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WDR 3 Musikpassagen
Naivität und namenlose Freude
28.Juni 2000 15.05-18.00 Uhr
Skript der Sendung / Moderation: Jan Reichow
Redaktion: Jan Reichow

(Jingle)
Am Mikrofon begrüßt Sie J.R..
Meine Damen und Herren, kennen Sie einen Menschen, den Sie als naiv bezeichnen würden? Wie alt ist er oder sie? 6 Jahre? 10 Jahre? Dann können Sie es unmöglich kritisch meinen. Ein Kind hat das Recht, kindlich zu sein, also: natürlich, unbefangen, treuherzig, arglos, gutgläubig und eben - naiv. (Ganz leise spricht man dann vom "Ernst des Lebens", der daran arbeiten wird.)
Erst von einem gewissen Alter an wird man kritisch: ist es einer 25jährigen noch erlaubt, wirklich naiv zu sein? Schmückt es sie oder macht es sie lächerlich?
Einem jungen Mann würde man es nicht ohne Spott durchgehen lassen; bei einer jungen Frau aber hätte, zumindest früher, die männliche Umgebung mehr Nachsicht walten lassen, - natürlich nicht aus lauter Güte, sondern weil mann den überlegenen männlichen Durchblick bestätigt findet.
Also: was ist Naivität? Man könnte sagen: Naivität hat mit nicht vollzogener Aufklärung zu tun. Man müsste allerdings die typisch moderne Verengung des Begriffs "Aufklärung" vergessen, die darin besteht, ihn - wenn nicht mit militärischen Operationen - nur noch mit sexueller Information zu verbinden.
In Wahrheit steckt dahinter aber der emanzipatorische Geist des späten 18. Jahrhunderts; der Philosoph Immanuel Kant hat ihn auf die berühmte Formel gebracht: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst-verschuldeten Unmündigkeit". Natürlich will er damit keins unserer armen unmündigen Kinder eines mentalen Defizits beschuldigen, und erst recht spricht er nicht über deren sexuelle Aufklärung. Mündigkeit ist für ihn - einfach gesagt - kritisches Bewusstsein, - das Gegenteil von Naivität.
Was hat das mit Musik zu tun?
Nun, ob Johann Sebastian Bach der Aufklärung im philosophischen Sinne zuzurechnen ist oder nicht, ist zweifelhaft; eine Bachsche Fuge allerdings zeigt musikalische Mündigkeit in jedem Takt, in der Platzierung jedes einzelnen Tones. Das könnte man über eins der wunderbarsten Themen von Beethoven zwar auch sagen, man sagt es aber nicht. Stattdessen wird man hervorheben, daß es so einfach ist - bis hin zu einer zauberhaften Naivität, - unschuldig, früher hätte man gesagt: "jungfräulich", heute genügt uns zu sagen: "ahnungsvoll, aber noch nicht wissend", einem jungen Menschen ähnlich, der sich der eigenen Mündigkeit noch nicht bewußt geworden ist.
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich doch einmal vor, mit diesem Thema hätte Beethoven damals, 1820, wirklich das Wesen eines 19jährigen Mädchens gezeichnet, dem er dann in der Tat auch das ganze, durch dieses Thema geprägte Werk gewidmet hat. (Er selbst war zu diesem Zeitpunkt 50 Jahre alt.) Können Sie sich dann - entgegen allen heute herrschenden Tendenzen - auch noch vorstellen, dass das treibende Motiv dieser Sonate gar nicht so sehr die unterschwellige Erotik ist, sondern vor allem das Bewußtsein der unerbittlich verrinnenden Zeit? Liebe Hörerinnen und Hörer, vergessen Sie doch alles, was ich bisher gesagt habe, bis auf eins: (ich übertreibe nur wenig!) diese 2 Minuten, die jetzt folgen, gehören zu den größten, die man seit 1820 erleben kann.
1) Beethoven Klaviersonate op. 109 E-dur 5033 476 1 Tr. 4 0'00" bis 2'10"
Ich gebe zu: diese 2 Minuten sind vielleicht nur dann die größten, die man seit 1820 erleben kann, wenn man die ganze Sonate kennt, aus der sie stammen. Und diese Sonate soll uns im Hintergrund und immer wieder auch im Vordergrund durch die ganze Sendung begleiten, egal, was uns ansonsten widerfährt, und um ca. 17.30 Uhr wird sie vollständig erklingen: die Klaviersonate op. 109 in E-dur. Beethoven hat sie Maximiliane Brentano gewidmet, mit deren Eltern er seit langem befreundet war. (Der Vater Franz Brentano war der Bruder der berühmten Bettina und des ebenso berühmten Dichters Clemens Brentano!) Und Beethoven schrieb an die Tochter Maxe:
"Eine Dedikation!! ! - nun es ist keine, wie dergleichen in Menge gemißbraucht werden - es ist der Geist, der edle und bessere Menschen zusammenhält auf diesem Erdenrund und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht..."
Meine Damen und Herren, das ist keine hochtrabende Phrase, das Gewicht dieser Worte muss man nachwirken lassen:
"...der Geist, - den keine Zeit zerstören kann ..."
Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die junge Frau, zu der er spricht, die lebendige und vergängliche, - hat sie für Beethoven vielleicht mehr bedeutet? Immerhin schreibt er an den Vater einen Brief, der dies in Abrede stellt und deshalb um so hellhöriger macht:
"Ich war vorlaut, ohne anzufragen, indem ich ihrer Nichte Maxi ein Werk von mir widmete; möchten Sie dieses als ein Zeichen meiner immerwährenden Ergebenheit für Sie und Ihre ganze Familie aufnehmen. Geben Sie aber dieser Dedikation keine üble Deutung auf irgendein Interesse oder gar auf eine Belohnung. Dies würde mich sehr kränken..."
Joachim Kaiser schrieb dazu:
"Beethoven leistet sich den erstaunlichen Fehler, aus der Tochter eine 'Nichte' zu machen. Sollte diese Verwirrung, ebenso wie der Dedikationsbrief an Maximiliane, gar die Deutung nahelegen, der zweiundfünfzigjährige Komponist habe für die hochmusikalische junge Freundin geschwärmt? Es wäre dies gewiß keine üble Deutung." (S. 558)

