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Jan Reichow: Auf der Suche nach der schönen Welt...

Schubert vor Verharmlosung zu schützen, einst eine Pioniertat, gehört heute zu den Pflichtübungen der Konzertpause.
Alban Berg hat schon 1928 zum 100. Todestag Schuberts den Ton angegeben:

"Wie grundverschieden von der landläufigen meine Stellungnahme zur Musik Schuberts ist, ersehe ich allein daraus, daß es mir jedesmal einen Riß gibt, wenn sein Name in einem Atem mit dem von Johann Strauß genannt wird. Eine Nebeneinanderstellung, der man vor allem in Wien, aber auch überall dort begegnet, wo man diese 'Musikstadt' für eine Filiale des Himmels hält, der bekanntlich voller Geigen hängt, für die Schubert und Johann Strauß ihre unsterblichen Melodien geschrieben haben."

Inzwischen hat aber geradezu eine Manie um sich gegriffen, noch jeden Dreiertakt Schubert als Tanz auf hauchdünner Eisdecke und jede Modulation in die Unterterz als Abgrund von Todesahnung zu deuten. Valery Afanassiev z.B. hat seiner Einspielung der G-dur-Sonate op.78 (D 894) einen so gespenstischen Begleittext mit auf den Weg gegeben, als gelte es bei dieser Gelegenheit einen veritablen Blick ins Höllenfeuer zu tun; dabei weiß er natürlich, dass die Sonate, die man von ihm hören wird, über alle Begriffe schön ist, aber so kann das offenbar nicht gesagt werden. Dürfen wir denn statt des Glücks, das Schuberts Musik immerhin auch hier und da ausstrahlen will, immer nur den Hintergrund des Leidens ins Auge fassen, dem es gleichwohl abgerungen sein mag.

Alfred Brendel wenigstens widerspricht dem Komponisten Dieter Schnebel, der in der B-dur-Sonate (D 960) das "Protokoll eines dissoziierenden Lebens" sehen will:

"Daß Schubert auch noch als Leidender imstande gewesen sein konnte, Wohlsein (wenn nicht Humor), Begeisterung, Euphorie musikalisch zu vermitteln, ein von der Phantasie heraufbeschworenes (wenn nicht in der Realität gegründetes) Glück, das seinem 'fatalen Erkennen einer miserablen Wirklichkeit' als Zauber entgegenstand - dürfen wir das nicht annehmen? Und daß ein Melancholiker durch die Aktivität des Komponierens nicht tiefer in die Depression hinein (das wäre schöpferischer Stillstand), sondern emphatisch aus dieser herausgeraten möchte, ist geradezu selbstverständlich."
(Brendel: "Musik beim Wort genommen" S. 140)

Am Ende seines bemerkenswerten Essays über Schuberts letzte Sonaten formuliert Brendel zwei schlichte Sätze, die wohl ohne falsche Dramatisierung die Wahrheit treffen:

"Daß Schubert auch noch in seiner letzten Lebenszeit manchmal imstande war, die Dinge leichtzunehmen, sollte uns freuen.
Nichts vermag allerdings mit dem Zynismus eines Schicksals zu versöhnen, das Schubert im Alter von 31 sterben ließ."
(Brendel a.a.O. S.151)

Es ist also keineswegs müßig, (im vollen Bewusstsein seiner "Unsterblichkeit") auch noch um die Zeit seines 200. Geburtstages (den er bekanntlich auch bei gnädigstem Geschick nicht hätte erleben können) das Los des allzufrüh Dahingegangenen zu beklagen. Peter Gülke weist darauf hin, dass "Schuberts früher Tod eine musikgeschichtliche Katastrophe war"; man muss sich vorstellen: "als knapp Siebzigjähriger hätte er Tristan , als Achtzigjähriger Brahms' Erste Sinfonie erleben können. Diese freilich wäre dann so nicht komponiert worden." (Gülke: "Schubert und seine Zeit", S. 48)

