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Jan Reichow: Schein, Schönheit, Musikgeschichte

Die Betrachtung der Musikgeschichte kann zu erstaunlichen Irritationen führen, besonders wenn man glaubt, über ein sicheres Gespür für den "Stand des musikalischen Materials" zu verfügen; man stützt sich nämlich unwillkürlich auf die großen deutschen Namen, die für Umwertungen gesorgt haben, zuweilen mehr oder weniger heftig miteinander konkurrierend. Etwa folgendermaßen:

Beethoven/Schubert ca. 1800 bis 1830, Brahms/Wagner ca. 1845 bis 1900, und zwischen diesen beiden historischen Blöcken ein "Interregnum": Mendelssohn, Schumann, Chopin.

Kann man nicht, mit diesem Schema im Kopf, jedes bedeutende Werk des 19. Jahrhunderts ziemlich genau in ein bestimmtes Jahrzehnt einordnen? Mit kleinen Unsicherheiten , sagen wir, bei einer Klaviersonate von Carl Maria von Weber, einem Streichquartett von Louis Spohr?

Den "Brahms-Ton" gibt es seit 1853 in Gestalt der Klaviersonate op.1, und der Bogen seiner Entwicklung spannt sich von hier über 40 Jahre zu den letzten Klavierstücken op. 119 im Jahre 1892, - mit der Ersten Sinfonie etwa auf halbem Weg (1876).

Wagners jahrhundertprägender kompositorischer Werdegang führt von ca. 1840 (Rienzi/Fliegender Holländer) bis 1880 (Parsifal), - mit der historischen Stilzäsur der Tristanchromatik etwa in der Mitte (1859).Vor allem diese beiden Lebenswerke haben Spuren hinterlassen bei allen musikalischen Menschen, die in ihren Bannkreis gerieten und entsprechende Impulse verarbeiten konnten. (Dvorak, Bruckner)

Schwierig wird es erst bei Kompositionen, die auch nur ein wenig außerhalb dieses Stranges angesiedelt sind und damit keinen Anspruch auf ein deutsches Gütesiegel musikalischer Weltliteratur zu erheben scheinen. Nehmen wir das Trio pathétique von Glinka oder die Sinfonie C-dur von Bizet. Überhaupt spielen nationale bzw. geografische Faktoren eine "verunklarende" Rolle: die subjektive Durchdringung des Materials scheint leichter entbehrlich zu sein, wenn es von einem besonderen Ton durchglüht wird. Die musikalische Charakteristik des Polnischen, Slawischen, Russischen, Skandinavischen wird auf den internationalen Podien wie ein Teil individueller Persönlichkeit wahrgenommen, als Originalität, nicht etwa als Allgemeinplatz.

Schwer zu berechnen ist die Wirkung des Faktors Bach, in dessen Verehrung sich die größten Kontrahenten überbieten, ebenso die alle Schulzwistigkeiten integrierende und zuspitzende Rolle Beethovens.
An ihm kam niemand vorbei (abgesehen vielleicht von Chopin?), selbst wenn man so unterschiedliche Folgerungen aus dem Beethovenstudium zog wie Wagner und Brahms. Auch Berlioz wäre hier zu nennen: er sah als eigentlichen Quell seiner Programm-Musik die Beethovensche Symphonie, und alles weitere sagt ein auf ihn bezogenes Wort, das Wagner zu Liszt äußerte: dass nämlich "in dieser Gegenwart nur wir drei Kerle eigentlich zu uns gehören, weil nur wir uns gleich sind." (Bücken S. 196)
Er vereinnahmt allerdings Prioritäten: wieviele von seinen Entdeckungen im Reich der Chromatik und der Modulation waren nicht bei Chopin und Liszt schon vorgebildet worden!?

Bedeutsam an Schumanns berühmter Besprechung der Variationen op. 2 von Chopin ist nicht nur, daß er ein neues Genie der Kunstwelt vorstellte, sondern auch, daß er "einen ausländischen Musiker als ebenbürtigen Genossen in den Kreis der großen romantischen Musik" einführte (Bücken S. 176). Schumanns Begeisterung galt aber dem verwandten romantischen Geist, nicht etwa seinem besonderen polnischen Akzent; den er allerdings auch keiner Kritik unterzog.

