Sie befinden sich hier:
Jan Reichow > Startseite > Texte > übrige > Musikausbildung heute (1996)

Betr.: Beitrag für Kommission F&E Profil Musikhochschule Luzern 1996

Sehr geehrter Herr Eiholzer,

in dem beiliegenden Beitrag habe ich einige Punkte zusammengestellt, die ich im gegenwärtigen Angebot der Musikhochschulen vermisse bzw. die noch zu entwickeln wären.
Ich habe mich dabei an den immanenten Anspruch auf Ausbildung der menschlichen Musikalität und Kreativität gehalten, und nicht berücksichtigt, welche fachspezifischen Konsequenzen sich notwendigerweise aus der modernen gesellschaftlichen Entwicklung ergeben; auch hier läge ein Gebiet der Forschung, das unmittelbar mit der Situation heutiger Musikpraxis zu tun hat:

  1. Umgang mit den Massenmedien
  2. Stellung des opus perfectum et absolutum in einer Dienstleistungsgesellschaft (das traditionelle Werk stellt Forderungen an die Konzentrationsfähigkeit und die Bildung des Publikums, das neue Publikum aber stellt selbst Forderungen, die sich aus der Unterhaltungsästhetik der Massenmedien ergeben)
  3. Public-Relations-Arbeit als Bestandteil des heutigen Musiklebens und des Musiker-Images (vgl. den Einsatz greller Werbemethoden, die drei Tenöre, "Kuschel-Klassik" in der "Erlebnisgesellschaft", die schicke Inszenierung der Enfant-terrible-Rolle bei Gulda, Pogorelich, N.Kennedy u.a. )
    In Hamburg gibt es z.B. die Möglichkeit einer Ausbildung zum Kulturmanager. Die Frage ist, ob er widerstandslos dem Betrieb angepasst werden soll oder ob er mit dem Rüstzeug ausgestattet werden soll, den Betrieb zu durchschauen.
    Er hat ja mit typischen Phänomenen der modernen westlichen Gesellschaft zu tun, die sorgfältig studiert werden müßten, aber letztlich auf eine Verarmung der Musik hinauslaufen. Auch das geläufige Wort von der Globalisierung zielt ja im Sinne der Wirtschaft auf eine weltweite Vereinheitlichung des Marktes, nicht auf die mögliche Erweiterung unseres Weltbildes, auf die Verbindung zu den Werten anderer Kulturen, auf die Differenzierung und Diversifizierung unserer Wahrnehmungen.
Ich denke aber, dies sind Themen einer anderen Arbeit, die eher von der Musiksoziologie zu leisten wären als von der Musikhochschule.

Mit freundlichen Grüßen
(Jan Reichow)


Beitrag für die Kommission F&E Profil Musikhochschule Luzern von Jan Reichow (Oktober 1996
)

Folgende Themen gehören aus meiner Sicht zu den wünschenswerten Lehrprojekten der Hochschule und könnten zu hochschulspezifischen Forschungsgegenständen entwickelt werden:

I. die nicht schriftgebundenen Formen des Musizierens in der Alten Musik und in der außereuropäischen Musik (incl. europäische Regionalkulturen wie Andalusien, Balkanländer u.a.). Was ist bereits geschehen?

II. die Improvisation in der Alten Musik, im Jazz, in der arabischen, iranischen, indischen Musik; Entwicklung melodischer Modelle im modalen System.

III. Aneignung von asymmetrischen Rhythmen (Aksak) und von poly-rhythmischen Modellen anhand bulgarischer und westafrikanischer Vorbilder, von Interlocking-Techniken anhand südostafrikanischer und indonesischer Vorbilder

IV. Studium des Gebrauchs der menschlichen Stimme (Giovanna Marini: uso della voce); alle Techniken, historisch und geographisch gegebenen Möglichkeiten.

V. die physiologischen und psychologischen Grundlagen der Musikpraxis

VI. Zusammenhang zwischen der Musikpraxis und ihrem handwerklichen Material:

  1. Instrumente
  2. Intonationssysteme bzw. Stimmungen

VII. Interpretationskunde, kritischer Vergleich von Aufnahmen, Forschung zur neueren Geschichte des Geschmacks; instrumentenspezifische Ästhetik.




