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"...kein Liebhaber von trocknem mathematischen Zeuge":
Johann Sebastian Bach und das Musikalische Opfer

Ein Beitrag für den Almanach der Bachwoche Ansbach 2001
von Jan Reichow

(27. Juli 2001, Eröffnung mit der Orchesterfassung
des Musikalischen Opfers von Igor Markevitch)

 

Kaum ein anderes Werk Bachs ist biographisch so klar verankert, - wir kennen Ort, Tag und Stunde, wann und wo ihn das berühmte Thema erfasst hat: 7. Mai 1747, gegen 8 Uhr abends im Potsdamer Stadtschloss (nicht in Sanssouci). Man konnte es damals sogar in den Berlinischen Nachrichten nachlesen: König Friedrich II. hatte es ihm vorgespielt, und Bach hatte darüber an einem der königlichen Fortepiani eine dreistimmige Fuge improvisiert, die im wesentlichen so ausgesehen haben wird, wie wir sie am Anfang des gedruckten Musikalischen Opfers finden: das Ricercar à 3.

"Der König bewunderte die gelehrte Art, mit welcher sein Thema so aus dem Stegreif durchgeführt wurde...",
berichtet der erste Bach-Biograph Forkel. Für den König war dies nun einmal der legendäre Fugen-Bach; dabei hätten ihn die phantastisch wuchernden Zwischenspiele erschüttern können, die geradezu bedrohlich ins Schlangenhafte verwandelte Chromatik seines Themas, der plötzliche Eintritt empfindsamer und grazil-synkopischer Wendungen, die Vermittlung aller Elemente miteinander, bis hin zur galanten Verbeugung in den Schlusstakten, - er hörte "die gelehrte Art" und
"äußerte nun, vermuthlich um zu sehen, wie weit eine solche Kunst getrieben werden könne, den Wunsch, auch eine Fuge mit 6 obligaten Stimmen zu hören. Weil aber nicht jedes Thema zu einer solchen Vollstimmigkeit geeignet ist, so wählte sich Bach selbst eines dazu..."

Zweifellos war dem Bauherrn von Sanssouci, Komponist sorgloser Flötenkonzerte, mehr daran gelegen, Fugenverstand zu zeigen, während das Fugen-Denkmal aus Leipzig darzulegen suchte, wie der empfindsame Stil gewissermaßen aus dem strengen hervorwächst, der eine als Spielart des anderen aufzufassen ist. Unter den Herren der Hofkapelle, von der sie umringt waren, befanden sich die besten Musiker der Zeit: die Brüder Graun, die Brüder Benda, Johann Joachim Quantz, zu schweigen von Johann Sebastian Bachs großem Sohn Carl Philipp Emanuel, - es lohnte sich, musikalische Zeichen zu setzen.

Am 18. Mai war Bach zurück in Leipzig (seine Teilnahme am Abendmahl in der Thomaskirche ist belegt) und machte sich unverzüglich daran, sein Versprechen einzulösen, nämlich das Königliche Thema "in einer ordentlichen Fuga zu Papiere zu bringen, und hernach in Kupfer stechen" zu lassen; das hieß wohl zunächst, die vor dem König improvisierte dreistimmige Fuge schriftlich zu fixieren und die dort vorenthaltene sechsstimmige bravourös ausgearbeitet nachzuliefern.

Aber er tut mehr: er antwortet mit einer ebenso schwierigen Aufgabe für das königliche Instrument, die Traversflöte, und entwirft eine Triosonate, die es in sich hat, für Traversa, Violine und Continuo, natürlich auch mit fortwährendem Blick auf das königliche Thema ("Sopr' Il Soggetto Reale"), eine Sonata, die alle Momente des empfindsamen Stils enthält, ohne des Fugenhaften im mindesten zu entraten.