Was hat das zu bedeuten? Dank Schubert hätte es im Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit neben und nach Beethoven eine wirklich ernstzunehmende und zu berücksichtigende Alternative großer Instrumentalmusik gegeben. Doch was davon bereits existierte, blieb jahrzehntelang in der Schublade. Es war ja anders als im Fall des fast ebenso früh verstorbenen Mozart, dessen Schaffen in Beethoven eine gewaltige, 35 Jahre währende Fortsetzung fand: mit Schubert starb bereits 20 Monate nach Beethoven der einzig Ebenbürtige der nächsten Generation. Die ungeheure Produktivität, die er in diesen 20 Monaten entfaltete, - auch die beiden Klaviertrios entstanden in dieser Zeit-, hatte eben nicht nur mit der Vorahnung des eigenen Todes, sondern auch mit dem Ende Beethovens zu tun. Deutliches Zeichen, in welcher Rolle er sich sah, ist die Tatsache, dass er am 26. März 1828, genau ein Jahr nach Beethovens Tod, sein erstes und einziges öffentliches Konzert veranstaltete. Das Konzert ("bei gedrängt vollem Saale"; "ungeheurer Beifall, gute Einnahmen") fand in der Wiener Presse keinerlei Echo, weil sie vollständig mit der aktuellen Sensation Paganini beschäftigt war; ein Bericht der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung über das Wiener Musikleben würdigt jedoch auch Schuberts Konzert und rückt ihn bereits in die Nachfolge Beethovens. Bei dieser Gelegenheit war u.a. auch das Es-dur-Klaviertrio (op.100) zum ersten Mal erklungen. Die Chance, es schon bald im Druck veröffentlichen zu können, soll Schubert zur eiligen Komposition eines weiteren Trios veranlasst haben, des B-dur-Trios (op.99), das, den Indizien nach (Arnold Feil), in der zweiten Aprilhälfte und im Mai 1828 geschaffen wurde (gedruckt wurde es dann doch erst 1836...).

Zur gleichen Zeit muss auch das Adagio in Es-dur entstanden sein, das erst 1846 vom Verlag Diabelli & Co. unter dem Namen "Nocturne" herausgebracht wurde, später auch als "Notturno" bezeichnet. Das Autograph dieses in doppeltem Sinn einzigartigen Satzes ist weder datiert noch signiert, was darauf hindeutet, dass er Bestandteil eines größeren Werkes sein sollte, möglicherweise sogar des B-dur-Trios (wo er dann also durch ein noch größeres Wunder ersetzt worden wäre).

Erstaunlich an diesem Stück: dass es sich auch bei Dauergebrauch nicht abnutzt, trotz seiner Terzenseligkeit, trotz der rhythmischen Gleichförmigkeit. Wir wissen, eingedenk des Adagios im Streichquintett, welch geradezu magische Kraft Schubert entwickelt hat in der Verlangsamung des Pulsschlags bis hin zum Stillstand der Zeit, und es versteht sich von selbst, dass er diese Zeitenthobenheit nicht mit den Mitteln der Kurzweil erzielen kann. Es muss aber doch etwas geschehen, damit man den Atem anhält um wahrzunehmen, was da vor sich geht. Was ist es?

Da sind vor allem sehr subtile Veränderungen, die bewirken, dass die sanfte Idee von der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen", mit der der Satz anhebt, von einer schwelenden Erwartung durchzogen wird, die sich fast unmerklich einstellt; es scheint, dass Schubert die Interpreten mit der Vortragsbezeichnung "appassionato" vorsorglich vor einer allzu idyllischen Einschätzung des Adagios bewahren wollte.