I.


  1. Um die Frage zu klären, was die Musikhochschule an Forschung leisten könnte, wäre die These zu überdenken, ob sie sich nicht längst auf diesem Feld betätigt oder betätigt hat, ohne es recht zu wissen.
    Die entscheidenden Impulse zur Erforschung der Alten Musik sind in den vergangenen 30 Jahren ja weniger von Musikwissenschaftlern als von Musikern, von der Praxis, ausgegangen; um nur einige Namen zu nennen, die diesen Trend belegen: August Wenzinger, Gustav Leonhardt, Alfred Deller, Thomas Binkley, Nikolaus Harnoncourt, Reinhard Goebel, William Christie.

  2. Die Forderungen der historischen Aufführungspraxis waren schon sehr bald weniger an der Idee einer steril-korrekten Wiedergabe orientiert als an einer Verlebendigung, - verstanden als eine Wiederherstellung der ursprünglichen musikalischen Lebensbedingungen und deren Vermittlung mit den Lebensbedingungen der Moderne. Zudem setzte sich die Ansicht durch, daß etwa die Improvisationspraxis und die Ornamentik in der Alten Musik nicht akzidentiell war, sondern vom Komponisten vorausgesetzt wurde, daß also die Aufführungspraxis gewissermaßen zur lebendigen Substanz der Musik gehört hat.
    Diese ehemals lebendige Substanz ist Gegenstand der täglichen Forschung eines Instrumentalisten und Sängers; sie ist aber nicht dem historischen Notentext zu entnehmen, sondern muß aus vielen anderen Zeugnissen erschlossen werden und muß in langen Versuchsreihen, an denen Finger oder Kehlen, ja die gesamte Physis des Adepten beteiligt sind, auf ihre Lebensfähigkeit und Wirkung geprüft werden. Wenn heute eine überzeugende Aufführung der Mysterien-Sonaten von Biber, der Oper Hippolyte von Rameau oder der Marienvesper von Monteverdi gelingt, so ist das ein Ergebnis forschender Praxis oder praktischer Forschung; es ist von gleicher Wichtigkeit wie die Erstellung eines Urtextes oder die Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Untersuchung zu Datierungsfragen.

  3. Schon die Cembalistin Wanda Landowska berichtet über den lebendigen Zusammenhang zwischen Alter Musik und gegenwärtiger Musik anläßlich einer Konzertreise in Portugal, die sie nach Coimbra führte: Sie spielte u.a. Purcell's Ground in C minor:
    "The reaction of the audience to this piece was strangely intense and in turn had a curious effect upon me. In response to the demands of the audience, I played the Ground once more, and I seemed to hear somewhere in the background the monotonous rhythm of muffled feet following the insistent beat of Purcell's dance. Leaving the stage and entering the wings, I witnessed a striking scene. Four men in working clothes and espadrilles, humming to themselves, were going through the motions of a dance. I had the impression that my Ground was still going on. The moment the men saw me, they stopped, obviously embarrassed. One of them came forward and spoke: 'We were told to be here at eleven o'clock, but the concert was not over; so we danced a little. That tune you played was very nice. We know it very well. Can we go ahead now?"
    (Landowska on Music S.302)

  4. Ensembles mittelalterlicher Musik wie das Clemencic Consort oder Sequentia waren es, die die Notwendigkeit erkannten, über das Studium des überlieferten Notentextes und der ergänzenden Quellen hinauszugehen: die tatsächliche mittelalterliche Musikpraxis war mit diesen Mitteln nicht glaubwürdig rekonstruierbar. Schon das Instrumentarium verwies sie auf vergleichbare Relikte in noch lebenden Kulturen des Mittelmeerraums und des Orients. Daher wendete man sich der Musikpraxis dieser Kulturen zu, um ihre modalen Grundlagen auf Vergleichbarkeit zu prüfen und Rückschlüsse auf die vorschriftliche Musikgeschichte in Europa ziehen zu können. Man studierte die Techniken orientalischer Lautenisten und Zurnavirtuosen, ihre Improvisationen, das Stimmideal arabischer Sänger, die Rhythmen der Req- und Darabukkahspieler usw. , schließlich wurden orientalische Musiker auch unmittelbar in die Realisierung mittelalterlicher Projekte mit einbezogen.