Heute macht man aus solchen Andeutungen gern im Handumdrehen eine handfeste Story: aha, Beethoven hat also etwas mit ihr gehabt!
Nein, darüber ist jedenfalls nichts weiteres bekannt, nur diese Sonate, die vielleicht alles sagt, sowohl in dem unvergleichlichen Thema, das vielleicht ein Portrait der jungen Dame ist und - wie Beethoven vorschreibt - "gesangvoll, mit innigster Empfindung" zu spielen ist, als auch in ihrem Gesamtverlauf, der nicht nur von Empfindungen spricht, sondern von der Zeit ... und von dem Geist, ... der - hoffentlich - unzerstörbar ist...

2) Beethoven Klaviersonate op. 109 E-dur 5033 476 1 Tr. 4 0'00" bis 2'10"
Jürgen Uhde, der Beethovens Klavierwerke hellsichtig beschrieben hat, sagt über die zwei Sätze, die dem eben verklungenen Thema vorausgehen:
"Gemeinsam ist beiden Sätzen der Charakter von betonter Vergänglichkeit, doch ist der Zeitstrom im 1. Satz sanft, verglichen mit den Katarakten des 2., eines Musik gewordenen Hölderlin-Verses: 'Denn uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruh'n, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen....'"
3) Beethoven Klaviersonate op. 109 E-dur 5033 476 1 Tr. 3 2'16"
"Denn uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruh'n, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen...." Der Hölderlin-Vers ist eine treffende Assoziation, die natürlich nicht von Beethoven stammt.
Im ersten Satz dieser Sonate aber hörte Joachim Kayser ein Zitat aus Beethovens "Fidelio", und zwar Roccos Worte: "Ich bin ja bald des Grabes Beute". Mich überzeugt die Parallele wenig. Ob es allerdings treffender ist, wenn ich gleich anschließend einen Choral heraushöre, weiß ich auch nicht: "mein Haupt und Glieder, die lagen danieder, aber nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht." (Die güld'ne Sonne)