Dem dänischen Freund Niels W. Gade dagegen wünschte er:

"daß der Künstler in seiner Nationalität nicht etwa untergehe, daß seine 'nordscheingebärende' Phantasie (...) sich reich und vielgestaltig zeige, daß er auch in andere Sphären der Natur und des Lebens seinen Blick werfen möge. So möchte man allen Künstlern zurufen, erst Originalität zu gewinnen und dann sie wieder abzuwerfen..."
(Schumann S. 269)
Wie original begann Chopin ? Als Beethoven starb, war der hochbegabte Musikstudent fast 17 Jahre alt, aber ob er Beethoven ernsthaft zur Kenntnis genommen hat, ist fraglich. Mit 19 schrieb er als Abschluss seines Studiums bei Joseph Xaver Elsner das g-moll-Trio op. 8; etwas später, am 20.10.1829 hörte er Beethovens Erzherzog-Trio und notierte: "...Beethoven höhnt darin die ganze Welt", - eine ziemlich absurde Beobachtung; es ist auch kaum glaubwürdig, dass sich Chopin damit - wie Zielinski vermutet - nur auf das Scherzo bezieht, etwa weil er selbst demnächst ein Scherzo in h-moll schreiben wird (S. 296). Tatsächlich arbeitet er aber gerade an den ersten Etüden (op. 10) und am f-moll-Klavierkonzert.

Er ging nämlich einen anderen Weg, und in seiner Welt spielten eher die Komponisten "zweiten Ranges" eine Rolle: Clementi, Cramer, Hummel, Czerny. Vielleicht ist dies - neben seiner polnischen Verwurzelung - der Grund, dass er mit einem Schlage "original" war; einige seiner wichtigsten Werke entstanden sehr früh: die beiden Klavierkonzerte und die Etüden op. 10 schrieb er mit 19 bzw. 20 Jahren.

"Merkwürdigerweise hat sich Chopin als Komponist so gut wie überhaupt nicht entwickelt. Fast vom ersten Opus an steht er als fertiger Komponist da, mit einer deutlich abgegrenzten Individualität."
Dies sagte Alexander Skrjabin am 28.3.1910, also zu Chopins Hundertjährigem. (Burger S. 348)

Aber schon 1838, als Chopin sich noch nicht zehn Jahre in der Öffentlichkeit bewegte, sah Schumann Veranlassung, eine Rezension folgendermaßen zu beginnen:
"Chopin kann schon gar nichts mehr schreiben, wo man nicht im siebenten, achten Takte ausrufen müßte: 'das ist von ihm'! Man hat das Manier genannt und gesagt, er schreite nicht vorwärts. Aber man sollte dankbarer sein. Ist es denn nicht dieselbe originelle Kraft, die euch schon aus seinen ersten Werken so wunderbar entgegenleuchtet, im ersten Augenblick euch verwirrt gemacht, später auch entzückt hat? Und wenn er euch eine Reihe der seltensten Schöpfungen gegeben, und ihr ihn leichter versteht, verlangt ihr ihn auf einmal anders?"
(1838 anlässlich der Werke op. 29-31, Schumann S. 211)
Vergleicht man Chopins Klaviertrio op. 8 mit dem Klaviertrio op. 42 von Niels W. Gade, wird man zögern, wo die beiden Werke auf der oben angedeuteten historischen Skala einzutragen wären. Und die Aufgabe würde nicht eben erleichtert, wenn man erführe, dass mehr als 30 Jahre zwischen ihren Werken liegen. Es wäre nicht einmal eine Hilfe, wenn man erführe, dass der eine Komponist zur Entstehungszeit des Werkes noch nicht zwanzig war, der andere fast fünfzig.