  5. Merkwürdigerweise sind einige der bedeutendsten Forscher im Fach Musikethnologie nicht aus der Musikwissenschaft hervorgegangen, sondern aus der Musikpraxis: die Afrikanisten Artur Simon (Berlin) und Paul Berliner (USA), beide von Haus aus Trompeter, kamen vom Jazz her, ebenso Roberto Leydi (Mailand), der Klarinette in einer Dixieland-Band gespielt hatte, der Pygmäenforscher Simha Arom (Paris) war Hornist im Sinfonieorchester von Jerusalem, als er nach Bangui gerufen wurde, weil man dort mit seiner Hilfe ein Blasorchester gründen wollte, Peter Cooke (Edinburgh) hatte Alte Musik gespielt und unterrichtet, bevor ihn ein Zufall nach Afrika brachte und zum Musikethnologen werden ließ.

  6. Paul Berliner ist ein besonders interessanter Fall: er lernte als Junge Trompete, klassisches Repertoire, trat mit Bläserensembles und Orchestern auf. Dann kam der Jazz, der ihn aus der hermetisch geschlossenen Welt der Klassik herausholte und auf die Begegnung mit afrikanischer Musik vorbereitete. Ihn faszinierte am Jazz die mündliche Überlieferung musikalischen Wissens und die Kunst des Improvisierens.
    Während des Studiums stieß er im Zusammenhang mit dem Jazz auf das afrikanische Instrument Mbira, das Nationalinstrument des Shonavolkes in Zimbabwe; er bezog es in seine Arbeit ein, ohne genau zu wissen, wie es gespielt werden mußte. Die erste Begegnung mit einem wirklichen Mbiraspieler aus Zimbabwe aber gab seinem Leben die entscheidende Wendung: er ging für Jahre nach Zimbabwe, um die Struktur und die machtvolle Wirkung der Mbiramusik zu ergründen; er wurde selbst zum Mbiraspieler und schrieb das wissenschaftliche Standardwerk "The Soul of Mbira" (1978). Die Erfahrungen mit dieser Arbeit ermutigten ihn, sich auf einer neuen Ebene dem Jazz zuzuwenden; das 880 Seiten starke Ergebnis 15jähriger Arbeit ist 1994 veröffentlicht worden: "Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation".
    Jede künftige Arbeit über Improvisation, ob sie nun den Jazz betrifft oder einen anderen musikalischen Stil, wird an diesem Werk zu messen sein, das nicht nur Musik analysiert oder beschreibt, sondern vor allem die Erfahrungen unzähliger Musiker mit ihrer Musik dokumentiert.
    Indem Berliner Hunderte von Interviews mit Musikern führt, auswertet, ordnet und in einem sinnvollen Zusammenhang ausbreitet, wird sinnfällig, daß nicht nur er Forschungsarbeit leistet, sondern gerade auch die Musiker, die er untersucht: sie legen ihre Erfahrungen mit dem musikalischen Material allerdings nicht in Form schriftlicher Arbeiten vor, sondern in Gestalt flüchtiger Improvisationen.




Meines Erachtens ist eine Musikforschung in dem angedeuteten Sinn noch an keiner Hochschule in Deutschland zum Thema geworden. Zwar hat es Versuche gegeben, indische, afghanische, arabische Musiker als Gastdozenten einzubeziehen, ebenso gibt (gab) es z.B. in Düsseldorf, Köln und Hannover einzelne Seminar- oder Vorlesungsangebote zur außereuropäischen Musik. Die Initiative ging jedoch von speziell motivierten oder motivierenden Professoren aus, gehörte nicht zu den "institutionalisierten" Ideen von Musikalität oder von zeitgemäßer musikalischer Ausbildung.