4) Beethoven Klaviersonate op. 109 5033 476 1 Tr. 2 ab 1'01" bis 1'19"
Ich glaube nicht, dass der 50jährige Beethoven ausgerechnet an die Adresse der jungen Dame das Zitat "Ich bin ja bald des Grabes Beute" hineingeheimnißt hat. Zwar war er mehrfach ziemlich krank, aber dem Freund Ries z.B. drohte er scherzhaft, er werde bald nach London kommen, um seine Frau zu küssen. "Geben Sie acht", schrieb er, "Sie glauben ich bin alt , ich bin ein junger Alter." (April 1823). Andererseits glaube ich auch nicht so recht an meine Choral-Assoziation, weil ich bezweifele, dass Beethoven sich in protestantischen Kirchenliedern auskannte (obwohl sein Bonner Lehrer Neefe Protestant war).
Das war eben schon fast die ganze Durchführung des ersten Satzes der Sonate. Und wenn wir das Programmatische noch etwas weitertreiben wollen, hören wir im grazilen Anfangsthema das Mädchen und in dem problematischen, zerklüfteten zweiten Thema den erschütterten Komponisten, und aus der Durchführung, die Sie gerade gehört haben, wird sich das Anfangsthema in strahlender Schönheit erheben: Jürgen Uhde schreibt:
"Die Reprise" - also die Wiederkehr des Anfangsteils - "bedeutet hier die Epiphanie des Themas. Aus der anfänglichen Verborgenheit tritt es nun in ein blendendes Licht (....). Doch ändert es damit seinen Charakter, den wir als rasch vergehend begriffen, im Grunde nicht, denn das Licht verlöscht schnell wieder: Die Linie setzt sich p(iano) in der Tiefe fort, um dann noch einmal in der Höhe zu erglühen." (Uhde S.481f)
5) Beethoven Klaviersonate op. 109 5033 476 1 Tr. 2 Vivace, ma... 3'12"
Maurizio Pollini spielte den ersten Satz der Sonate op.109, und seine vollständige Interpretation wird am Ende der heutigen Musikpassagen stehen.
Meine Damen und Herren, man kann darüber streiten, ob Beethovens späte Klaviersonate eine solche, am realen Leben orientierte Deutung braucht, wie ich sie vorhin angedeutet habe. Oder ob es nicht genügt, Sätze zu sagen wie "Aus der anfänglichen Verborgenheit tritt das Thema nun in ein blendendes Licht."
Und doch lässt sich anders schwer erklären, wie sich aus diesen schwierigen Seelenlagen, die mit Vergänglichkeit, Kindheit, Kindlichkeit und Alter, erinnerter und erlebter Jugendlichkeit zu tun haben, wie daraus das Erlebnis namenloser Freude entsteht. Und es stellt sich im Verlauf dieser Sonate unweigerlich ein.
Ganz anders als in dem Lied der Selbstbescheidung, das Sie nun hören: es heißt "Verborgenheit" und erlebt ebenfalls ein überwältigendes Licht. "Und die helle Freude zücket / durch die Schwere / so mich drücket", aber das Fazit lautet wie der Anfang: "Laß o Welt, o laß mich sein." Das ist eben nicht Beethoven, sondern der Pfarrer Eduard Mörike, und Hugo Wolf hat die Musik geschrieben. Sie hören Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von Svjatoslav Richter, in einem Konzert vom 6. Oktober 1973 in Budapest.
6) CD Hugo Wolf / Mörike-Lieder Tr. 21 "Verborgenheit" 3'03"
Ein Lied von Hugo Wolf nach Eduard Mörikes Gedicht "Verborgenheit". Dietrich Fischer-Dieskau wurde von Svjatoslav Richter am Klavier begleitet, Sie hörten eine Konzertaufnahme aus dem Jahre 1973.
Es ist eigenartig, um wieviel empfindlicher wir heute gegenüber dem Ton sängerischen Überschwanges reagieren.
Es ist die Frage, ob wir eigentlich noch die ganze Bandbreite des stimmlichen Ausdrucks hören wollen bzw. ob wir sie noch zu ertragen vermögen. Fischer-Dieskau suggeriert, dass er der absolute Souverän einer differenzierten Empfindungswelt ist, während wir von uns vielleicht gerade den Eindruck gewonnen haben, dass wir nicht mehr genau wissen, in welcher Welt wir leben, und mit dem Kinde sympathisieren, das davon auch nichts weiß und es auch nicht vorgibt.
In einem Film von Carlos Saura lebt das kleine Mädchen Ana mit seinen beiden Schwestern, der gelähmten Großmutter und einer Tante, die den Haushalt besorgt in einem großbürgerlichen Haus in Madrid. Ana beschwört mit ihren Phantasien die Erinnerungen an die geliebte Mutter und an den Vater, der in den Armen seiner Geliebten starb."Warum gehst du - porque te vas?" sagt das Mädchen, aber es geht letztlich um die Beschreibung familiärer Machtverhältnisse und Saura "vermeidet sorgfältig jede Sentimentalität mit der vorgeblich unschuldigen Kinderseele. Er zeigt vielmehr, wie sich das Opfer zu wehren sucht."
Etwas von der Ambivalenz dieser Situation zeigt das Lied, das in diesem Film eine Rolle spielt: die jeden Ausdruck verweigernde Mädchenstimme und die flotten Trompeteneinwürfe über dem mechanischen Rhythmus:
"Heute scheint die Sonne durch mein Fenster
und mein Herz wird traurig, wenn es die Stadt betrachtet.
Warum gehst du fort?
Wie jede Nacht wachte ich auf und sah auf meiner Uhr die Stunden verstreichen.
Warum gehst du fort?
Alle meine Liebesschwüre werden mit Dir sein, du wirst mich vergessen,
neben dem Bahnhof werde ich weinen wie ein Kind. Warum gehst du fort?"
7) 5040 793 1 Tr. 10 "Porque te vas?" 3'22"
In Sauras Film "Cría Cuervos" - "Züchte Raben" aus dem Jahre 1975 handelt es sich nicht nur um das Porträt einer traurigen Kindheit, sondern auch um eine Metapher des Landes Spanien unter Franco. Eine neue Epoche Spaniens deutet sich an, wenn das Mädchen Ana und seine beiden Schwestern gegen Ende des Films aus dem dunklen Schatten der Erwachsenen heraustreten und das alte Haus verlassen.
Ob es wirklich der Widerschein der Kindheit ist, der in manchen Werken des ewigen Kindes Mozart so unverhofft auftaucht, - dieser scheinbar völlig kunstlose Rückzug auf Motive oder Melodien, die aus irgendeinem alten Liederbuch stammen könnten, - ob Mozart sich dieser Wirkung bewusst war, wage ich nicht zu entscheiden. Vielleicht glauben Sie die folgende Melodie zu kennen, auch wenn Sie die Haffner-Serenade nie gehört haben: was meinen Sie? stammt sie nicht aus der Zeit, als wir uns noch gutgläubig Geschichten haben erzählen lassen von schönen alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat...
8) Abgesang aus dem Andante der Haffner-Serenade
Aber sie steht in einem großen, "wissenden" Zusammenhang. Die himmlische Länge dieses Satzes deutet darauf, dass das schiere Festhalten der Zeit eine Rolle spielt: "Verweile doch, du bist so schön." Die ganze Serenade ist eine Hochzeitsmusik für Elisabeth Haffner, die Tochter des Salzburger Bürgermeisters. Und gehört zur Hochzeit - wie jung auch immer die Beteiligten - nicht auch die Ahnung des endgültigen Abschieds von der Jugendzeit?
