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Corelli, Bach und monomanische Ideen
Text für das Programmheft der Romanischen Nacht Köln 2007
Basilika St. Maria im Kapitol, 22. Juni 2007, 19:30 bis 2:00 Uhr
Von Jan Reichow

Wie konnte ein so simples Thema europaweit Furore machen? Wahnsinn!
Folia (port.)! Follìa (ital.)! Folies (frz.)!
Es ist eine magische Formel, genauso wie die 4 Töne abwärts, deren stete Wiederholung ein glaubwürdiges Lamento und - so Bach will - eine riesige Chaconne ergeben.
"Ciaconna" hat er selbst darübergeschrieben, denn er meinte die ganze Partita II italienisch, nicht französisch (im Gegensatz etwa zu Partita III in E-dur): Corrente, nicht Courante; Giga, nicht Gigue. Den seriösen Charakter haben viele Themen oder Tanzschritte erst auf ihrer Reise durch Europa angenommen; in ihrer iberischen Heimat hieß es rund 100 Jahre vorher noch, Ciaccona, Sarabande und Folìa seien "schamlose und wilde Tänze" (Cervantes 1618).
Wer weiß, ob der Follia nicht noch immer etwas Erdgeruch anhaftete, als Corelli um 1700 seine Variationen schrieb. Mit feiner Ironie und Sympathie verwendet Johann Sebastian Bach 1742 das gleiche Thema in seiner Bauernkantate - inzwischen kann jeder Musiker weit und breit die Corelli-Variationen mitpfeifen; sein Sohn Philipp Emanuel wird 1788 neue, atemberaubende Klavier-Variationen der "Folies d'Espagne" veröffentlichen.

Die Italiener hatten die Violine, vormals das Werkzeug der Bierfiedler, salonfähig gemacht, in Cremona überhaupt den Prototyp eines starken, singenden Instrumentes geschaffen, das der allzufeinen Gambe überlegen war, und sie behandelten es wie ein menschliches Wesen, zuweilen sogar mit übergroßer Anteilnahme:

"Niemals traf ich einen Mann, der während seines Spiels auf der Violine so sehr von seinen Leidenschaften mitgerissen wurde wie der berühmte Arcangelo Corelli, dessen Augen sich manchmal rot wie Feuer färbten; sein Gesicht pflegt sich zu verzerren, seine Augäpfel rollen wie in Agonie, und er gibt sich dem, was er tut, so sehr hin, dass er nicht mehr wie derselbe Mann aussieht."
Allerdings ist dies die Schilderung eines Franzosen: François Raguenet 1702.
So sah man Corelli, und so wollte man den italienischen Künstler auch sehen.

Dabei zeigen seine Werke, wie klar er die großen Wirkungen disponierte. Wie sorgfältig hat er seine Follia-Variationen aufbaut, damit sie nicht als bloße Aneinanderreihung der ewig gleichen Harmoniefolgen auftreten! In mehreren Wellen lässt er die Bewegung wachsen, schafft drei Ruhezonen durch Adagio- bzw. Andante-Variationen, lässt den Cembalo-Bass beredt mit der Violine korrespondieren und endet unter Aufbietung aller Mittel (Doppelgriffe in der Violine, Sechzehntelketten im Cembalo).

Der erste Bach-Biograph Nikolaus Forkel mag übertrieben haben, wenn er behauptet, Bach habe erst von Vivaldi, dem nur 7 Jahre älteren, "musikalisch denken gelernt". Denn andererseits hieß es, 6quot;blos eigenes Nachsinnen6quot; habe ihn "schon in seiner Jugend zum reinen u. starcken Fugisten gemacht6quot;.

Aber das Denken in polyphonen Strukturen garantiert noch keine große Form. Die Kunst der italienischen Tonarten-Disposition, der Modulation und der motivischen Verknüpfung musste dazukommen, ebenso der Sinn für Proportionen, z.B. im Verhältnis solistischer Abschnitte zu den größer besetzten, - und dann der Mut, all dies dem einen kleinen Melodieinstrument allein anzuvertrauen, der Geige. Solissimo!
Diese Idee muss den Geiger Bach wohl 17 Jahre lang verfolgt haben, seit er in seiner ersten Weimarer Zeit (1703) Johann Paul von Westhoff begegnet war: der hatte bereits 1687 eine "Suite pour le violon seul sans basse" geschrieben und wird auch seine neuerdings komponierten Sechs Suiten für Violine solo (1696) vor dem jungen Kollegen nicht verheimlicht haben.