Dafür gibt es - soweit ich weiß - in Europa nur die beispielhaften Einrichtungen von Basel und von Rotterdam. Es ist kein Zufall, daß sowohl Basel als auch Rotterdam (und andere niederländische Hochschulen) zugleich einen hervorragenden Ruf in der Ausbildung zur Praxis Alter Musik genießen. Die größte musikalische Ausbildungszentrum Europas, die Musikhochschule in Köln, - der Stadt, die in der New York Times kürzlich als Hochburg der Alten Musik gepriesen wurde (u.a. Sequentia, Odhecaton, Cantus Cölln, Cappella Coloniensis, Collegium Aureum, Musica Antiqua Köln, Concerto Köln, Musica Fiata Köln, Camerata Köln) - hat die ernsthafte Arbeit mit Alter Aufführungspraxis weitgehend eingestellt. Die Violinprofessur von Franzjosef Maier, der als Konzertmeister des Collegium Aureum in den 70er und 80er Jahren Maßstäbe für die lebendige und virtuose Interpretation auf alten Instrumenten gesetzt hat - fast alle Gründungsmitglieder der Kölner Ensembles waren seine Schüler -, wurde nicht wieder adäquat besetzt (nur kurze Zeit war Hiro Kurasaki, der Konzertmeister der Cappella Coloniensis, im Gespräch). Als letzter Vermittler der erarbeiteten Kriterien alter Aufführungspraxis blieb Günther Höller (Blockflöte, Traversflöte).
Wer in Köln Aufführungspraxis alter Musik lernen will, muß Privat-unterricht bei Reinhard Goebel (Barockvioline), Andreas Staier (Cembalo, Hammerklavier), Hans-Peter Westermann (Barockoboe) und anderen international bekannten Künstlern nehmen.




II.
  1. Zu den strengeren Improvisationsformen der Alten Musik z.B. dem Modell der Grounds von Purcell, der Divisions von Simpson sollte das Studium nicht-taktgebundener Fantasien z.B. von Louis Couperin kommen und auch auf Melodieinstrumente übertragen werden, wie es Mattheson erwähnt:
    "Wie offt unterhält nicht ein fertiger Violinist (andrer Instrument-Spieler zu schweigen) sich und seine Zuhörer auf das allerangenehmste, wenn er nur bloß und gantz allein fantaisiret?(...) Nur Schade, daß keine Regeln von solcher Fantasie-Kunst vorhanden!"
    "Denn dieser Styl ist die allerfreieste und ungebundenste Setz-, Sing- und Spiel-Art, die man nur erdencken kan, da man bald auf diese bald auf jene Einfälle geräth, da man sich weder an Worte noch Melodie, obwol Harmonie, bindet, nur damit der Sänger oder Spieler seine Fertigkeit sehen lasse; da allerhand sonst ungewöhnliche Gänge, versteckte Zierrathen, sinnreiche Drehungen und Verbrämungen hervorgebracht werden, ohne eigentliche Beobachtung des Tacts und Tons, unangesehen dieselbe auf dem Papier Platz nehmen; ohne förmlichen Haupt-Satz und Unterwurff, ohne Thema und Subject, das ausgeführet werde; bald hurtig bald zögernd; doch nicht ohne Absicht zu gefallen, zu übereilen und in Verwunderung zu setzen. Das sind die wesentlichen Abzeichen des fantastischen Styls."
    (Der vollkommene Capellmeister 1739, S.88)

    Mattheson verweist in diesem Zusammenhang besonders auf "die Welschen Ton-Meister":
    "Die Italiener nennen diesen Styl a mente, non a penna."
    (a.a.O.S.87)
    In Telemanns berühmtem Lebensbericht für Matthesons "Ehrenpforte..." kommt erstmalig die regionale Musik positiv ins Blickfeld:
    "Als der Hof sich ein halbes Jahr nach Plesse (....) begab, lernete ich wohl daselbst als in Krakau, die polnische und hanakische Musik, in ihrer wahren barbarischen Schönheit kennen. Sie bestund, in gemeinen Wirtshäusern, aus einer um den Leib geschnallten Geige, die eine Terzie höher gestimmet war, als sonst gewöhnlich (...etc...).
    Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeifer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben, wenn sie, so offt die Tanzenden ruhen, fantaisiren. Ein Aufmerckender könnte von ihnen, in 8. Tagen, Gedancken für ein gantzes Leben erschnappen. Gnug, in dieser Musik steckt überaus viel gutes; wenn gehörig damit umgegangen wird."