Am 7. Juli 1747 schreibt Bach die Widmung des Musikalischen Opfers an Friedrich II.; am 30. September bietet er "das versprochene Königl. Preußische Fugen-Thema" in der Presse zum Kauf an: zum Preis von einem Taler, erhältlich sowohl
"bey dem Autore, Capellmeister Bachen, als auch bey dessen beyden Herren Söhnen in Halle und Berlin ...Die Elaboration bestehet 1.) in zweyen Fugen, eine mit 3., die andere mit 6. obligaten Stimmen; 2.) in einer Sonata, a Traversa, Violino e Continuo; 3.) in verschiedenen Canonibus, wobey eine Fuga canonica befindlich."
Bach könnte mit dieser Auflistung eine denkbare Reihenfolge angedeutet haben, wenn es nicht ziemlich unwahrscheinlich wäre, dass er je an eine integrale Aufführung des Werkes gedacht hat. Man vergißt leicht, schreibt der Bach-Forscher Malcolm Boyd mit einem gewissen Sinn für Drastik,
"daß jeder, der im Oktober 1747 bei Bach an der Haustür klopfte und seinen Taler für ein gedrucktes Exemplar des 'Musicalischen Opfers' bezahlte, einen Stoß ungebundener und ungehefteter Bögen bekam, die vielleicht nur in einen lockeren Umschlag verpackt waren, wenn nicht nur das Doppelblatt der Titelseite als vorübergehende Hülle für den Rest diente. Hatte der Käufer nun das Pech, dass er ausrutschte, als Bachs Wohnung verließ, zerstreuten sich die einzelnen Blätter seines Drucks vielleicht über das Pflaster des Thomaskirchhofs. Er hätte große Mühe gehabt, sie auf dem Heimweg wieder in Ordnung zu bringen. Die Seitenzahlen oder andere Merkmale machten es ihm zwar möglich, die fünf Einheiten in sich wieder zusammenzubringen, aber er hätte wohl kaum sagen können, in welcher Reihenfolge die fünf Teile lagen (mit Ausnahme des Titelblatts natürlich), als er sie kaufte..." (Boyd S. 267 f)
Das ungeordnete Erscheinungsbild des Originaldrucks (verschiedene Papiersorten und Druckformate, teils zusammengebundene, teils eingelegte Blätter, teils Partitur, teils Einzelstimmen) hat zu unendlichen Diskussionen geführt: vor allem über die gewünschte Reihenfolge der Stücke, aber auch über die Möglichkeit, dass das Sonderexemplar für den König in zwei Lieferungen nach Berlin gegangen sei, - wobei die psychologische Unwahrscheinlichkeit übersehen wurde, dass in der ersten Lieferung neben einigen Kanons und der Sonata auch das dem König versprochene Kernstück, die sechsstimmige Fuge, gefehlt hätte. (Christoph Wolff, der im Bach-Jahrbuch 1967 die Hypothese von den zwei Lieferungen entwickelt hatte, kommt in seinem Bach-Buch zum Jahr 2000 nicht mehr darauf zurück.)

Aber selbst wenn alles in einem einzigen Notenpaket unübersichtlichen Inhalts versandt worden ist, könnte man mit Erich Schenk anmerken, dass es "in einer nicht sehr respektvollen Form" (Schenk S. 181) geschah. Zumindest dem Anschein nach. Wir wissen nämlich nicht, unter welchen äußeren Zwängen dieses Erscheinungsbild zustandegekommen ist, ebensowenig, wie Bach mit den verschiedenen Kupferstechern und Druckern zurechtkam; offensichtlich lag ihm vor allem daran, sein Versprechen sehr schnell einzulösen, so dass er vielleicht andere Bedenken zurückstellte: neben dem normalen Dienst in 50 Tagen ein solches Kompendium des Denkens und Spielens zu ersinnen und druckfertig zu machen, ist eine unglaubliche Leistung.

Allein die Kürze der Kanons, ihre Verwandlung in Rätsel, ist ja das Ergebnis einer enormen gedanklichen Komprimierungsarbeit, und Bach lag daran, dass der König einen persönlichen Zugang dazu fand, er bot ihm für besonders schwierige Fälle scherzhafte Lösungsanreize, handschriftlich eingefügt: "Quaerendo invenietis" (Wer suchet, der findet) oder im Fall des Augmentations- bzw. Modulationskanons: "Notulis crescentibus Fortuna regis" ("Mit wachsenden Notenwerten wachse das Glück des Königs") und "Ascendenteque Modulatione ascendat Gloria Regis" ("Und mit der aufsteigenden Modulation steige der Ruhm des Königs").
Wenn Bach sein Werk an diesen Punkten bildkräftig, um nicht zu sagen: "magisch" in Verbindung setzt mit dem Status des Königs, dessen Thema ohnehin zentrale Funktion hat, kann das wohl nicht nur als augenzwinkerndes Kompliment gedeutet werden, sondern als Zeichen, dass er sich sicher ist, ein Äußerstes erreicht zu haben.
Wieder einmal.

