspiels als vorrangig: er schimpfte über die Sechzehntelläufe bei Mozart, und ich hatte meine liebe Not mit einem scheinbar leichten Bach-Präludium wie dem in D-dur, WTC Bd. I.

Artur Reichow am Klavier, vermutlich 1930er Jahre (Scan 2010) Und so favorisierten wir einen im Notenschrank unseres Vaters entdeckten Band mit Fingerübungen von Josef Pischna. Wer auch immer ihn jetzt besitzt: das Deckblatt ist quer durchgerissen, weil mein Vater es vom Notenpult gefegt hat. Wir sollten gefälligst seine Technik üben (er hatte - als Ergänzung zu seinem Aufsatz - eine Reihe von Übungen ausgearbeitet und für seine Schüler hektographiert).

Wenn ich mich recht erinnere, besaß er kein grundlegendes Werk von Rudolf M. Breithaupt, könnte ihn aber während seiner Studienzeit in Berlin persönlich kennengelernt haben; ein auf Breithaupt fußendes Büchlein von Dr. Richard G'schrey hat er sich sorgfältig zueigen gemacht: "Kurzer Leitfaden der Klavierspieltechnik" 2. erweiterte Auflage, München 1929.
Darin findet man gleich zu Anfang den Leitsatz, dass "die großen Spielhebel vor den kleinen ausgebildet" werden sollen. Es seien
"drei Bewegungsarten der größeren Hebel zu üben, die zur Spielfreiheit führen:

a) Das Schwingen
b) Das Rollen.
c) Der Seitenschlag."
(G'schrey a.a.O. S. 9)
Mir ist es bis heute rätselhaft, wie man diese Bewegungsarten im Ernst an den Anfang des Klavierspiels setzen kann. Da es doch im wörtlichen Sinne auf der Hand liegt, welche Technik die ursprüngliche war, bei Bach und Mozart, an Cembalo, Orgel und Hammerclavier, nämlich die Technik der kleinen Hebel, der Finger. Und wenn man nicht gerade ein Virtuose im Sinn des 19. Jahrhunderts werden will, kommt man damit auch heute noch ganz gut zurecht.

Nicht jedem wissbegierigen Pianisten kann man zumuten, die 600 Seiten der "Lehre des Klavierspiels" von Czeslaw Marek (Zürich 1977) durchzuarbeiten, aber darin wird ganz richtig der wunde Punkt der Breithaupt-Technik bezeichnet: er liege in der

"Forderung des mehr oder weniger totalitären Einsatzes des ganzen Muskelbereiches von der Schulter bis zur Hand selbst bei einfachen Finger-Spielübungen, ferner in seiner Vernachlässigung der Fingerkraft und Fingerbeweglichkeit, des Daumenuntersatzes, der zweckmäßigen Ausführung des Legatospiels, vor allem aber in seiner einseitigen Bevorzugung der physischen Bequemlichkeit in der Spielmotorik zuungunsten der musikalisch bedingten Zweckmäßigkeit."
(Marek a.a.O. S. 613)

Damit wird keineswegs die Wichtigkeit der Schwung- und Gewichtstechnik in Zweifel gezogen, ebensowenig manches Richtige und Wertvolle in Breithaupts Methodik.

An einer einfachen Fünffingerübung (jeweils 5 Töne aufwärts, Rückschwung zum Ausgangspunkt und wieder die 5 Töne aufwärts; der besagte Rückschwung müsste demnach ebenso schnell vollzogen sein wie jede kleine Bewegung von Finger zu Finger) zeigt Marek die Überflüssigkeit solcher Schwungbewegungen:
"An diesem Beispiel eines unzweckmäßigen Schwunges werden die verheerenden Folgen der Vernachlässigung oder gar der Verkennung der Fingertechnik ersichtlich. Die überragende Bedeutung der Schwungtechnik soll durch diese Feststellung nicht etwa in Frage gestellt werde! Doch dürfen die Schwünge nicht nur als Ersatz für mangelnde Fingerausbildung verwendet werden und dürfen nicht nur der physischen Bequemlichkeit dienen. [...] Schwünge müssen dynamisch und rhythmisch, also musikalisch begründet sein.[...] Methoden, welche natürliche Fingerbewegungen hemmen oder sie gar verbieten, enden in heillosem Dilettantismus, welcher einer musikalisch befriedigenden Ausführung selbst einfachster Tonfolgen nicht fähig ist. Eine zweckmäßig entwickelte Schwungtechnik muß sich auf kräftige und bewegliche Finger stützen. Ohne musikalisch bedingte, pianistisch exakte Durchbildung der Finger ist die Schwungtechnik illusorisch, d.h. sie ist nicht das, was sie sein sollte, sie ist nur irregeleitete Scheintechnik."
(Marek a.a.O. S.282)
Zur Ehre meines Vaters sei gesagt: für uns war es ein Segen, dass die Technik überhaupt zum Thema wurde, auch wenn wir schon früh kontrovers reagiert haben. Bei manchen Lehrern galt damals die Frage nach dem Wie und Warum als Eingriff in charismatische Vorgänge; bei jedem physischen Versagen zweifelte man lieber an der Begabung des Schülers als an der unzulänglichen Methodik.

Für mich ist Klavier das Zweitinstrument, aber ich möchte es ordentlich spielen. Seit einer Bulgarienreise Ende der 70er Jahre übe ich die "Technik des Klavierspiels" von Andrey Stoyanow (1890-1969), Übungen, die ich gar nicht genug loben kann, sie berücksichtigen alle Bewegungsarten und: sie klingen!
Und noch eins: sie berücksichtigen Polyphonie und asymmetrische Rhythmen.

Jetzt fehlen mir nur noch Grundübungen afrikanischer Polyrhythmik.
(Falsch, - die gibt es längst!)

Jan Reichow, 25. Januar 2010




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