  2. Es sollten typische Instrumentalsoli aus Rumänien (Violine), Griechenland (Klarinette) oder der Türkei transkribiert und einstudiert werden. Die Schrift dient in diesem Fall hauptsächlich der Schulung des Ohrs, weniger als Vor-Schrift. Forschungsziel: den Sinn (die Notwendigkeit) des Ornaments zu begreifen, die möglichen Varianten einer gegebenen Melodie zu erfassen.

  3. Der nächste Schritt: die Erschließung des arabischen Maqamprinzips, des iranischen Dastgah oder des indischen Raga, - Beispiele der melodischen Behandlung eines gegebenen Tonmaterials im freien Rhythmus.

  4. Der Jazz wird bereits an verschiedenen Hochschulen ernsthaft in den Lehrbetrieb einbezogen, allerdings als separierte Spezialdisziplin, nicht als (zeitweiliges) Pflichtfach, das ein "klassisches" Studium ergänzen und beflügeln könnte.
    Typisches Beispiel für mangelnde Wechselwirkung: Keith Jarret, dessen Interpretation des Wohltemperierten Klaviers von Bach oder Mozartscher Klavierkonzerte nicht von der Lebendigkeit der Jazz-Nähe profitiert, sondern eher trocken und langweilig ist. Der Respekt vor der Klassik kann lähmend wirken.
    Zu kritisieren wäre auch, daß im allgemeinen, wenn der Horizont über die klassische Musik Europas hinaus geweitet wird, immer nur der Jazz ins Blickfeld der Praxis gerät, nicht die anderen Kulturen, die doch nachweislich auf viele Komponisten der Gegenwart gewirkt haben (Messiaen, Isang Yun, Steve Reich, Klaus A. Huber).



III.
  1. Die Aneignung von poly-rhythmischen Modellen anhand afrikanischer Vorbilder ist kaum ohne direkte Unterweisung möglich: es gibt aber bereits brauchbares schriftliches Studienmaterial (samt Musikbeispielen auf CD), das an der Würzburger Hochschule (?) erarbeitet worden ist (Volker Schütz). Die Erfahrung des gleichmäßigen Pulses in asymmetrischer Rhythmen.

  2. Interlocking ist die Bezeichnung für die Verzahnung der Rhythmen oder Spielfiguren zweier Spieler, z.B. kann eine Zweiunddreißigstel-bewegung durch die minimal zeitversetzte Zusammenfügung zweier Sechzehntelbewegungen erzeugt werden, einzelne Bestandteile eines Rhythmus können auf mehrere Spieler verteilt werden. (Beispiel afrikanischer Musik auf afrikanisch gestimmten Cembali von Kevin Volans auf Network CD "Zimbabwe).
    Der (musikalische, psychologische, soziale) Sinn solcher Prozeduren müßte in der Praxis erforscht werden. Er liegt diametral entgegengesetzt dem Bestreben etwa Joh.Seb.Bachs, mit einem einzigen Melodieinstrument, der Geige, die Totalität einer mehrstimmigen, polyphonen Komposition darzustellen.



IV.
  1. Der Gebrauch der Stimme zur Darstellung von Musik sollte für alle Instrumentalisten verbindlich sein. Dabei geht es nicht um die gesangstechnische Schulung, nicht um die schöne Stimme, sondern nur um die brauchbare Stimme. Ähnlich wie in der indischen Musik, wo dies selbst für Sänger gilt: nicht ihr Timbre wird gerühmt, sondern ihre Raga-Kenntnis, ihr Genauigkeit in der Darstellung von Nuancen usw.