Die Süße dieser Musik, ihre Grazie und die chromatischen Gesten der Inbrunst, und dann eben dieser Ausdruck rührender Naivität, wahrhaftig - um diese Kunst wahrzunehmen, müssen normale Sterbliche wie Sie und ich wahrscheinlich viel, viel älter werden als es Mozart vergönnt war.
Das Collegium aureum spielt unter der Leitung von Franzjosef Maier.
9) Andante aus der Haffner-Serenade BAND 6'02" - 15'25"d.h. 9'23"
Das Collegium aureum spielte das Andante, den sechsten Satz aus der Haffner-Serenade von Wolfgang Amadeus Mozart, KV 250, ich finde: immer noch eine außergewöhnliche Aufnahme. Die Leitung hatte der Violinist Franzjosef Maier, ein Pionier der historischen Aufführungspraxis, in den 70er und 80er Jahren neben Nikolaus Harnoncourt einer der bedeutendsten Mentoren, dessen Ideen fortwirken in weltberühmten Ensembles wie Concerto Köln und Musica Antiqua Köln.
Mozarts Oper "Die Hochzeit des Figaro" stellt in ihrer künstlichen Handlungsführung, ihren Intrigen, Täuschungsmanövern, Verkleidungs- und Verwechslungsspielen dem heutigen Geschmack keine leichten Aufgaben. Nehmen wir nur die Figur des pubertierenden Knaben Cherubino, der von einer Frau in Männerkleidern dargestellt und gesungen wird, aber auch schon mal als Frau verkleidet wird, ein Schwindel zweiter Ordnung also, der auf der Bühne entlarvt wird, wobei der Schwindel erster Ordnung bestehen bleibt, allerdings zuweilen Gegenstand feiner Anspielungen wird: wenn die schöne Susanna z.B. "seinen" Arm betrachtet und sagt: "Sein Arm ist weißer als der meine. Er ist wie ein Mädchen...."
Und wenn in der Oper, in der fortwährend gesungen wird, Cherubino plötzlich gewissermaßen "offiziell" ein selbstverfasstes Lied an die Liebe als Gesangssolo vorträgt, während zuvor eine erregte Arie zum selben Thema gewissermaßen real aus ihm hervorgebrochen ist, - all dies sind Dinge, die - wie ich fürchte - in Kürze dem naiven Klassik-Einsteiger in Elternhaus und Schule nicht mehr zu vermitteln sind. Ich beneide die Lehrer von heute nicht! Vermutlich kann man nur über Einzelszenen, die sich jedem empfänglichen Sinn eingraben, auf eine Langzeitwirkung hoffen, die das Interesse am Ganzen hervorbringt.
Meine Damen und Herren, Sie kennen sicher den dummen Spruch: "Ich habe Glück bei den Frauen: mir gefällt einfach jede!"
Aber so ähnlich geht es dem unschuldigen Knaben Cherubino, der allerdings spürt, dass auch die Frauen ihn mögen. Und er erlebt eine erste erotische Krise, eine Dauerkrise: er kann an nichts anderes mehr denken als an Frauen, er fühlt ein beständiges Verlangen, das ihm mal wie Lust, mal wie Leiden vorkommt, mal fröstelt es ihn, mal flammt es auf wie Feuer, - ach, meine Damen und Herren, ich muss es Ihnen ja nicht beschreiben, aber für ihn hier war es ganz neu.
Wie soll man so etwas singen? Zumal wenn es sich um eine der schönsten Melodien handelt, die Mozart ersonnen hat? Auf jedenfall knabenhaft grade heraus und nicht allzu kunstvoll vibriert; naiv, erregt, - aber nicht lächerlich.
So wie hier ganz bestimmt nicht, mit lauter einzeln auftremolierenden Tönen, als gelte es zu zeigen, dass die Stimme gut sitzt.
10) 5036382 Kuijken "Figaro" CD 2 Tr. 2 ab 0'16" bis 0'39"
So in der Gesamtaufnahme Sigiswald Kuijkens (Monika Groop). In Nikolaus Harnoncourts Züricher Gesamtaufnahme klingt es nach reifem, konzentriertem Einsatz von Stimmkunst (Petra Lang), also auch weniger nach einem unerfahrenen, von unbeschreiblichen Gefühlen erfüllten Knaben:
11) 5019923 Harnoncourt "Figaro" CD 2 Tr. 2 ab 0'08" (!) bis 1'16"
Ich habe eine andere Aufnahme mit Harnoncourt in Erinnerung: ....... da begann Cherubino schüchtern, aber mit wachsender Sicherheit, und zugleich schienen die beiden gut aufgelegten Frauen, die ihm zuhörten, von wachsendem Staunen ergriffen, sie wurden ganz still: man erlebte einen magischen Moment, vollkommen erfüllt vom Zauber dieser einen, reinen Melodie.
Und wenn die Gräfin gleich danach sagt: "Bravo, was für eine schöne Stimme! Ich wußte gar nicht, dass Sie so schön singen!"
Und Susanna: "O wirklich, was er macht, macht er alles gut", so klang das nicht alsbald wieder übermütig und belustigt wie in manchen anderen Aufführungen, sondern so, als müssten sie sich mit Mühe von diesem magischen Zauber lösen. Susan Graham sang damals den Cherubino. Unvergesslich!
Können Sie verstehen, dass man dann geradezu sauer ist, wenn man erlebt, wie Cherubino in John Eliot Gardiners Gesamtaufnahme von der Darstellerin selbst (Pamela Helen Stephen) geradezu verspottet wird? Entsprechend oberflächlich ist das Tempo.
12) 5016 344 Gardiner "Figaro" CD 1 Tr. 25 ab Anfang bis 1'22"
Natürlich - sie fasst sich, sie versucht zu sich und zu der Musik zu kommen, aber kann man ihr den Dumme-Jungen-Anfang vergessen? Ich nicht.
Weil die Schönheit der Melodie keinen solchen Spaß verträgt.
Auf der Suche nach einem idealen Cherubino hatte ich erwartet, bei den aktuellen Vertretern der "Aufführungspraxis" am ehesten auf eine glaubwürdig knabenhafte Frauenstimme zu treffen.
Aber wissen Sie, wo ich nun glaube fündig geworden zu sein? Bei Sir Georg Solti, in der Gesamtaufnahme von 1982. Frederica von Stade singt.
13) 5000 098 Solti "Figaro" CD 1 Tr. 12 "Voi que sapete" 2'48" (Achtung: kein Stop an dieser Stelle!)
So einfach ist das. Frederica von Stade sang, das London Philharmonic Orchestra spielte unter Sir Georg Solti. So einfach ist das, und wieviel Kunst gehört dazu! Wieviel Mut allein, den naiven Überschwang in einem einzigen Glissando überborden zu lassen:
(andeuten!)
Meine Damen und Herren, eine ähnlich rastlose Wanderschaft durch die verschiedenen Tonarten wie in Mozarts Cherubino-Arie erleben wir bei Franz Schubert, und ganz besonders, wenn von der Wanderschaft die Rede ist. Ich habe lange Zeit sein wunderbares Lied "Der Wanderer an den Mond" mißverstanden: ich fand die ersten beiden Strophen erschütternd, so tapfer dahinschreitend, zugleich von untergründiger Verzweiflung getrieben, und da erschien mir der Schluss als allzu billiger Trost. Mir war nicht aufgefallen, dass das Wort "ich" verschwindet! Da ist nur noch der Mond und der Himmel, "endlos ausgespannt", und die Vision des Glücks, das dem zuteil wird, der, "wohin er geht, doch auf der Heimat Boden steht"; die glückliche Musik, die dazu erklingt, hat nichts zu tun mit dem Befinden dieses Heimatlosen, der da wandert.