Zunächst sechs Takte lang der Grundakkord Es-dur, im siebenten Takt ein neuer Akkord (Subdominante), der im Cello einen chromatischen Melodieschritt provoziert; auch ein Crescendo über den ganzen Takt unterstreicht, dass er auf ein Ziel zustrebt: auf den Akkord der Dominante, die nach der Wiederkehr des Grundakkords verlangen wird. In der Tat wird sie im achten Takt im forte präsentiert, die Violine hat hier bei ihrem allmählichen Aufstieg den Leiteton erreicht, der benachbarte Grundton "liegt in der Luft". Aber was geschieht? Gerade dieser Augenblick - "verweile doch, du bist so schön" - wird durch eine Wiederholung hinausgezögert oder vielmehr, da sie im Pianissimo geschieht, wie in einer zarten Vergewisserung nachempfunden (der "in der Luft liegende" hohe Grundton dagegen wird von der Violine erst 19 Takte später, nach dem Einschub einiger phantastischer Modulationen, erreicht). Es folgt eine süß ermattende Rückwendung zum Ausgangspunkt, doch erst nach einer weiteren Verzögerung schließ sich ein Kreis und zwar wiederum mit einer unterschwellig spürbaren Irritation des Gleichgewichts: denn dieser Takt ist zwar identisch mit dem Beginn der Streichermelodie, man versteht ihn also als Wiederkehr, doch erst im zweiten Takt dieser Wiederkehr übernimmt das Klavier die Führung und scheint damit für das Ohr den eigentlichen Beginn der Wiederkehr zu markieren; genau so ist es, wenn nach acht weiteren Takten die Melodie wieder vom Klavier zu den Streichern übergeht: der Anfangstakt der Melodie scheint in ihren Abschlusstakt verwandelt, - vielmehr: die Nahtstelle zwischen Ende und Anfang ist unkenntlich gemacht.

In Worten nachvollzogen macht ein solches Verfahren einen recht künstlichen Eindruck, mit dem niemand zu tun haben will, der sich verständlicherweise von dem Stück unmittelbar verzaubert fühlt. Es ist ja ein Glück, dass sich die musikalische Wahrnehmung eines solchen Verfahrens von seinem Nachvollzug in Worten unterscheidet, - aber was ist eigentlich mit der Verzauberung, wenn nun der gewaltig-gewaltsame Kontrast-Teil in E-dur beginnt? Muss man nicht fragen, warum hier solche tonalen Massen in Bewegung gesetzt werden, und weshalb wir nicht einfach weiterträumen dürfen? (In Radio France erklingt das Notturno allnächtlich als Erkennungsmelodie der Sendung "L'heure bleue", - selbstverständlich wird rechtzeitig vor diesem Teil, der die Nachtruhe stören könnte, ausgeblendet).

Vielleicht kommt man notgedrungen zu folgender Begründung: weil große Musik es nicht darauf anlegt, das sanfte Träumen zu vermitteln, sondern in einen Prozess einspannen will, aus dem die Hörer verändert auftauchen. Und Worte sind es, die uns am ehesten daran erinnern, dass es um mehr geht als um störungsfreie Träume. Der bedeutende russische Klavierpädagoge Heinrich Neuhaus versuchte seine Schüler dafür empfänglich zu machen, indem er sie bisweilen das Werk, um dessen Vortrag es ging, Takt für Takt in Worten beschreiben ließ. Wahrscheinlich ist der Vortrag bei Schubert noch entscheidender als bei anderen Komponisten. Man muss etwa das Lied "Schöne Welt, wo bist du?" in einer so erschütternden Interpretation wie der von Christoph Prégardien und Andreas Staier gehört haben, um zu bemerken, welche zentrale Rolle die darin übermittelten Ideen spielen und wie absurd sie selbst von namhaften Forschern unterschätzt werden, deren Angelegenheit doch eben die Vermittlung durch das Wort und die Idee wäre: "Zwischen elegischem a-Moll, sehsüchtiger Klage, der Vergegenwärtigung jener 'fabelhaften Zeit', die 'nur in dem Feenland der Lieder' noch lebt, schwankt das kleine Werk, das Schubert, so scheint es, doch für bedeutsam genug hielt, um es in seinem Streichquartett a-Moll (D 804) ... zu zitieren ...".