  2. Sänger und Nicht-Sänger sollten sich mit dem Gebrauch der Stimme in fremden Stilen und anderen Kulturen befassen. Die Frage, was natürlich ist, was künstlich, sollte nicht ohne Kenntnis anderer Ästhetiken beantwortet werden. (Was wir "natürlich" nennen, galt in arabischen Ländern als primitiv, die nicht-stilisierte Singstimme wurde in Japan allenfalls bei Kutschern gebilligt). Auch mit Obertongesang und den Khömej-Stilen aus Tuva und der Mongolei, mit der "geraden" Stimme der bulgarischen Volksmusik, dem diaphonen Gesang, d.h. der mikrotonalen Intonation zu einer Bordunstimme sollte experimentiert werden




V.


Es gibt keine menschliche Tätigkeit, die in so hohem Maße auf das abrufbare und reibungslose Zusammenwirken von Körper (Gehör, Muskelgefühl, Gleichgewichtssinn etc.) und Geist (Denken, Gedächtnis, Emotion etc.)angewiesen ist wie die musikalische.
Dieses Gebiet ist aber bisher eher zufällig von Musikern betreten worden.
  1. Ende der 50er Jahre begann man unter Instrumentalisten ein Büchlein herumzureichen, das gar nichts mit Violin- oder Klaviertechnik zu tun hatte und doch als äußerst hilfreich angesehen wurde: "Zen in der Kunst des Bogenschießens"; heute sind andere Bücher an diese Stelle getreten: "Tennis und Psyche" oder (als unmittelbare Übertragung dieser Gedanken auf musikalische Belange) "The Inner Game of Music"; auch die neueren Werke zum Schlagwort "mentales Üben" gehören zu diesem Thema.
    Vgl. auch die Veröffentlichungen der Musikedition Nepomuk sowie z.B.:
    • "Üben mit Lis(z)t, - Wiederentdeckte Geheimnisse aus der Werkstatt der Klaviervirtuosen" von Martin Gellrich
    • "Lampenfieber" von Kato Havas
    • "The Simplicity of Playing the Violin" von Herbert Whone
    • "Le Violon intérieur" von Dominique Hoppenot
    • "Tensions in the Performance of Music" ed. by Carola Grindea
    Das Atmen beim Spiel der japanischen Bambusflöte Shakuhachi: das Instrument wurde ursprünglich als Mittel der Atemkontrolle bei Meditationsübungen des Zenbuddhismus eingesetzt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus eine sehr komplexe Shakuhachi-Musik, die dennoch mehr als "geistige Übung in Tönen" denn als Musik betrachtet wird.
    Hier liegt ein wichtiges Forschungsgebiet, das unbedingt an der Musikhochschule behandelt werden müßte und nur dort mit befriedigendem Praxisbezug behandelt werden könnte.

  2. Die physiologischen Grundlagen der Musikpraxis (Sensomotorik) könnten in Zusammenarbeit mit Medizinern erforscht werden (vgl. Renate Klöppel: "Die Kunst des Musizierens - Von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis").
    Andererseits sollten physiologisch-psychologische Erkenntnisse, die z.B. in Gestalt der "Alexander-Technik", der Bewegungslehre von Feldenkrais, der "Stretching"-Gymnastik oder den merkwürdigen Untersuchungen von Hugo Kükelhaus ("Organismus und Technik", "Die Phantasie des Leibes") vorliegen, nicht nur in Seminaren angeboten werden, sondern auch kritischer (vergleichender) Forschung unterzogen werden.
    • Beispiel a): Wenn ein technisches Problem am Klavier, laut Heinrich Neuhaus, darin besteht, sehr lange sehr laut sehr schnell zu spielen, läßt sich dieses wahrscheinlich nicht in Übereinstimmung mit Alexander-Technik lösen, sondern nur in Verbindung mit gezieltem Muskeltraining.
    • Beispiel b) Wie ist das Verhältnis musikalischer Spannungen zu körperlichen Spannungen? Darf es eine Korrespondenz geben?
      Muß der Musiker den naiven Reflex des Körpers auf psychische Spannungsverläufe wegtrainieren?