Und in diesem Fall ist noch eines sicher: die Arbeit am Musikalischen Opfer war - anders als die an der Kunst der Fuge - zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen. Wäre also die pure Reihenfolge der Einzelteile ein entscheidender Faktor für das Verständnis des Ganzen, darf man annehmen, Bach hätte für Eindeutigkeit gesorgt.

Vieles spricht jedenfalls für Christoph Wolffs Folgerung:

"Das Musicalische Opfer ist kein zyklisches Werk mit einer verbindlichen Satzfolge, sondern eine Sammlung verschiedener Solo- und Ensemblestücke, wobei jeder einzelne Satz auf dem Königlichen Thema basiert. Ziel des Komponisten war es, dieses Thema auf die vielfältigste Weise auszuarbeiten, vom freien Satz bis hin zur strengsten Kontrapunktik, und vom Kontrapunkt im alten Stil (wie im sechsstimmigen Ricercar) bis zu den modernsten Stil-Manierismen."
Aber vielleicht hatte er doch noch Gigantischeres im Sinn? Die schiere Größe dieser "Stücke" verleitet die Deuter weiterzugehen. Hat der Schöpfer der Passionen nicht doch noch einen Geheimplan in der Schublade gehabt? Die Bibel? Ein Lehrbuch der Rhetorik? Einen Taschenrechner? Man könnte z. B. auch an die Beziehung der Beethovenschen Eroica zu Napoleon denken, - als einem Versuch, dem, der die reale Welt bewegte, eine musikalische Großtat gleichen Ranges an die Seite zu stellen! Peter Schleuning hat es faszinierend dargestellt. ("Geschrieben auf Bonaparte" S. 38)

Unter diesem Aspekt lesen sich die beiden folgenden Zitate bedeutungsträchtiger als sie an Ort und Stelle vielleicht gemeint sind:

"In mancher Hinsicht offenbart dieses Werk ein musikalisches Selbstporträt, das den Komponisten mit allen Facetten seines Könnens vorstellt: als Claviergenie und Fugenmeister, Kapellmeister und Kammermusiker, Kontrapunktiker und Musikgelehrten." (Wolff S. 470)
"Ich fassete demnach den Entschluß, und machte mich sogleich anheischig, dieses recht Königliche Thema vollkommener auszuarbeiten, und sodann der Welt bekannt zu machen. Dieser Vorsatz ist nunmehro nach Vermögen bewerkstelligt worden, und er hat keine andere als nur diese untadelhafte Absicht, den Ruhm eines Monarchen, ob gleich nur in einem kleinen Puncte, zu verherrlichen, dessen Größe und Stärke, gleich wie in allen Kriegs- und Friedens-Wissenschaften, also auch in der Musik, jedermann bewundern und verehren muß." (Bach in seiner Widmung des Musikalischen Opfers an Friedrich II.)

Übersetzen wir die höfisch-diplomatische, von unten nach oben gerichtete Sprache auf unsere Ebene: da ist der Vorsatz, dem Ruhm des Monarchen etwas musikalisch Adäquates an die Seite zu stellen. Christoph Wolff macht zudem darauf aufmerksam, dass Bach nicht versäumt, "zwischen Musik und Frieden eine subtile Verbindung herzustellen." (Chr. Wolff S. 469)

Und aus der Ferne tönt: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt."


Zweifellos wurzelt die Tendenz, im Musicalischen Opfer nach zwingenden und größtmöglichen Zusammenhängen zu fahnden, im musikalischen Denken des 19. Jahrhundert: es führt von Beethoven und Schubert zu Brahms und Bruckner, deren Zeitgenosse der große Bach-Forscher Philipp Spitta war. Auch er sah im Musicalischen Opfer "ein sonderbares Conglomerat von Stücken, denen sowohl der äußere typographische, als der innere musikalische Zusammenhang fehlt" (Spitta II, S. 845).