Dieses Lied aber, das Schubert für so bedeutsam hielt, dass er es überschrieb: "Langsam, mit heiliger Sehnsucht", bezieht sich nicht auf irgendeine biedermeierliche Schwärmerei, es ist die Vertonung einer Strophe aus Schillers 16strophigem Gedicht "Die Götter Griechenlands". Es beklagt mit suggestiven Worten die völlige Entzauberung der Welt und wurde einst, da es einen Nerv der Zeit traf, immer wieder heftig diskutiert, gewiss auch im Freundeskreis Schuberts. Peter Gülke hat Schillers und Schuberts Frage "Schöne Welt, wo bist du?" ernstgenommen:

"Welche Welt wird da vermisst und gesucht? Entgegen allen so einseitigen wie naheliegenden Bezugnahmen auf die restaurativen Bedrückungen (man tut Schubert zu wenig und Metternich zu viel der Ehre an, lässt man diese als letzten Erklärungsgrund der 'miserablen Wirklichkeit' gelten) steht zu vermuten, dass Schubert das ganze Gedicht gelesen und verstanden hat, das eine seinerzeit hochaktuelle Frage ansprach, diejenige einer instrumentell, arbeitsteilig angeschauten, entgötterten, auf Newtonsche Mechanik reduzierten Welt."
(Gülke a.a.O. S. 177).

Zweifellos hätte man Schubert weit unterschätzt, wenn man - wie es immer wieder geschieht - sein Lebensgefühl allein auf die zum frühen Tode führende, persönliche Krankengeschichte zurückführen würde: nach seiner eigenen Ansicht gehört es zu jedem "verständigen Menschen" und hat mit "Erkennen" zu tun. So schreibt er an seinen Freund Schobert: "Ich höre, Du bist nicht glücklich? mußt den Taumel Deiner Verzweiflung ausschlafen? (...) Obwohl mich dieß außerordentlich betrübt, so wundert's mich doch gar nicht, da dieß beinahe das Loos jedes verständigen Menschen ist in dieser miserablen Welt." (21.Nov.1824)

Und seinem Bruder Ferdinand, versichert er, dass es ihm gut gehe und er durchaus heiteren Gemütes sei, um dann fortzufahren: "Freylich ists nicht mehr jene glückliche Zeit, in der uns jeder Gegenstand mit einer jugendlichen Glorie umgeben scheint, sondern jenes fatale Erkennen einer miserablen Wirklichkeit, die ich mir durch meine Phantasie (...) so viel als möglich zu verschönern suche!" (16./18. Juli 1824)

Übrigens ist die, wie Gülke meinte, "seinerzeit hochaktuelle Frage" heute so brennend wie nie zuvor, wenn sie auch auf einer neueren, unsinnlicheren und noch gefährlicheren Ebene durchexerziert wird, der der Gentechnologie, der Computertechnik, der Medien und der virtuellen Realitäten: die "schöne neue Welt" wird nicht "mit heiliger Sehnsucht" beschworen, sie ist in anderm Sinne allgegenwärtig.

"Überhaupt ist es ein wahres Elend, wie jetzt überall alles zu fader Prosa sich verknöchert, wie die meisten Leute dabey zusehen oder sich gar wohl dabey befinden, wie sie ganz allmählich über den Schlamm in den Abgrund glitschen."
(21. Juli 1825 an Spaun)

Es wird wohl kein Zufall sein, dass man gerade in der zeitgenössischen Musik mehr denn je über Schubert und seine Entwürfe zu einer Poetisierung der Welt nachdenkt. Zweifellos gibt es aber auch ein Ärgernis namens Schubert, das erst im modernen Musikdenken aufgetaucht ist; zwar wird ihm, noch ehe es recht benannt ist, bereits die Absolution erteilt und diese wiederum im Namen Schuberts, aber da es aus Beethovenschem Geist kommt, wirkt es insgeheim fort. Es hat mit dem Moment der 'Wiederholung' zu tun, mit der Wiederholung ganzer Formteile ebenso wie mit der Verwendung bestimmter Formeln; bei Beethoven, der, wie Adorno hervorhebt, besonders allergisch dagegen war, kommen sie "nur auf eine beschädigte Weise, in den letzten Werken vor, während der 'mimetische' Schubert unempfindlich dagegen war: seine Variationensätze, oft auch Ausspinnungen von Themen, wimmeln davon." Wenn er von Schubert einmal absieht, nennt Adorno dergleichen "ein Element des musikalisch-Dummen". (Adorno: "Beethoven. Philosophie der Musik." S.94 f).