In einem Punkt würde man vielleicht den Älteren erkennen: in der Meisterschaft der Instrumentierung, die aber wohl gar nicht lebenslanger Erfahrung bedurfte: Niels W. Gade war ein ausgezeichneter Geiger und hätte es nicht übers Herz gebracht, die Streicher dem Klavier wirklich unterzuordnen. Andererseits kennt er das treibende pianistische Moment der Gattung Klaviertrio, er wahrt also eine perfekte Balance.

Chopin scheint neben dem Klavier allenfalls das Cello ernst genommen zu haben, dieses aber wohl nur, weil sein Freund und Gönner Fürst Antoni Radziwill das Instrument spielte, und so konnte es sogar zu drei Werken für Cello und Klavier kommen, - es sind tatsächlich die einzigen Kammermusikwerke neben dem Trio, das denn auch ausdrücklich dem Fürsten gewidmet ist. Die Geige wirkt natürlich tatkräftig mit, aber von ihrer Fähigkeit zu singen macht Chopin wenig Gebrauch, kaum jemals nutzt er die Leuchtkraft ihrer E-Saite. Er soll sogar überlegt haben, ob er die Geige nicht durch eine Bratsche ersetzen sollte; er kann sie nicht wirklich geliebt haben. Was den Geiger nicht hindern muss, seinen Part - wie in dieser Aufnahme - liebevoll zu überhöhen... Und doch wäre zu verstehen, wenn er im Innersten mit dem anderen Komponisten sympathisiert, Niels W. Gade, von dem Robert Schumann schreibt, ihn habe ähnlich wie Bach schon der Zufall seines Namens auf die Musik hingewiesen, und
"so bilden sonderbarerweise die vier Buchstaben seines Namens die vier offenen Violinsaiten. Streiche mir niemand dies kleine Zeichen höherer Gunst weg, wie das andere, daß sich sein Name (durch vier Schlüssel) mit einer Note schreiben läßt, die herauszufinden Kabbalisten ein leichtes sein wird."
(Schumann S. 269)
Chopin ging es in erster Linie um sein Klavier, und zwar mit einer Ausschließlichkeit, die es in der Geschichte der Tasteninstrumente von Domenico Scarlatti bis Franz Liszt nicht gegeben hat; das ist besonders bemerkenswert, weil diese Einseitigkeit nicht zu musikalischer Armut geführt hat.
Von Chopin hätte Schumann nicht sagen können, was er an den Sonaten des jungen Brahms hervorhob, - dass es "mehr verschleierte Symphonien" seien.

Chopins Phantasie entzündete sich in bisher ungekanntem Ausmaß an der Tastatur und an den bezaubernden Figuren und Harmonien, die sich mit 10 Fingern formen ließen. "Er begann komponierend am Klavier, um schließlich zu diesem zu gelangen," schreibt Jean-Jacques Eigeldinger und verweist insbesondere auf die Vollendung der Préludes op. 28 auf Mallorca, "für die Chopin zwingend eines Pianinos bedurfte, das ihm Pleyel aus Paris schickte." Wobei aber anzufügen wäre, dass er dort auch vorher schon ein gemietetes Klavier zur Verfügung hatte, ein dürftiges allerdings, die sogenannte "casserolle". (Zielinski S. 575) Ignaz Moscheles, selbst einer der bedeutendsten Pianisten des Jahrhunderts, beschrieb den Zusammenhang der Kompositionsweise Chopins mit seinem Klavierspiel:

"Sein ad libitum-Spielen, das bei den Interpreten seiner Musik in Taktlosigkeit ausartet, ist bei ihm nur die liebenswürdigste Originalität des Vortrags; die dilettantisch harten Modulationen, über die ich nicht hinwegkomme, wenn ich seine Sachen spiele, choquieren mich nicht mehr, weil er mit seinen zarten Fingern elfenartig leicht darüber hingleitet; sein Piano ist so hingehaucht, daß er keines kräftigen Forte bedarf, um die gewünschten Contraste hervorzubringen; so vermißt man nicht die orchesterartigen Effecte, welche die deutsche Schule von einem Klavierspieler verlangt, sondern läßt sich hinreißen, wie von einem Sänger, der wenig bekümmert um die Begleitung ganz seinem Gefühl folgt; genug, er ist ein Unicum in der Clavierspielerwelt."
(Burger S. 162)
Und auch Franz Liszt erwähnt diese von Orchesterfarben abstrahierende Klangvorstellung Chopins:
"Wir müssen in Wahrheit diese seltene Hingabe an das Schöne um seiner selbst willen an Chopin bewundern, die ihn der herkömmlichen Neigung, jedes Körnchen Melodie zwischen hundert Orchesterpulte zu verteilen, entsagen ließ und ihm gestattete, die Mittel seiner Kunst zu bereichern, indem er lehrte, dieselben auf den geringsten Raum zu konzentrieren."
(Burger S. 348)
Muss man in Worten beschreiben, was die Schönheit des Klaviertrios op. 8 im Einzelnen ausmacht? Dass es viersätzig ist wie viele andere auch, dass an zweiter Stelle eine Scherzo steht und von der Liebe Chopins zu Mozart (und Schubert) zeugt und dass der hochromantische langsame nur einen Fehler hat, - den, dass er überhaupt endet? Zielinsky beschreibt ihn so: "Sobald sich das Klavier für einen Moment hinter die Melodie zurückzieht - als ob ein Übermaß innerer Bewegung ihm die Sprache verschlagen hätte -, wird der Faden ganz sanft von der Violine aufgegriffen. Dieses Thema kehrt später nicht mehr in seiner originalen Gestalt, sondern nur in modifizierter Form wieder. Zum erstenmal hat Chopin der Melodie eine so wesentliche Rolle zugewiesen, und in keinem der frühen Werke wirkt sie so gesanglich, so weit ausgreifend und so tief empfunden." (Zielinsky S. 136 f)

Schon Robert Schumann meinte:

"Was könnte ich über dieses Trio sagen, was nicht jeder, der ihm nachzuempfinden vermag, sich selbst gesagt hätte! Ist es nicht so edel als möglich, so schwärmerisch, wie noch kein Dichter gesungen hat, eigentümlich im kleinsten wie im ganzen, jede Note Musik und Leben? Armer Berliner Rezensent, der du von all' diesem nichts geahnet, nie etwas ahnen wirst, armer Mann! -"
(Schumann S. 152 f)
Der Berliner Rezensent hieß Ludwig Rellstab (bekannt als Dichter von Liedern des Schubertschen "Schwanengesangs"); er hatte Chopin in einigen unsäglichen Rezensionen heruntergeputzt, im Fall dieses "auf einen sehr fertigen Clavierspieler berechneten" Trios folgendermaßen:
"...haben wir doch in dem ganzen Trio kaum einige Takte gefunden, die ohne rasche Passagenbewegung wären, so daß man also selbst bei sehr melodischer Behandlung der Saiteninstrumente (sic! statt: Streichinstrumente) doch nicht recht zu einem eigentlichen Ruhepunkte kommen kann, wie dies in Beethoven's Arbeiten dieser Art der Fall ist. Im Ganzen strebt uns der Componist zu viel nach Eigenthümlichkeit (wir sollten sagen Besonderheit), statt sich des natürlichen Flusses zu befleißigen, der durch das allgemeine Kunstgesetz geregelten Schönheit vorzugsweise zu huldigen."
(28. Juni 1833, Burger S. 106)
Zehn Jahre später hat auch dieser Rezensent seine Meinung geändert und möchte Chopin mit Vermittlung des allzeit hilfsbereiten Franz Liszt persönlich kennenlernen.

Chopin war kein Kritiker, aber auch seine musikalische Generosität hatte enge Grenzen: Mendelssohns Musik fand er - abgesehen vom g-moll-Klavierkonzert und dem ersten der Lieder ohne Worte - "trivial", und von den Werken Schumanns, der ihn in den Himmel hob und dem Chopin immerhin eine Klavierballade widmete, duldete er "absolument rien" - absolut nichts. (Burger S. 230)