Der mit Händen zu greifende innere Zusammenhang, den die Allgegenwart des Königlichen Themas und die beständige Metamorphose seiner Umgebung stiftet, konnte das Unbehagen nicht lindern. Die Vorstellung, dass ein Werk nicht nur als lineares, zwischen Anfang und Ende ausgespanntes 'Opus perfectum et absolutum' begreifbar sein will, sondern auch als "Stückwerk" zu Nutzen und Anregung aller Lernbegierigen dienen möchte, war unbekannt. Hat Bach nicht einige seiner großartigsten Werke unter dem Titel "Clavierübung" zusammengefasst?

Als Anton Webern 1934 daran ging, das sechsstimmige Ricercare zu instrumentieren, folgte er einer modernen und durchaus wieder pädagogisch gefassten Idee:
"Meine Instrumentation versucht [...] den motivischen Zusammenhang bloß zu legen. [...] Gilt es nicht zu erwecken, was hier noch in der Vergangenheit dieser abstrakten Darstellung durch Bach selbst schläft und für fast alle Menschen dadurch einfach noch gar nicht da oder zumindest unfaßbar ist? Unfaßbar als Musik!"

So fragwürdig die Vermutung "einer abstrakten Darstellung durch Bach selbst" ist (Bach pflegte konkret am Clavier oder an der Orgel darzustellen), so fragwürdig auch, ob die Tendenz zur analytischen Fragmentierung und Partikularisierung eine adäquate Hörweise begünstigt oder nicht vielmehr dahin führt, dass die Aufmerksamkeit von den 6 Linien abgezogen und vordergründig mit einer Vielzahl kleiner Motive beschäftigt wird. Es ist zumindest bezweifelbar, ob diese Auflösung des Liniengeflechts, wie Adorno meint, "durch die konstruktive Gesamtdisposition des Orchesters wieder vereint" wird. Zugleich fällt aber eine andere Entscheidung: das 6stimmige Ricercar - und nicht die Triosonate mit der "Zugabe" des Canon perpetuus für die Triosonaten-Besetzung - müsste dank seines inneren u n d äußeren Gewichts an den Schluss einer Aufführung treten. So hält es Igor Markevitch in seiner Orchesterfassung des Werkes

Im Grunde hat Christoph Wolff der Auffassung Spittas vom "sonderbaren Conglomerat" auf eine nachromantische Weise den kritischen Stachel gezogen, indem er schlicht konstatierte: es ist "kein zyklisches Werk mit einer verbindlichen Satzfolge, sondern eine Sammlung verschiedener Solo- und Ensemblestücke, wobei jeder einzelne Satz auf dem Königlichen Thema basiert."
Wäre es nicht schon schwierig genug, in manchen Suiten Bachs die gegebene Reihenfolge der Sätze als notwendig nachzuweisen? Ein guter Musiker würde die Französische Suite E-dur mit drei vertauschten Mittelsätzen durchaus "zwingend" interpretieren können.

Der notorische Skeptiker kann sich auch den Spaß erlauben, die Kanons bestimmter Aufnahmen des Musicalischen Opfers (z.B. Hänssler Verlag), die gemäß Zeugnis der Künstler strikt dem Prinzip der Quintilianischen Rhetorik (s.u.) folgen, nach dem Zufallsprinzip zu mischen, - es klingt überzeugend, weil jeder Kanon für sich überzeugend interpretiert ist.

Wieder eine andere Sache ist es aber, wenn der Interpret es wagt, diese kunstvoll geformten einzelnen Kanons als Bausteine zu betrachten und daraus ein selbstentworfenes Gebäude zu errichten, d.h. auch eine Tempo- und Dynamik-Relation zu entwerfen und einen engen Zusammenhang zwischen den Einzelteilen herzustellen, als gelte es, Beethovens c-moll-Variationen für Klavier nachzueifern. Es kann sich ein übergreifender Sinn ergeben, den es wahrzunehmen lohnt. Nicht auf dem Papier, sondern mit Ohren und Geist. Stellen Sie sich vor, dass ein solcher Interpret nicht einmal davor zurückschreckt, das Ganze mit einem Orchestergewand zu versehen, das in der großen sinfonischen Tradition des 19. Jahrhunderts steht. Sage niemand, daß die Kunst des Kanons dann ohnehin nicht mehr wahrnehmbar sei. Für manche Konzertabonnenten vielleicht zum ersten Mal. Und Adorno könnte auch beruhigt sein. (Die Rede ist von Igor Markevitchs Bearbeitung des Musikalischen Opfers.)


