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Jan Reichow: Schuberts letzte Zeit

Der Musikanalytiker und Soziologe Theodor W. Adorno sieht in den großen lyrischen Zyklen (von denen Schuberts über Schumanns Liederkreis bis zu Schönbergs George-Liedern) "eine eigentümliche Form, welche die Gefahr allen Liedwesens, die Verniedlichung der Musik in genrehafte Kleinformate, bannt durch Konstruktion: das Ganze steigt aus dem Zusammenhang miniaturhafter Elemente auf." [A 68]

Manch einer wird sich weigern, die "Gefahr allen Liedwesens" zu fürchten; er wird sich gern verzetteln, solange es soviel gute Lieder zu entdecken gibt. Die Versicherung, daß das "Ganze" im emphatischen Sinn jedoch allein durch (bewußte) Konstruktion zu erringen sei und daß das auf diese Weise Errungene auch wünschenswerter sei als das bloß Liedhafte, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, wenn man den analysierenden Spürsinn der Schönbergschule schätzen gelernt hat. Bei Schubert aber wie bei keinem anderen wäre dann nachzuvollziehen, wie sich Kleinformate im Sonatenhaften auflösen, ohne in irgendeiner Form durch altbewährte Konstruktionen, auf die man den Finger legen kann (1. Thema, 2. Thema, Durchführung, Reprise), "gebannt" zu werden.

Man sollte nur versuchen, den ersten Satz seiner letzten Sonate in B-dur gleichsam zum erstenmal zu hören: wie er anhebt mit dem wunderbaren lyrischen Kleinformat eines Themas, - "selig scheint es in ihm selbst" (Mörike, Auf eine Lampe ) -, bedroht allein durch einen von ferne tönenden Baßtriller auf dem tonartfremden Ton Ges. Wenig später macht der Baß diesen Ton Ges zur Grundlage einer ersten Entrückung des Themas. Die Bewegung steigert sich, und das B-dur des Anfangs kehrt wieder, allerdings von einer triolischen Unruhe gezeichnet und ohne B-dur-Schluß: der harmonische Weg knickt ab, eine kurze, dramatische Crescendo-Wendung, aus der geheimnisvoll das zweite Thema auftaucht; es ruht wiederum auf Ges bzw. Fis (-moll), es changiert und kehrt unvermerkt Züge des ersten Themas hervor.

Was auch immer geschieht, - kein Gedanke daran, daß Kleinformatiges durch Konstruktion gebannt wird: es breitet sich aus, es wandert, weitet sich, streckt sich - und geht nicht verloren. Und wenn der Höhepunkt der Durchführung erreicht wird und immer deutlicher ein Menetekel an der Wand erscheint, - dergleichen kann niemand voll ermessen, der nur auf thematisch-motivische Arbeit und Formkonstruktion geeicht ist, nicht aber zum Beispiel die Chiffren des Liedes Der Wanderer von 1816 erkennt - (ein anderer Abschnitt daraus hatte schon 1822 eine Schlüsselrolle in der "Wandererfantasie" gespielt); da ist der langsame Schreitrhythmus, zugleich das gleichmäßige Pochen der Achtel, kein Zweifel: etwas sehr Ernstes geht seinen Gang, die Zeit verrinnt, und nicht nur die Sonate weiß sich von völliger Auflösung bedroht, sondern jeder von uns Sterblichen, der die verklingende Musik als eine Wahrheit nimmt.

Man kann solche Vorgänge auch vorsichtiger mit den Begriffen "Nähe" und "Ferne" zu fassen suchen, wobei das In-die-Ferne-Wandern auch als eine Form der "Entrückung" zu sehen ist, nicht unbedingt als "Verschwinden" oder als "Auflösung". Jürgen Uhde hat dargelegt, in welche Fernen diese Musik abdriftet: sie schwingt "in zwei riesigen Bögen mehrfach durch den gesamten Quintenzirkel, um zuletzt in einer Tonart zu landen, die zwar als d-moll geschrieben ist, aber eigentlich als ein es-es-moll anzusprechen wäre." [U 101]. Mit anderen Worten: "Offenbar hat Schubert die harmonische Situation der weitesten Entrückung, die zugleich Heimkehr ist, einer Heimkehr, die entrückt, ganz bewußt gleichgesetzt." [U 101]  Der Baßtriller taucht wieder auf, und merkwürdig: hinter ihm erscheint in ganz fahlem harmonischen Licht eine Vision des Themas, - sie gehören zusammen, wie zwei Aspekte ein und derselben Sache. Eine unerhörte, eine mystische Erfahrung! Was ist das für ein Geschenk, um nicht zu sagen: was für eine Gnade, wenn danach alles, was gewesen ist, noch einmal wiederkehrt!
Das bis zum Überdruß zitierte Wort Schumanns von den "himmlischen Längen" ist eigentlich viel zu schwach und apologetisch.