14) 5023 604 1 Schubert /Andreas Schmidt Tr. 6 "Der Wanderer a.d. Mond" 2'33"
Und der Abschluss des Klaviers klingt harmlos wie ein Kinderlied, - lebewohl, winke-winke... Das ist herzzerreißend, nicht weniger als am Ende der Oper Wozzeck von Alban Berg, wenn das schreckliche Drama vorüber ist und das Kind mit dem Steckenpferd über die Bühne hüpft: "Hopp hopp, hopp hopp."
Andreas Schmidt war der Sänger des Schubert-Liedes: "Der Wanderer an den Mond", am Klavier war Rudolf Jansen.

Das Schlimme an der Liebe ist ja auch, dass die, die es am schlimmsten erwischt hat, sich oft genug wie kleine Kinder gebärden und einfach nicht mehr ganz ernst zu nehmen sind, erst recht nicht vom Gegenstand ihrer Anbetung.
Auch wenn wir heute nirgendwo mehr eine Windmühle arbeiten sehen und keine Müllergesellen, die sich emsig daran zu schaffen machen, wir verstehen sofort, was gemeint ist, wenn einer sich vor allen hervortun will: es geht darum, daß "die schöne Müllerin / merke" seinen "treuen Sinn".
Was für eine wunderbar naive Szene, wenn dann am Abend der Meister zu allen spricht, ihre Arbeit habe ihm gefallen, .... "und das liebe Mädchen sagt - allen eine gute Nacht." Und das Wörtchen "allen" ist der Stachel, der den ganzen Aufruhr noch einmal in Gang setzt.