Drei Jahre bevor die Breitwand-Version von Igor Markevitch der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (Aufnahme 18.-29. Juni 1956 im Salle de la Mutualité zu Paris), hatte der Wiener Musikwissenschaftler Erich Schenk ausführlich dargestellt,

"daß Bachs 'Musikalisches Opfer' nach einem bestimmten Gattungstyp orientiert sei, nämlich dem des musikalischen 'Kunstbuches'. Unter einem musikalischen 'Kunstbuch' versteht man eine Lehrschrift, in der der Verfasser die Quintessenz seines kompositorischen Könnens niederlegt, und zwar nicht mit Worten und eingestreuten Notenbeispielen, wie dies heute bei Kompositionslehrbüchern der Fall ist, sondern an Hand von Tonstücken verschiedenen Umfangs, die bei zunehmender Schwierigkeit aus dem Bereich des schulmäßig Erlernbaren zu Werken fortschreiten, die der praktischen Kunstübung dienen, also die beim 'Musikalischen Opfer' beobachtete Progression verfolgt."
Schenk beschreibt zwei Werke: zunächst ein 'Musicalisches Kunstbuch' von Johann Theile (1646-1724), mit Sonaten und z.B. "2 polymorphen Kanons in motu contrario per augmentationem". Dann die umfangreichen 'Artificii Musicali' von Giovanni Battista Vitali (ca. 1644 - 1692) mit 45 Kanons, Sonaten, Balletten. Er verfolgt zweifellos - im Gegensatz zu Bach - eher didaktische als artistische Ziele, huldigte mit seinem Werk allerdings auch einem Fürsten, den er in der Widmungsvorrede auf Kanons aufmerksam macht,
"deren Form keine Endnote besitze, also unendlich sei und in dieser Unendlichkeit den unendlichen Tugenden des Fürsten entspräche". (Schenk S. 188)
In ähnlichem Sinne erscheint wohl in Bachs Werk nach der Widmung und dem ersten Ricercar ein Canon perpetuus super Thema Regium , und hätte sich der König je an die Trio-Sonate gemacht (wir wissen es nicht), hätte er in gleicher Besetzung den anhängenden zweiten Canon perpetuus spielen können. Sinnige Zusätze bei schwierigen Kanons - im Sinne des Bachschen "Quaerendo invenietis" gibt es sowohl bei Vitali ("Incipies, sequeris, non errabis") als auch bei Theile ("Hier fehlt der ganze Alt / such ihn, er findt sich bald").

Aber gerade solche Zusätze deuten ja nicht in die Richtung einer Aufführung, sondern auf "brütende" Tätigkeit, die zwar eine aufführbare Notation ergeben kann, deren Reiz aber zunächst - und vielleicht ausschließlich - in der Auflösung des Rätsels liegt.

Die Verfechter einer von Bach gewollten, strengen Reihenfolge der Kanons sehen dies offenbar anders: sie gehen von einer bereits aufgelöst gedachten, musizierbaren, in zeitlichen Relationen operierenden Partitur aus. Und erst jetzt beginnen sie richtig zu "brüten".
Da macht sich sogar jemand daran, die nach neuesten Rezepten erweiterten, gespiegelten und bis zum letzten Stimmtausch ausgereizten Kanons nach Takten und Tönen durchzuzählen und aus diesen Zahlen Bachs eigentliche Botschaft herauszulesen: z. B. - warum nicht? - "Christus" (und irgendwie auch die Jahreszahl "1747"). Aber warum soll Bach immer wieder seinen Namen komponiert haben? Vielleicht weil der in einem chromatischen Gebilde zwangsläufig immer wieder nachweisbar ist?