Über die A-dur-Sonate schreibt Brendel: "Der erste Satz hält sich zwischen Improvisation und Konstruktion in gewagter Schwebe, operiert mit wechselnden Gewichten, variiert sein Erzähltempo und erschließt seine Gesamtform erst im Rückblick." [B 147]
Improvisation? Ist denn nicht alles sorgfältig notiert?

Hier müssen neue Tugenden ins Spiel gebracht werden, die Adorno möglicherweise suspekt gewesen wären. "Schuberts Weg zu seinen kompositorischen Ergebnissen verlief anders als der unserer mühevoll analysierenden Annäherung", schreibt Peter Gülke und fährt später fort: "Natürlich prägt der Modus der Hervorbringung das Hervorgebrachte. Nicht nur in der Spontaneität, mit der eine spezifische Unmittelbarkeit der Mitteilung zusammenhängt, nähert sich Schuberts Komponieren der Improvisation, sondern, aufs direkt Faßbare angewiesen, auch in der Abhängigkeit von Vorbildern. Der genuine Ort dieser Arbeitsweise ist, als kleines Gebilde, das Lied." [G 105]

Kein Wunder, daß die langsamen Sätze - obwohl alles andere als kleine Gebilde - von zentraler Bedeutung sind. Auf den ersten Blick sind sie einander sogar eng verwandt: fis-moll (A-dur-Sonate) und cis-moll (B-dur-Sonate), 3/8 bzw. 3/4 Takt, die fallende Sekunde im Themenansatz, beide Themen kehren nach 8 Takten zum Ausgangspunkt zurück, aber der eine Satz (fis-moll) tut dies, um sich in "trostloser Grazie" (Alfred Brendel [B 136]) zu wiederholen, der andere (cis-moll), um in "heilige Sphären" (der Pianist der vorliegenden Aufnahme im WDR-Interview) aufzusteigen. Der Mittelteil wendet den im melodisch-harmonischen Gewebe noch verhüllten und unterschiedlich getönten Einsamkeits-Charakter der Sätze nach außen: der eine, indem er ihn in puren Wahnsinn umschlagen läßt, mittels Modulationen, Tonschlingen und -kaskaden, die in der Musikgeschichte bisher kein Beispiel hatten; der andere, indem er ein tröstliches Wir-Gefühl vermittelt, mit einer Art Pilgerchor (Brendel spricht von "rühmendem Mittelteil" [B 136], - merkwürdigerweise untergründig verwandt mit dem Scherzo-Trio der anderen, der A-dur-Sonate.

Was hat es mit den von Gülke erwähnten "Vorbildern" auf sich? Gerade dieses A-dur-Scherzo ist ja unmittelbar angeregt durch das der Beethoven-Sonate op.2 Nr.2, bezeichnenderweise das frühe Werk eines damals nur 6 Jahre Jüngeren, das Schubert - immerhin 30 Jahre später - gewaltig überbietet, nicht zuletzt durch die Einbeziehung des katastrophischen Fortissimoeinbruchs (Abwärtslauf über dem cis-moll-Quartsextakkord), der dem "Wahnsinns"-Teil des vorausgegangenen langsamen Satzes entsprungen ist. Kann es nach all diesen Ausblicken eine "finale" Antwort geben?