15) Schubert "Müllerin" Prégardien Tr. 5 "Am Feierabend" 2'38"
"Am Feierabend". Es ist das 5. Lied aus Franz Schuberts Zyklus "Die schöne Müllerin", gesungen von Christoph Prégardien, mit Andreas Staier am Hammerflügel.
Meine Damen und Herren, - natürlich ist das eine naive Szene, - aber - wer ist naiv? Der Sänger doch wohl nicht, der sie so getreu wie möglich wiedergibt. Etwa der Dichter? Er heißt Wilhelm Müller, aber sein Ich ist nicht identisch mit dem des Müllerburschen. Und erst recht nicht Franz Schubert, der all dies in musikalisches Leben verwandelt.
Also: warum interessieren sie sich, warum interessieren wir uns immer noch für das in Verse gefasste "naive" Innenleben eines Müllerburschen?
Ich glaube, es ist so: Wir prosaischen Alltags-Menschen brauchen einen Vorwand, um uns in ein lyrisches Ich zu verwandeln. Das lyrische Ich aber darf naiv sein, es argumentiert nicht, es spricht ohne Wenn und Aber, ohne Weil und Folglich, es verstellt sich auch nicht: und auch der Sänger eines Liedes, in dem das lyrische Ich sich ausspricht, stellt keine Rolle dar; er identifiziert sich mit einer seelischen Befindlichkeit. So kann ein Bassist ohne weiteres die Lieder der Mignon singen, sofern er nicht versucht, das Mädchen äußerlich zu imitieren. Er hat nicht ihre Mimik, er bewegt sich nicht wie sie, aber er sieht die Welt wie sie. Das Singen eines Liedes bedeutet nicht Imitation, sondern Imagination, daher sehen gute Liedersänger in Aktion auch oft wie Seher oder Visionäre aus, bezeichnenderweise nicht mit strengem Prophetenblick, sondern eher mit staunenden Kinderaugen. Und dazu gehört auch, dass man alle Bestandteile der Welt, die die Illusion stören könnten, ausschließt: es bleiben nur die genannten Dinge und Gefühle, ob bejaht oder verneint: ob Blume, ob Stern, keine Blume, kein Stern, mein Herz, das Bächlein, die Liebe, nein, und all dies auch wieder nicht, - nur zwei Wörtchen, die die ganze Welt in sich einschließen. Aus: Die schöne Müllerin" von Franz Schubert. Dieses Mal singt Fritz Wunderlich, begleitet von Hubert Giesen.
16) Schubert / Wunderlich "Schöne Müllerin" Tr. 6 "Der Neugierige" 3'43"
"Der Neugierige" aus Franz Schuberts Liederzyklus "Die schöne Müllerin", gesungen von Fritz Wunderlich mit Hubert Giesen am Flügel.
Zur Naivität des lyrischen Ich gehört die fiktive Unschuld des kleinen Liedes. Es kann uns nicht durch Räsonnieren oder Beweisführung überzeugen, sondern durch eine Melodiebewegung, die sich von selbst versteht, als sei sie ein Naturgebilde und nicht vom kritischen Komponistenverstand ersonnen. Daher ihre Strophenbildung, die Wiederholungen, der motivische Reim, der Umschlag des Gleichen von Dur nach Moll oder umgekehrt.
Ich sage "fiktive" Unschuld, weil der Komponist natürlich in Wahrheit seine Schuldigkeit tut und all seine Kunst in diese nur scheinbar einfachen Gebilde steckt. So wie auch das lyrische Ich nicht mit seinem Gegenüber verschmelzen könnte, wenn auch nur ein einziges falsches Wort das Glück oder das Gleichgewicht stören würde.
Sie kennen das:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde ------
ja, und --- ? - wie heißt es denn nun?
Ruhest du auch------
oder
Ruhest auch du ???
Es muß sich auf "Hauch" reimen, und darf nicht so pointiert klingen, also:

In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
ruhest du auch.
Ich möchte Ihnen eine Szene andeuten, die von echter Naivität durchdrungen ist:
Und es kommt nicht auf den Sitz jedes Wortes an und die Melodie ist so robust, daß sie Generationen überdauert.
Nord-Afghanistan, eine bekannte Musikergruppe aus Balkh ist nach Mazar-e-Sharif gekommen, um für uns zu singen.
Da ist das bärtige Prophetengesicht Baba Qerans, er schlägt die Laute Dambura, sein Altersgenosse Baba Nur spielt, freundlich-verschmitzt lächelnd - das Streichinstrument Ghichak, der versierte Bangicha, der sich weit und breit in den Bazars auskennt, spielt die Zerbaghali-Trommel, während sein kleiner Schüler Hamidullah die Zimbeln schlägt. Und sie singen von einer Art Nachtigall, dem Bulbul, dem "Steinknacker-Vogel", sie singen von sich selbst und von vielen Dingen ihres Dorfes, in alten und in neu erfundenen Versen.
16) Afghanistan Network (28) Tr. 9 "Bulbul" (7'07")
folgende Textzeilen nach Bedarf drüber:

"Spiel mal, Baba Qeran, Melodien aus Tashqurgan, allen gefällt dein Instrument, den Alten und den Jungen!" -
"Baba Nur ist unser Ghichakspieler; er beherrscht sein Instrument sehr gut!" -
"Wir sitzen hier auf dem Podest ganz friedlich zusammen. Er spielt sehr gut Trommel, hoffentlich tut es seinen Fingern nicht weh!" -
"Stimmen wir unsere Dambura, singen wir von Herzen. In unserm Dorf Tashqurgan gibt es sehr gute Sahne." -
"Ich singe immer weiter, damit mein Herz ruhig wird. Rundfunkaufnahmen haben wir gemacht, heute in der Stadt Mazar." -

(Musik hoch)

Ein solches Lied ist in seiner robusten Naivität unantastbar: es ist im Einklang mit dem gesellschaftlichen Leben der Dörfer dieser Region, so nimmt man teil, daran freut man sich, so feiert man sich selbst.
Auf einer anderen Ebene des Bewußtseins aber findet das lyrische Einverständnis mit der Welt statt, und manchmal leuchtet es nur für Momente auf. Zum Beispiel in dem folgenden irakischen Gesang, in dem die Melodiebewegung, die der Sänger doch selbst formt, ihn davongetragen hat in tonale Regionen, in denen ihm selbst nichts anderes bleibt als kindliches Staunen.