Plausibler erscheint zunächst die Arbeit Ursula Kirkendales. Sie hat Quintilians "Institutio oratoria" gründlich studiert hat, vielleicht noch gründlicher als J.S. Bach, und bezieht mit außerordentlicher Akribie jedes Detail des Musikalischen Opfers auf einen entsprechenden Passus bei Quintilian, so als habe Bach gewissermaßen nach einem vorgegebenen rhetorischen Drehbuch gearbeitet, das er mit musikalischen Inhalten füllte. (Peter Williams erlaubt sich die Frage, ob nicht die "alte Vorliebe, bildhaft/programmatische Ideen in Musik zu finden, durch die Jagd nach Parallelen in Dichtung, Rhetorik, der Lehre von Affekten etc. ersetzt worden ist." Eulenburg S. XVII)

Ursula Kirkendale vermutet aber darüberhinaus, all dies sei auch dem Preußenkönig so vertraut gewesen, dass sich Bach jeden Fingerzeig zum Aufbau des Musikalischen Opfers verkneifen musste, damit sein raffiniertes Kompliment an den König nicht zerstört würde...

Die Zweifel nehmen überhand: Selbst wenn man annimmt, dass die Rhetorik nicht mehr - wie in der Antike - auf den Vortrag einer öffentlichen Rede zielt, sondern auf deren schriftliche Ausarbeitung, so dass nunmehr auch die Regeln der schriftlichen Poetik und Literatur in ihren Geltungsbereich fallen, müsste man für eine geschriebene "Rede", die nicht vortragbar ist, weil einzelne Abschnitte in einer verschlüsselten Sprache gehalten sind, wohl doch einen anderen Oberbegriff finden und ein anderes Lehrbuch, ein Rätsel-Lehrbuch, voraussetzen.

Aber wie, - wenn ein solches hier vorläge? Dem König zu Ehren, dem Nächsten draus sich zu belehren?

Ein "Kunstbuch" also, ein Spiel- und Forschungsbuch?
Das Wort Ricercar, ital. "suchen", "forschen", birgt - ähnlich wie das Königliche Thema - nach Bachs eigener Extrapolierung alles, was in diesem Buch zu finden ist: "Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte resoluta" - "Der auf Geheiß des Königs verfasste Gesang [die Fuge] und das Übrige [die Kanonsätze] nach Kanonkunst aufgelöst" (nach Wolff, S. 468 f).

Wobei zu bemerken ist, dass das alte Wort Ricercar sowohl ein sehr freies Werk (wie das Ricercar à 3) als auch eine streng durchgeführte Fuge im alten Stil (das Ricercar à 6) bezeichnen kann und dass die beiden Ricercare in Bachs Verkaufsanzeige dann wieder ganz schlicht als zwei Fugen bezeichnet werden.

Und außerdem zu bemerken ist, dass die verschlüsselt notierten Kanons der Vorlage noch der auflösenden Arbeit des Betrachters harrten und die Sonata nicht mitbedacht war, es sei denn, die Übersetzung lautet: "Das auf des Königs Geheiß mit canonischer Kunst ausgearbeitete Thema und einiges mehr" (Michael Märker im Booklet der Hänssler Aufnahme 1999).

Man hat Zweifel geäußert, dass das Königliche Thema tatsächlich von Friedrich II. stammt: die Bachsche Kunst lässt es so bedeutend erscheinen, dass man überhört, dass es eigentlich zu lang ist und sich tatsächlich für eine 6-stimmige Fuge im stile antico nicht von Natur aus eignet: Bachs eigene (oder freiwillig von Zeitgenossen übernommenen) Themen im stile antico sind kurz, wie das der Cis-moll- bzw. der E-dur-Fuge im Wohltemperierten Clavier (I. bzw. II. Band).

Auch Christoph Wolff sieht "eindeutig Bachs glättende Hand" (Wolff S.468) am Werk; aber hätte Bach das Thema in der Widmung ernstlich als "edelsten Theil" des Musicalischen Opfers erwähnen können, als "ein so treffliches Thema", als "dieses recht Königliche Thema", wenn sich der König bei der Lektüre der Widmung hätte beschämt fühlen müssen? Er hieß ja nicht Nero.