Gerade in dieser Tradition steht nun Niels W.Gade, auch wenn sein Klaviertrio op. 42 wesentlich später entstand (1863); die anderen Meistertrios der Romantik sind ihm also vertraut, jedenfalls die beiden in d-moll und c-moll von Mendelssohn und die drei von Schumann, deren letztes in g-moll Gade gewidmet ist. Die drei Komponisten kannten sich aus der gemeinsamen Leipziger Zeit: der junge Däne hatte seine erste Sinfonie, die in Kopenhagen abgelehnt worden war, an Mendelssohn in Leipzig geschickt, und der führte sie mit seinem Gewandhausorchester 1843 mit großem Erfolg auf. Meist liest man es in dieser verkürzten Darstellung, tatsächlich bestand aber schon eine Verbindung. Gegen Ende seines Lebens erinnert sich Gade in einem Brief an Clara Schumann:

"Unter hohen schönen Buchen, im hellen und fröhlichen Sonnenschein, sitze ich jetzt und denke an liebe und gute Freunde, die mir die Vorsehung geschenkt hat.- In erster Reihe treten dann die Freunde von meiner Jugendzeit hervor, und unter diesen erlaube ich mir Ihnen, liebe Frau Schumann, als eine der ersten zu rechnen, - unsere erste Bekanntschaft schreibt sich von Ihrem Aufenthalt in Copenhagen, und dies leitete zu dem Zusammenleben in Leipzig mit Schumann und Mendelssohn, eine für mich glückliche Zeit."
(12.08.87, Litzmann III S. 492)
Diese glückliche gemeinsame Zeit dauerte bis 1847: Schumann schrieb einen begeisterten Artikel in der Neuen Zeitschrift für Musik: da zeige sich "ein entschieden nordischer Charakter; aber gewiß wird Gade selbst am wenigsten verleugnen, wie viel er den deutschen Meistern zu verdanken hat. Den größten Fleiß, den er ihren Werken widmete (er kennt so ziemlich alles von allen), belohnen sie ihm mit dem Geschenk, das sie hinterlassen, die sich ihnen treu zeigen, mit der Weihe der Meisterschaft." Von neuern Komponisten sei namentlich ein Einfluß Mendelssohns in gewissen Instrumentalkombinationen sichtbar, in der Symphonie erinnere manches an Franz Schubert, während sich überall eine ganz originelle Melodienweise geltend mache, wie sie bisher in den höheren Gattungen der Instrumentalmusik in so volkstümlicher Art noch nicht dagewesen sei.

Gade war dreißig Jahre alt, als Mendelssohn im November 1847 starb; der Pianist Moscheles sowie Gade und Schumann gingen zur Rechten des Sarges. Gade wurde zwar mit der Nachfolge Mendelssohns betraut, aber als im kommenden Frühjahr der preußisch-dänische Krieg ausbrach, zog es ihn zurück in die Heimat. Er wurde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur bedeutendsten Gestalt der dänischen Musik. Wie Schumann es vorausgesagt oder gehofft hatte, verschwand die nationale Komponente zugunsten der - übernational deutschen (?), und so erinnert Gades Musik zeitlebens an die Durchsichtigkeit Mendelssohns und an die Poesie Schumanns, obwohl er in Dänemark längst Sinfonien von Brahms aufführte und auch Wagners Entwicklung aufmerksam verfolgte. Die Oper gehörte allerdings nicht zu seinen Anliegen und in Anspielung auf die neue Liszt-Wagner-Welt stellte er ausdrücklich "das Schöne über den Effekt."

Ein zweischneidiges Wort, dem Wagner mit seiner Definition "Effekt ist Wirkung ohne Ursache" begegnet wäre, was er sicher sogleich am Beispiel Meyerbeer hätte erörtern wollen, - wo "die Aeusserlichkeiten der Kunst ... zu ihrem Wesen gemacht" seien. Aber sogar das Schöne selbst habe sowohl mit dem Wort "Schauen" als auch mit "Schein" zu tun. Und ist Schein nicht Wirkung und Effekt?