Deus ex machina ist das wunderwirkende Thema des abschließenden Rondos, das Schubert einer eigenen frühen Klaviersonate aus dem Jahre 1817 entlehnt (a-moll D 537, vorletzter Satz, Allegretto quasi Andantino, E-dur). Und wenn dieses Thema am Ende nicht mehr gelingen will und in Stücke zerfällt, so daß die potentielle Ewigkeit des Satzes in einer Stretta zum irdisch-plausiblen Ende finden kann, so ist das eine Idee, mit der Schubert an den letzten Satz der Beethovenschen Klaviersonate G-dur, op.31 Nr.1, anknüpft. Man hat angenommen, Schubert habe Beethoven mehr oder weniger versteckte Referenzen erweisen wollen, zumal er sich nicht auf sogenannte Hauptwerke des Meisters bezog.

Aber es ist vielleicht auch kein Zufall, daß sie gerade aus jener Zeit stammten, als Beethoven etwa im gleichen Alter war wie der ihn zitierende Schubert. Zweifellos hat Schubert sich mit ihm verglichen. Beethoven selbst war ja bereits tot, Schubert konnte aber darauf rechnen, daß die musikalische Welt, die ihn interessierte, sich in Beethovens Werken auskannte, neue Werke an jenen maß, Anspielungen zu deuten wußte. Am 26. März 1828, auf den Tag genau ein Jahr nach Beethovens Tod, fand das einzige von Schubert selbst veranstaltete und ausschließlich seinen eigenen Werken gewidmete Konzert im Saal der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien statt; er zeigte der Öffentlichkeit, daß er im Begriff war, Beethovens Nachfolge anzutreten.

Und dennoch führt das Wort "Nachfolge" in die Irre. Eine unglaubliche Fülle eigenständiger, reifer Werke entstand in kürzester Zeit (Winterreise, Schwanengesang, Klaviertrios, Streichquintett in C, Der Hirt auf dem Felsen etc.). Gerade deswegen kann man es wohl nicht als Zufall werten, wenn Schubert im Finale seiner B-dur-Klaviersonate an Beethovens vielleicht allerletzte Komposition anknüpfte, das nachgelieferte Finale des Streichquartetts op.130 (es sollte an Stelle der Großen Fuge gespielt werden können). Dieser B-dur-Satz Beethovens beginnt mit einer Ostinatobewegung auf dem Ton g, der Themeneinsatz erfolgt im dritten Takt auf der Dominante von c-moll, und erst die zweite Hälfte des Themas führt über die Dominante von B-dur zur Grundtonart. Genau so macht es Schubert im Finalthema seiner B-dur-Sonate: aber er führt den Ton g nicht mit einer Ostinatobewegung ein, sondern wie einen Hornstoß, ein Signal, ein "Habe acht!", was dem von Beethovens Kehraus vollkommen verschiedenen Charakter des Satzes angemessen ist, seinem fatalistisch-übermütigen, merkwürdig verspielten Ernst. (Interessant, daß Schubert bei der letzten Wiederkehr des Themas den "falschen" Alarmton gewissermaßen korrigiert, indem er ihn - das Thema unterbrechend - chromatisch abwärtsführt zur "korrekten" Dominante von B-dur, zum Ton f.)

Andreas Krause hat recht, wenn er in der erkennbaren Hommage an Beethoven noch eine andere Ebene sieht: "die einer auskomponierten Emanzipation". [K 423]
Schubert und Beethoven - eine rätselhafte Zeitgenossenschaft, deren Dialektik wohl erst nach mehr als 150 Jahren allmählich begriffen worden ist (vor allem: nach einer gründlichen Mahler-Erfahrung). "Schubert hat, bei aller Bewunderung, von Beethoven vor allem gelernt, sich von ihm zu unterscheiden."
Dieser Satz Alfred Brendels [B 148] ist ebenso erhellend wie der folgende: "Schubert bezieht sich auf Beethoven, er reagiert auf ihn, aber er folgt ihm kaum. Ähnlichkeiten der Motive, des Satzes, der formalen Muster beeinträchtigen nie Schuberts eigenen Ton. Modelle werden verborgen, verwandelt oder übertroffen." [B 149]
Aber schon 1927 hatte Arnold Schönberg in einem Textentwurf zur hundertsten Wiederkehr von Schuberts Todestag geschrieben: "Mir scheint folgendes bisher unbeachtet, ja das Gegenteil meist behauptet: Eine solch unfaßbar große Originalität in jeder Einzelheit neben einer erdrückenden Erscheinung wie Beethoven. Kein Wunder, daß man sie noch heute nicht voll erkannt hat, wo ihre Kühnheit kaum mehr stört. Dann bedenke man: Welche Selbstachtung! In der nächsten Nähe dieses erdrückenden Genies fühlt er nicht das Bedürfnis, dessen Größe zu leugnen, um doch irgendwie bestehen zu können! Welches Selbstbewußtsein, welches wahrhaft aristokratische Standesgefühl, das im Großen den Gleichen achtet." (zit. nach Brendel [B 149])