Andererseits: Das Thema besteht aus Universalformeln der damaligen europäischen Tonrede (Erich Schenk S.190) und Bach zeigt in diesem Werk ja gerade sein unglaubliches Vermögen, "aus solchen Universalthemen immer wieder neue Gestalten zu entwickeln" (Erich Schenk a.a.O.), - eine schöner als die andere: selbst der König hätte am Ende kaum noch entscheiden können, welche Version er für sich selbst reklamieren soll.

Es gibt zahlenbesessene Interpreten des Bachschen Werkes, die behaupten, er habe über einen computerähnlichen Zählsinn verfügt (um die von seinen Interpreten gewünschten Zahlen in seinen Noten verstecken zu können); aber es gibt auch Menschen, die ihn gut gekannt haben und ihn anders rühmen:
"Bey Anhörung einer starck besetzten u. vielstimmigen Fuge, wuste er bald, nach den ersten Eintritten der Thematum, vorherzusagen, was für contrapuncktische Künste möglich anzubringen wären u. was der Componist auch von Rechtswegen anbringen müste, u. bey solcher Gelegenheit, wenn ich bey ihm stand, u. er seine Vermuthungen gegen mich geäußert hatte, freute er sich u. stieß mich an, als seine Erwartungen eintrafen",
sagt Philipp Emanuel Bach (Bach-Dokumente S. 196).

Und ein anderer Zeuge sagt, er habe den alten Bach die Arbeiten von durchaus großen Contrapunktisten "für trocken und hölzern" oder für "pedantisch erklären hören" (F.W.Marpurg / Bach-Dokumente S. 140).
Und Philipp Emanuel fügt an anderer Stelle hinzu:

"Der seelige war, wie ich u. alle eigentlichen Musici, kein Liebhaber, von trocknem mathematischen Zeuge."
Was wollen wir Ohrenmenschen mehr?

© Dr.Jan Reichow 2005

Literatur:

  • Theodor W. Adorno: Bach gegen seine Liebhaber verteidigt / Frankfurt 1963
  • Johann Sebastian Bach / Leben und Werk in Dokumenten / Kassel etc. 1975
  • Johann Sebastian Bach / Widmung des Musikalischen Opfers, Urtext der neuen Bach-Ausgabe / Kassel etc. 1974
  • Reinhard Böß: Ein Gang durch das Spiegelkabinett Bachscher Rätselkanons / Ansbach 1999
  • Malcolm Boyd: Johann Sebastian Bach - Leben und Werk - Stuttgart 1984
  • Ursula Kirkendale: The Source for Bach's "Musical Offering": the "Institutio Oratoria" of Quintilian. / in: Journal of the American Musicological Society 33 (1980)
  • Ursula Kirkendale: Bach und Quintilian / Die "institutio oratoria" als Modell des "Musikalischen Opfers" / in: NZZ 25./26. Okt. 1980
  • Thomas Kohlhase: J.S. Bach: Das Musikalische Opfer / Polydor International 1979
  • Michael Märker: Johann Sebastian Bach: Musikalisches Opfer BWV 1079 / Hänssler Classic 1999
  • Erich Schenk: Das 'Musikalische Opfer' von J.S. Bach / in: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Jahrgang 1953, Nr. 3, S. 51-66/ zit. nach: Johann Sebastian Bach /herausgegeben von Walter Blankenburg / Darmstadt 1970
  • Peter Schleuning/Martin Geck: "Geschrieben auf Bonaparte" Beethovens "Eroica": Revolution, Reaktion, Rezeption / Hamburg 1989
  • Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach / Leipzig 1873/80, 5. Aufl. 1962
  • Peter Williams: Vorwort zur Eulenburg Partitur 'Musicalisches Opfer' / Mainz 1986
  • Peter Williams: The Snares and Delusions of Musical Rhetoric: Some Examples from Recent Writings on J.S. Bach / in: Alte Musik / Praxis und Reflexion / Winterthur 1983
  • Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach / Frankfurt 2000
  • Christoph Wolff: Musikalisches Opfer, Vorwort zum Urtext der neuen Bach-Ausgabe / Kassel etc. 1974



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