Ein zweiter Schub: Bach begegnet - wiederum in Weimar (1709) - dem späteren Dresdner Konzertmeister Johann Georg Pisendel, der selbst hochvirtuose Violinsoli schrieb und spielte. Zugleich macht er Bach mit den Konzerten seines Lehrers Giuseppe Torelli bekannt, von Corelli und Vivaldi wird viel die Rede gewesen sein, Pisendel wird demnächst für ein Jahr zu Vivaldi nach Venedig ziehen, Italien ist das gelobte Land der Musik.
Bach beginnt, Vivaldis Violinkonzerte für sich und wohl auch für seinen jugendlichen Gönner Prinz Johann Ernst, der die Originaldrucke von einer Studienreise mitgebracht hatte, auf Tasteninstrumente zu übertragen (1713/14). In diesem Jahrzehnt wird die Violine zu seinem stärksten Ausdrucksmittel. Am Ende steht 1720 das wunderbare, kraftvolle Autograph der "Sei Solo" (nicht, wie es korrekt wäre: "Soli", - weshalb man auch im Ernst die Übersetzung vorschlug: "Du bist allein!"), 6 Sonaten und Partiten für Violine solo ohne Begleitung, ein Monumentalwerk an Tiefe, Eleganz und Expression. Unzählige Vorformen und Entwürfe müssen dieser Reinschrift im Laufe der Jahre vorangegangen sein. Wenn wir uns auf zwei Superlative beschränken wollen: Die Fuge der Sonata III C-dur für Violine Solo ist der größte Einzelsatz dieser Art, den Bach je geschrieben hat, und sie übertrifft mit 345 Takten sogar die Ciaccona mit ihren 257 Takten erheblich; wobei aber zu berücksichtigen ist, dass es sich mit der Länge der klingenden Musik umgekehrt verhält: die Fuge dauert rund 10, die Ciaccona etwa 15 Minuten.

Was für eine ungeheuerliche Szene tut sich auf! Keine gefällige Disposition der Tonarten, wie noch in den 4 Tanzsätzen vorher, nur D-moll, D-dur, D-moll. Die unablässig wiederholten, oft chromatisch geschärften Basslinien galten längst als Abbild dunklen Verhängnisses, unabänderlichen Schicksals, des drohenden Todes und der Gewalt unerfüllter Liebe: in Monteverdis "Lamento de la Ninfa" (vgl. Romanische Nacht Konzert 4), in Bachs "Lamento der Freunde" auf die Abreise des geliebten Bruders, in Purcells großer Abschiedsszene aus "Dido und Aeneas" oder auch im Crucifixus der H-moll-Messe, dessen musikalische Grundidee Bach schon in seiner Weimarer Zeit von Vivaldi übernommen hatte.
In der Ciaccona setzt er über den Bass ein kühnes Thema, das im Verlauf des Werkes an bedeutsamen Stellen wiederkehrt, nämlich genau in der Mitte und am Ende, ansonsten ist allein der absteigende Bass-Gang von thematischer Bedeutung und im wahrsten Sinne des Wortes maßgeblich.
Rolf Dammann spricht von 4x4x4x4 = 256 Takten plus Schlusstakt, irrt sich aber wohl in der Annahme, dass Bach sein Werk in dieses "im vorhinein festgelegte Rahmenwerk hinein" komponiert habe. Es ist nämlich eine Abschrift überliefert, die auf eine frühere, um 39 Takte kürzere Version der Ciaccona schließen lässt (Handschrift Kellner).

Die Bass-Formel tritt in mehreren Versionen auf, vor allem auch in der chromatisch absteigenden Form des Crucifixus. Von Moll nach Dur versetzt erscheint sie im großen Mittelteil, der wiederum mit seiner Fanfaren-Melodik an den Mittelteil der Arie "Es ist vollbracht" erinnert: "Der Held aus Juda siegt mit Macht". Die Akkordfolge des Ciaccona-Themas prägt auch die Anfänge der anderen Sätze der Partita, gerade auch der Sarabanda, die wie seine Umkehrung wirkt und in der Basslinie der ersten 8 Takte sogar eine vollständig absteigende Tonleiter markiert. Die Chromatik der Takte 17/18 ergibt quasi beiläufig ein B-A-C-H-Signum.
Eine Folge von Tanzsätzen, höchst stilisiert und nur noch fern, zumal in der Giga, an die alte Rolle des Instruments erinnernd: in der Hand des Fiddlers, des Bierfiedlers und - des Todes.
Die kreuzförmig ausgebreitete Tonfolge des allerersten Taktes der Allemanda wird am Schluss der Ciaccona rekapituliert und dem Grundton zugeführt.

Wenn Corellis La Follia tatsächlich noch eine Spur des Drehtanz-Wahnsinns ihrer monomanischen Erfinder bewahrt, so ist Bachs Ciaccona eher von jenem göttlichen Wahnsinn gezeichnet, den Sokrates (alias Plato) im Wesen der Liebe entdeckte.
Vier Tanzsätze münden in einen himmelstürmenden Bau, der für eine Orgel nicht hätte gewaltiger entworfen werden können! Das zarte Melodieinstrument mit vier Darmsaiten wird ausersehen, eine musikalische Kathedrale zu errichten, wahrhaftig: eins der Paradoxe, die nur das Christentum erfinden konnte. Nach typisch abendländischer Art hat man die Chaconne gern als "Triumph des Geistes über die Materie" gesehen (Spitta, Mersmann), vielleicht hat jedoch Brahms am meisten davon verstanden, als er sagte, das Werk habe ihn so erregt und schockiert, - hätte er es selbst komponieren müssen, so hätte er wohl den Verstand darüber verloren.
Wahrhaftig: Wahnsinn allenthalben!




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