Das Klaviertrio B-dur (D 898), dessen Motive, Themen und Formteile so übersichtlich kombiniert sind, dass man auch ohne Studium des Notentextes die Gliederung und Verarbeitung leicht überschauen kann, darf geradezu als Musterbeispiel gelten, wie Beethoven nicht komponiert hätte; und man muss Schuberts Kunstverstand wohl zubilligen, dass ihm dies bewusst war.

Das Hauptthema schwingt sich mit einem prächtigen Impetus vom Grundton zur Quinte; dort allerdings gibt es sofort einen Moment der verspielten Wiederholung, ein Rufmotiv, als gelte es für die nächste Aktion, den melodischen Aufschwung zur Oktave des Grundtons, Atem zu holen. Dort im vierten Takt, liegt dann auch der Schwerpunkt des Themas, ein Vorhalt, der sich in dem kleinen Sechzehntel-Katarakt der Geige auflöst. Der fünfte Takt hätte bereits die Fortsetzung des Themas bringen können, stattdessen bekräftigt er mit den aufsteigenden Sechzehnteln des Cellos das Ergebnis des Vierten. (Dass der fünfte Takt gewissermaßen eine Überdehnung des vierten ist, erkennt man, wenn das Klavier später dieses Thema wiederholt: da gibt es anstelle der Violine/Cello-Korrespondenz einen durchgehenden, chromatischen Lauf, dessen eigener Reiz darin besteht, dass er eine Spur länger dauert als erwartet.)

Wenn dies als Vordersatz des Hauptthemas anzusehen war, könnte man jetzt mit Fug und Recht seine Fortsetzung in einem Nachsatz erwarten. Im sechsten Takt folgt aber statt einer Fortsetzung ein neuer Impetus, die Transposition des Themas auf die nächsthöhere Stufe, was natürlich auch eine Fortsetzung ist und was sich im Nachhinein auch als Nachsatz entpuppt; aber Beethoven z.B. hat mit gutem Grund seit dem Hauptthema seiner 1. Sinfonie auf diesen Effekt verzichtet, nur am Anfang der Waldstein-Sonate hat er noch einmal eine faszinierend neue Wirkung daraus gezogen. In Schuberts Trio dauert die forsch angegangene Parallele auch nur drei Takte lang, dann folgt in der Violine statt des "Kataraktes" für zwei Takte ein Verweilen in der Höhe, ein "süßes Besinnen", auf das in einem weiteren Takt leise, aber mit entschlossener Kürze die Kadenz der Grundtonart folgt.

Das Hauptthema des Trios setzt sich demnach aus der Anzahl von fünf plus sechs Takten zusammen, eine Unregelmäßigkeit, die sich natürlich nicht als Zählerlebnis, sondern als eine unterschwellig wahrgenommene Dehnung der Zeit mitteilt. Dasselbe Phänomen findet man übrigens im zweiten Thema, das von dem lang gehaltenen Ton des Cellos angekündigt wird: der Vordersatz ist 4 Takte lang, der Nachsatz 5 Takte, und es ist gerade diese Dehnung, die das schöne Thema zu einer so inständigen Gebärde macht.

Die Wirkung solcher Unregelmäßigkeiten ist auch deshalb so überzeugend, weil das motivische Spiel, die Modulationen und Überleitungen zwischen den thematischen Blöcken in regelmäßigen Zwei-Takt-Gruppen gegliedert ist. In der Durchführung, die mit der Moll-Version des Hauptthemas beginnt, wird es dann in Drei-Takt-Gruppen verarbeitet, während später das zweite Thema in Vier-Takt-Gruppen zu einer gewaltigen Steigerung geführt wird.