"Wo ich früher noch mit einem jungen Musiker, der in Mendelssohn's Nähe gekommen war, zusammentraf, wurde mir immer nur die eine vom Meister ertheilte Ermahnung berichtet, beim Komponiren ja nicht an Wirkung oder Effekt zu denken und Alles zu vermeiden, was solchen hervorbringen könnte. Das lautete ganz schön und gut, und wirklich ist es auch allen dem Meister treu gebliebenen Schülern nie begegnet, Effekt oder Wirkung hervorzubringen."
(Wagner-Lexikon S. 132)
Jeder kennt das auf Mendelssohn gemünzte boshafte Wort von der "grundlosen Schwermut". Es ist leicht zu variieren: "grundlose Leidenschaft", "grundlose Freude", "grundlose Aktivität". (Im Journalismus bedient man sich des polemischen Arguments der "Beliebigkeit".) Wenn aber das Wort "schön" nicht ausreicht, - wie soll man nachweisen, dass ein Werk in sich stringent ist, die Höhe einer Tradition wenn nicht die seiner Zeit spiegelt, auf expressive Effekte verzichtet und doch von authentischen Emotionen erfüllt ist? Wahrscheinlich ist es von ausreichenden Gründen getragen, wenn man gar nicht auf die Idee kommt, nach Gründen zu fragen.
Und wer möchte ein so schönes Klaviertrio wie das in F-dur op. 42 von Niels W. Gade mit solchen Fragen behelligen?

Die Novelletten sind eine kraftvolle Zugabe, beinahe ein weiteres Trio, wenn es zulässig wäre, dass es mit einem Scherzo beginnt: 5 Stücke, die miteinander kontrastieren und in der Folge der Tonarten (a-moll, E-dur, a-moll, F-dur, a-moll) einen harmonischen Bogen beschreiben.

Unter der Bezeichnung Novellette wird im 19. Jahrhundert meist ein Stück pointiert erzählenden ("novellistischen") Charakters verstanden, aber Robert Schumann, der Erfinder des Begriffs, der seine Charakterstücke op. 21 mit dem Titel "Novelletten" überschrieb, hatte eine ganz andere Erklärung: er beziehe sich auf die von ihm bewunderte englische Sängerin Clara Novello, zugleich aber auch noch auf eine ganz andere Clara, der er schrieb, dass "Wiecketten leider nicht gut genug klänge..."

In der Tat hat das Wort "Novellette" einen guten Klang, auch wenn man die Sängerin nicht im Ohr hat, zumal unüberhörbar das lateinische Adjektiv "novellus" ("neu", "jung") mitschwingt, die Verkleinerungsform für novus.
Niels W. Gade hat die "Novelletter" (so der dänische Plural) op. 29 im Jahre 1863 in Leipzig veröffentlicht. Weit berühmter wurden seine späteren "Novelletter" op. 53 und 58 für Orchester.

Erwähnte Literatur:
  • Ernst Bücken: Musik des 19. Jahrhunderts bis zur Moderne / Wildpark-Potsdam 1929
  • Franz Brendel: Geschichte der Musik / Leipzig 1903
  • Ernst Burger: Frédéric Chopin / Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten / München 1990
  • Carl Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik / Laaber 1988
  • Jean-Jacques Eigeldinger: Chopin / MGG Stuttgart 2000
  • Berthold Litzmann: Clara Schumann / Ein Künstlerleben / Nach Tagebüchern und Briefen / Leipzig 1909
  • Bo Marschner: Gade, Niels (Wilhelm) / The New Groves / London 1980
  • Robert Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, herausgegeben von Paul Bekker Berlin 1922
  • Wagner-Lexikon, zusammengestellt von Carl Fr. Glasenapp und Heinrich von Stein / Stuttgart 1883
  • Tadeusz A. Zielinski: Chopin / Bergisch Gladbach 1999
tacetlogo (3K) Dieser Text wurde 1999 für das Booklet folgender CD-Aufnahme geschrieben:

TACET-CD 112
Romantische Klaviertrios Vol. 3
Abegg Trio:
Ulrich Beetz, Violine; Birgit Erichson, Violoncello; Gerrit Zitterbart, Klavier.

Frédéric Chopin:
Trio g-Moll op. 8

Niels W. Gade:
Novelletten op. 29
Trio F-Dur op. 42

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