17) 3009201 Maqam Awj (Ausschnitt) von 3'29" bis 8'55" = 5'26"
Der irakische Sänger Salah Abdul Ghafur und das Ensemble Djalghi Bagdadi, eine WDR-Aufnahme vom 12. Juli 1977.
Sie hören Musikpassagen auf WDR 3, heute mit J.R.
Meine Damen und Herren, auch im Variationensatz der Klaviersonate op. 109 von Ludwig van Beethoven können Sie alle Höhenlagen der menschlichen Seele erleben, von rührender Einfachheit bis zu namenloser, ekstatischer Freude. Ich möchte nur zwei Variationen herausgreifen: die erste zeigt stürmische Freude, die andere ein fließendes Girlandenwerk, - wie Finger, Hände, Arme, die sich verschränken, nein, - es ist vielleicht grotesk: ich denke an Flamingos, die ihre Hälse umeinanderschlingen, kurz ein etwas künstliches Figurengewebe, aber dann ist plötzlich der Moment des Mysteriums da, - dies wäre er:
18) Beethoven Klaviersonate op. 109 E-dur 5033 476 1 Tr. 4 7'41" - 8'16"
Es ist also auch gleich wieder vorbei, Rückführung in die Normalität, vielleicht haben Sie gar nichts bemerkt, - auch das ist ein Grund, weshalb man sich nicht einfach eine Sammlung schöner Stellen anlegen kann: der Zusammenhang des Ganzen ist von entscheidender Bedeutung. Hier beginnt nun die Variation der atemlosen Freude, dann folgen die verschlungenen Hände, dann - der mystische Augenblick. Maurizio Pollinis Größe als Pianist zeigt sich, indem er darin nicht badet, sondern mit Hilfe eines steten Tempos den Blick auf das Folgende und das Ganze wahrt.
Und trotzdem: atemlose Freude!

19) Beethoven Klaviersonate op. 109 E-dur 5033 476 1 Tr. 4 5'37" - 8'16"
Aus Ludwig van Beethovens Klaviersonate op. 109, E-dur. Sie werden die ganze Sonate in Maurizio Pollinis Interpretation gegen Ende der heutigen Musikpassagen hören.
Ob Freude immer einen Grund haben muss, weiß ich nicht genau. Tanzen die Leute, weil die Musik spielt? Oder bestellen sie Musik, weil sie tanzen wollen?
Das Wort "Freude" hängt mit dem Wort "froh" zusammen, und dies (frôr) bedeutet ursprünglich "hurtig" und "lebhaft", es hat also mit schneller Bewegung zu tun, "frohlocken" bedeutete ursprünglich wohl "vor Freude springen".
Vergessen wir darüber nicht, dass es auch eine "stille Freude" gibt, die des Einsamen, deren äußerster Grad die "Verzückung" ist.
Aber unter "naiver Freude" verstehen wir im allgemeinen eine äußerst kommunikationsfreudige Haltung, die nicht unbedingt einen Grund haben muss und daher leicht in sich zusammenbricht. Die Musik allerdings bietet einen dauerhaften Grund, sie vermag uns selbst bei Müdigkeit zu freiwilligen rhythmischen Bewegungen zu verleiten und vermag die lärmende Kraftentfaltung trunkener Zecher in dionysische Freudentänze verwandeln.
Beethoven schrieb am 10. Februar 1811 an Bettina Brentano:
Ich komme diesen Morgen um vier erst von einem Bacchanal, wo ich sogar viel lachen mußte, um heute beinahe ebensoviel zu weinen. Rauschende Freude treibt mich oft gewalttätig wieder in mich selbst zurück.

In dieser Zeit arbeitete er an der 7. Sinfonie, deren letzter Satz mit einem Bacchanal verglichen wurde und enorm ansteckend wirkt. Und ich werde dafür sorgen, dass wir anschließend nicht wieder "gewalttätig in uns selbst zurückgetrieben werden", obwohl Wagners "Siegfried" schon mit dem Schmiedehammer bereitsteht. Aber vorher haben wir noch einiges zu erleben.
Wir begeben uns für rund 20 Minuten in die seltsamsten Orte und Oasen der Freude, in Zelte, Spelunken, Tempel und Straßen, die von bacchantischem Treiben erfüllt sind.