Das Wiederholen kleiner Fragmente, das Insistieren, das Verweilen bei bestimmten Motiven schon innerhalb eines Themas, ja, der Beginn eines Themas mit einem Stillstand, einem einzigen gehaltenen Ton (vgl. den Schluss-Satz des Forellenquintetts und der späten c-moll-Klaviersonate) - all dies erscheint bei Schubert als Versuch, das Phänomen der Zeit musikalisch auszuloten, vielleicht sogar für Momente ihren unerbittlichen Mechanismus zu unterlaufen, den er gleichwohl in Szene setzt wie kaum ein anderer Komponist: es ist merkwürdig, dass der Puls gleichmäßig pochender Klavierakkorde, der z.B. die Durchführung der A-dur-Sonate (D 959) prägt und mit dem auch dieses Trio beginnt, in der Epoche vor Schubert selten zu finden ist. Mozart verwendet ihn in aller Härte zu Beginn seiner a-moll-Sonate, Beethoven mit völlig anderem Sinn (dynamisch zielgerichtet: er muss in eine Crescendo münden) in der Waldstein-Sonate. Bei Schubert aber kann er viele Gesichter annehmen: das der "holden Kunst", die "in eine beßre Welt entrückt", und das des "Erlkönigs", dem auch der geschwindeste Reiter nicht entrinnen kann; vor allem aber das des Wanderers, der immer in Bewegung ist, weil er keine Heimat hat. Doch auch mit der Wiener Tanzmusik hat das zu tun, die den Alltagstrott aufhebt und in Schweben verwandelt. Alban Berg sei's geklagt: 450 Tänze hat Schubert komponiert, - zu schweigen von ungezählten, die er improvisiert hat, und wieder anderen, die aus seinen großen Werken schimmern, wie eben auch aus dem Schlusssatz dieses B-dur-Trios. Derselbe Komponist, der immer wieder die Zeit zum Einhalt zu bewegen sucht, hat diesen unwiderstehlichen Drang, den Drive der Zeit in seine Stücke hineinzukomponieren. "Flussbetten", wie Peter Gülke es nannte, "in denen das Rauschen des Zeitflusses sich musikalisch materialisiert". (Gülke: "Brahms/Bruckner" S. 69).

Es ist nicht schwer, die motivischen Zusammenhänge im B-dur-Trio mit bloßem Ohr zu analysieren, die Verwandlung der rhythmischen Formel des Scherzos in die Tanzrhythmen des Schluss-Rondos, die innere Verbindung des Scherzo-Trios mit dem langsamen Satz, die Verknüpfung von dessen letzten Takten mit dem Beginn des Scherzos und vieles mehr, und es ist in der Tat auch nützlich, dessen gewahr zu werden. Aber andererseits ist es auch bedenkenswert, dass ein Analytiker wie Peter Gülke seinem kenntnisreichen Schubert-Buch ein Motto von Alexander Berrsche vorangestellt hat, das mit den Sätzen endet:

"Versuchen Sie doch. Auge in Auge mit dem 'Lindenbaume' ihn zu beschreiben! Oder von dem langsamen Satz des B-dur-Trios einiges Lichtvolle über dessen Thematik zu äußern, während gleichzeitig eben diese Kantilene beglückend, beschämend und Schweigen gebietend in Ihrem Innern erklingt! Es geht nicht..."
© Jan Reichow 1994

Erwähnte Literatur:

  • Theodor W. Adorno: Beethoven - Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 1993
  • Alfred Brendel: Musik beim Wort genommen, München, Zürich 1990
  • Peter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit, Laaber 1991
  • Peter Gülke: Brahms | Bruckner - Zwei Studien, Kassel 1989
  • Walther Dürr und Arnold Feil: Franz Schubert, Stuttgart 1991
tacetlogo (3K) Dieser Text wurde 1994 für das Booklet folgender CD-Aufnahme geschrieben:

TACET-CD 82
Schubert Klaviertrios (1) mit dem Abegg Trio
Ulrich Beetz, Violine; Birgit Erichson, Violoncello; Gerrit Zitterbart, Piano.
Klaviertrio Es-dur op. 99 D 898 / Notturno Es-dur op.posth. 148 D 897

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Schubert - Klaviertrios 1 (1994)