VI.
  1. Musiker sollen an der Musikhochschule auch mit der materiellen Seite ihres Instrumentes vertraut gemacht werden, was gar nicht so selbstverständlich ist: ein Pianist, der nicht weiß, daß das f''' in einer Mozartsonate den höchsten Ton des Mozartschen Hammerklaviers darstellte, kennt die historischen "Rahmenbedingungen" seines Instrumentes gar nicht.
    Die begründete Wahl bestimmter Saiten bei Streichern, die Erprobung von Darmsaiten (die ja bis weit in unser Jahrhundert selbstverständlich waren), Erfahrung mit der historischen Vielfalt von Clavieren, Werkstattgeheimnisse der Blattherstellung oder des Rohrebauens bei Bläsern sollten sich nicht allein durch wohlwollende Tips, durch Instinkt und Neigung ergeben, sondern auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt werden. Spieler der Barockoboe sollten die Begegnung mit indischen Shannai- oder Nagasvaramspielern suchen, die ihrem klappenlosen Oboeninstrument jede erdenkliche Skala absolut intonationsgenau spielen können. Percussionisten sollten die Herstellung afrikanischer Instrumente studieren , mit den Konstruktionsvarianten und der materialgerechten klanglichen Eigenart der verschiedenen Trommeln und Xylophone befassen: (die westlichen Instrumente sind weitgehend genormt, z.T.mechanisch, fabrikmäßig erzeugte Geräte).

  2. Kein Pianist sollte die gleichschwebend-temperierte Stimmung gewissermaßen als naturgegeben behandeln; er sollte mit den verschiedenen Stimmungen eines Cembalos oder Hammerklaviers praktische Erfahrung sammeln. Streicher sollten mit den verschiedenen Intonationsarten (lineare und harmonische Intonation) theoretisch und praktisch vertraut sein (vgl. Christine Hemann: Intonation auf Streichinstrumenten).

  3. Man sollte Kenntnis von der Eigenart außereuropäischer Stimmungen haben, von der "neutralen" Terz der arabischen Kulturen, vom Dreiviertel-Ton-Schritt, von den annähernd äquidistanten Skalen des indonesischen Gamelan, von der minutiös kontrollierbaren indischen Intonation über dem "ewigen" Bordun bzw. Grundtonklang.




VII.

  1. Interpretationskunde anhand von Aufnahmen sollte zu einem Fach gemacht werden, das die Geschichte des Geschmacks und der Aufführungspraxis bewußt macht. Historische Aufnahmen bedürfen der verbalen Interpretation (Gebrauch des Glissandos, des Vibratos, die Praxis des Nachschlagens der Hände bei Pianisten).
    Einerseits kann sich der Sinn eines Werkes oft erst in seiner Interpretationsgeschichte voll entfalten, andererseits können die perfekten Mittel eines Interpreten bisweilen verschleiern, daß er den Sinn eines Werkes vollkommen verfehlt (Glenn Gould).
    Die rhetorisch gelungene Interpretation ist dem Verständnis eines Werkes so dienlich wie eine schriftliche Analyse; Joachim Kaiser hat in seinem Buch über die Klaviersonaten Beethovens die fruchtbare Verbindung zwischen beiden Ansätzen demonstriert.

  2. Instrumentenspezifische Interpretationskunde in der Praxis: ein Klarinettist geht an die Interpretation einer Melodie anders heran als ein Geiger, nämlich vorwiegend auf Konsistenz der Linie konzentriert, auf ihre Richtung, ihre Dynamik und ihr Ziel. Der Geiger verliert sich leicht in wohlklingende, gut vibrierte Einzeltöne oder bogentechnische Aspekte, der Pianist in Klangfarben und Schichtung der Vieltönigkeit. Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Instrumentalisten kann besonders produktiv werden, wenn sie um die unterschiedlichen Ästhetiken ihrer Instrumente wissen.





Gedruckt in:
Forschung und Entwicklung (F&E) an den künftigen Musikhochschulen der Schweiz S. 104 - 113
Februar 1977 FER 177/1997
Schweizerischer Wissenschaftsrat / Thüring Bräm (Präsident der Kommission)



© Dr. Jan Reichow 2005Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < übrige <
Musikausbildung heute (1996)