Schuberts Eigenart wird vielleicht am klarsten, wenn man zu ergründen sucht, was er möglicherweise nicht konnte, vor allem aber - nicht wollte. (Nur Epigonen haben mit dem Können keine Probleme.) Peter Gülke sagt es folgendermaßen: Schubert "kann und will nicht wie Beethoven, schon die erste, kleinste thematische Prägung zur präsumptiven (vorausgesetzten, J.R.) Ganzheit einer Werkvorstellung hin vermitteln und beides stufenweise aneinander entwickeln, er mag und kann nicht in der Einzelheit von vornherein mitdenken, was ihr widerfahren und was sie bewirken wird, ohne derlei absichernde Rückkopplung, kühl abwägende Kontrolle zu fürchten[...]. Der Zwang, alles auf eine Karte zu setzen, rückt dieses Komponieren in die Nähe der Improvisation." [G 104]
In der Tat: wenn man Schuberts Entwürfe zu diesen Sonaten studiert, weiß man nicht, worüber man mehr staunen soll: über die spätere qualitative Verbesserung einzelner thematischer Teile oder über die Tatsache, wieviel Endgültiges bereits nach dem ersten Anlauf dasteht.

Bezeichnend auch, daß die Überarbeitung dann kaum - wie bei Beethoven - zu kürzeren Formulierungen führt, sondern zu Einschüben, Vermittlungen und Erweiterungen, die der Melodie mehr Luft geben, wie im zweiten Thema des ersten Satzes der A-dur-Sonate: ein ganzer Pausentakt wird eingefügt, damit nach dem dramatischen Aus- und Abbruch das zweite Thema aus einer atemlosen Stille wiederkehrt; auch sein durch eine Sechzehntelfigur variiertes Echo steht erst in der Reinschrift, - offenbar also in dem Moment, als es galt, durch diese Themenvariante die motivische Grundlage einer Durchführung zu legitimieren, die nicht eigentlich Durchführung genannt werden kann, sondern als selbständiger Mittelteil fungiert. Dessen harmonischer Gang changiert in eigenartig unentschlossener Weise zwischen C und H, während sich zugleich die melodische Bewegung kontinuierlich auflädt, als suche sie einen Ausweg aus dem Zirkel. Es mag sein, daß Schubert den Entwurf nach der Niederschrift der Exposition beendet hatte, weil er noch nicht wußte, wie die Durchführung einer Exposition aussehen könnte, die bereits eine Durchführung vorwegnimmt. Seine Arbeitsweise war merkwürdig.

Die Forschung spricht bei den drei Sonaten des Jahres 1828 von einer Sonaten-Trias ähnlich wie bei den "mittleren" Sonaten des Jahres 1825. Zumindest die spätere Dreiergruppe wurde von Schubert selbst als solche gesehen, von 1 bis 3 numeriert, zur Veröffentlichung vorgesehen und sollte insgesamt dem Virtuosen Johann Nepomuk Hummel gewidmet werden. Die Reinschrift erfolgte im September 1828, zwei Monate vor Schuberts Tod. Er hatte an den drei Sonaten seit Mai dieses Jahres mit Unterbrechungen gearbeitet: zuerst entstanden die Expositionen der Kopfsätze, anschließend hat er offenbar alle anderen Sätze entworfen. Erst in einem letzten Arbeitsgang schrieb er die Durchführungen und vollendete die Kopfsätze. (Die Coda zum Kopfsatz der B-dur-Sonate notierte er wie eine erratische Eingebung unter die Exposition des Kopfsatzes der A-dur-Sonate!) Ob bewußt oder unbewußt: diese Arbeitsweise ergab zahlreiche motivische Querverbindungen zwischen den drei Sonaten, fein verästelte innere Beziehungen, auch komplementäre Beziehungen der Charaktere. All dies ist einer gründlichen Analyse offen, auch kann man über eine durchgehende poetische Idee nachdenken, die an manchen Stellen mit Händen zu greifen scheint.

Aber wer spricht eigentlich in dieser Musik?

Zwar wäre es auch bei anderen Komponisten nicht richtig, bei Schubert aber gehört es zu den besonders gern begangenen Fehlern anzunehmen, sein Ich sei es, das sich da unmittelbar ausspreche. Man muß nur seine Winterreise einmal von einem Opernsänger gehört haben, der eine Rolle spielt, ein "Ich" darstellt, um zu wissen, wie falsch ein falsches Ich sein kann.

Aber ebensowenig wie in den Liedern und Liederzyklen sollte man in den Sonaten das sprechende Ich mit dem Schuberts gleichsetzen, als gehe es in der Instrumentalmusik vor allem um persönliche Konfessionen und klingende Selbstportäts. Was spricht, was Schubert da sprechen läßt, ist das "romantische Ich", der fühlende Mensch, extreme Erfahrungen, der Himmel, die Nacht, die Landschaft, die Musik. Und in der spiegelnden Scheibe, durch die zugleich die vorüberziehende Landschaft zu sehen ist, erscheint nicht nur Schubert in wechselnder Beleuchtung, auch sein Interpret und schließlich wir selbst, die wir zuhören. Aus diesem Vorgang entsteht eine neue Wahrnehmung der Zeit: der reale Augenblick, seine Vorläufigkeit, das Wandern, das Verweilen, die Verwandlung von bloßer Vergänglichkeit in Musik; und so rückt bei Schubert der Gedanke der Improvisation, der Unmittelbarkeit, derartig in den Vordergrund, als habe es die klassische Vorstellung des "Opus perfectum et absolutum" nie gegeben. Ab-solutum? Losgelöst von den Bedingungen der Entstehung? Schubert sah (und kannte meist) die Menschen, für die er spielte.
Die unvergeßliche Aufführung, das wäre es!

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung geschähe mit der Distanzierung von der modernen Idee einer scheinbar maßgeblichen, aus vielen perfekten Einzel-Takes zusammengesetzten Studio-Produktion. Mit ihr ist die Vergänglichkeit, die in der großen Musik gefürchtet, gebannt und gefeiert wird, keinesfalls zu besiegen.

Einen Abglanz der Realität bietet die Live-Aufnahme eines Konzertes, vertraut mit allen Risiken und Schönheiten des unverwechselbaren Augenblicks, und doch von der beständigen Kommunikation mit anwesenden Menschen gekennzeichnet. Mit dieser CD liegt eine solche Aufnahme vor.

Schubert selbst dürfte die im September 1828 vollendeten Sonaten kaum öffentlich gespielt haben (sie sind schwer, wann hätte er sie üben können?), obwohl er dies ausdrücklich erwähnt; vielleicht doch nicht nur, wie vermutet wurde, aus Marketinggründen, sondern auch eingedenk des Stellenwerts der "Live"-Praxis, - jedenfalls bietet er sie am 2. Oktober dem Verleger mit den Worten an: "Die Sonaten habe ich an mehreren Orten mit vielem Beifall gespielt." Er war mit der Winterreise beschäftigt. Woher sollte er die Zeit genommen haben?

© Jan Reichow 1997

Zitierte Literatur:

  • (A) Theodor W. Adorno: Nachwort (zu Schumanns Liederkreis op.39), Wiesbaden 1960
  • (B) Alfred Brendel: Schuberts letzte Sonaten in: Musik beim Wort genommen, München und Zürich 1992
  • (G) Peter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit, Regensburg 1991
  • (K) Andreas Krause: Die Klaviermusik in: Schubert Handbuch von Walther Dürr und Andreas Krause (Hg.), Kassel 1997
  • (U) Jürgen Uhde / Renate Wieland: Denken und Spielen - Studien zu einer Theorie der musikalischen Darstellung, Kassel 1988
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Dieser Text wurde 1997 für das Booklet folgender CD-Aufnahme geschrieben:

Franz Schubert
Klaviersonaten A-Dur D 959, B-Dur D 960
Gerrit Zitterbart, Klavier
CD gutingi 220 DDD live




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