20) Okay Temiz "The Zurna Project" Tr. 2 2'35"
21) Irish Pub ca. 4'
22) Serbische Blasorchester ca. 4'
23) Hindutempel ca. 3'
24) 5013 192 Tr. 4 Beethoven Finale 7. Sinfonie WDR/Neeme Järvi 6'45"
Sie befinden sich in den Musikpassagen auf WDR 3, heute mit J.R. Und das war zuletzt das Finale aus Beethovens Siebenter Sinfonie in A-dur mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Neeme Järvi, davor erklang Musik aus einem Hindutempel in Sri Lanka, sie hatte den fröhlichen Wettstreit der serbischen Blasorchester im Festzelt zu Guca abgelöst. Noch eins zurück: das war in einem irischen Pub in Dublin: Lovely! Die Fiddlerin Maureen Fahy mit Patsy Broderick am Klavier und noch einigen Freunden, das ist lange her, ein WDR-Aufnahmegerät lief mit, 12. April 1983. Und am Anfang dieses Blocks hörten Sie den türkischen Perkussionisten Okay Temiz mit einer Kostprobe aus "The Zurna Project": das ist ziemlich neu und wird demnächst beim Traumzeit-Festival in Duisburger Landschaftspark Nord vorgestellt, - um ganz genau zu sein:
beim WDR3-Nachmittag am 8. Juli. Wenn Sie nähere Informationen wünschen, schreiben Sie uns unter dem Stichwort "Traumzeit". Das WDR-Konzert in der Gießhalle bietet neben dem Zurna-Projekt - die Zurna haben sie eben gehört, das ist die orientalische Open-Air-Schalmei, für die kein Sound-System hätte erfunden werden müssen, nur eine Riesen-Percussion wie die von Okay Temiz ist ihr gewachsen - also neben und nach dem Zurna-Projekt folgendes: der Herzschlag kubanischer Rhythmen mit der Stimme von Maria Ochoa, unser neuester Tribut an die Kuba-Mania, aber dann die Wiederkehr der japanischen Straßen-Zikaden, und das ist eine ziemlich unglaubliche Mischung aus Balkan und Japan. Cicala Mvta (muta?) "die stumme Zikade" auf italienisch, dieses Wort stand auf dem Grabstein des berühmtesten japanischen Straßensängers der 20er Jahre, dem das Singen unter Androhung von Gefängnis verboten worden war. Hinter dem Namen "Cicala Mvta" verbirgt sich heute der japanische Klarinettist Wataru Okhuma mit seinem Ensemble. Und eine Musikmischung, die aus allen Himmelsrichtungen angeflogen kam.

25) CICALA MVTA Tr. 2 "Punku Mancha No Odori" 4'45"
"Cicala Mvta" - die Wiederkehr der japanischen Straßen-Zikaden, eine ganz schön irritierende Musikmischung auf der Grundlage japanischer "Ching Dong"- Musik, mit der früher auf die Eröffnung neuer Läden oder Spielhöllen aufmerksam gemacht wurde, und da griff man alles auf, was an aktuellen Einflüssen kursierte, von Rock bis Klezmer.
Meine Damen und Herren, wenn Sie meinen, dass es eine zweischneidige Sache sei, sich am schmiedenden Siegfried zu begeistern, haben Sie völlig recht, - obwohl er mit seiner Naivität in den von purer Fitness besessenen Teil unserer Gesellschaft ganz gut passen würde. Und wenn er nicht so opernhaft redselig wäre, könnte er sogar einen guten Gesprächspartner für Slatko abgeben. Bloß keine Theorie! Allerdings ist er kein modisches Medienprodukt, sondern eine mythologische Natur-, Kraft- und Lichtgestalt. Wir beobachten ihn nicht ohne Nachsicht, weil wir wissen, dass er als großes Kind letztlich an seiner Torheit scheitert und von Gestalten wie dem ruhelosen Wanderer, dem düsteren Hagen und der starken Frau Brünhilde drastisch relativiert wird.
Wir wissen allerdings auch, daß der bösartige Zwerg Mime, der ihn umwieselt, zu den antisemitisch motivierten Figuren des Rings gehört, wobei es Wagner unmöglich entgangen sein kann, dass er selbst eher Mime als Siegfried ähnelte. Theodor W. Adorno hat das zu Beginn seines "Versuchs über Wagner" sorgfältig analysiert.

Meine Damen und Herren, es ist leicht, sich über Siegfried zu mockieren und nebenbei über Wagner den Stab zu brechen, - meistens geschieht das aber weit unter Wagners Niveau. Ich würde jedem empfehlen, sein Urteil auszusetzen, bevor er nicht wenigstens die beiden klassischen Essays gelesen hat, die sich mit Wagners Ambivalenz auf höchstem Niveau auseinandersetzen: den "Versuch über Wagner" von Theodor W. Adorno und "Leiden und Größe Richard Wagners" von Thomas Mann. Dieser schrieb:
"Jede Kritik, auch die Nietzsches [an Wagner], neigt dazu, die Wirkungen einer Kunst als bewußte und berechnende Absicht in den Künstler zurückzuverlegen und die Idee des Spekulativen zu suggerieren - sehr fälschlich, ganz irrtümlich und gerade, als ob nicht jeder Künstler genau das machte, was er ist, was ihn selber gut und schön dünkt -, als ob es ein Künstlertum gäbe, dessen Wirkungen ihm selber ein Gespött und nicht zuerst auch Wirkungen auf ihn, den Künstler, gewesen wären! Möge Unschuld das letzte Wort sein, das auf eine Kunst anwendbar sei, - der Künstler ist unschuldig." (S. 264) Thomas Mann.

Ist aber nicht jeder, der sich ungebrochen der eigenen Kräfte freut, bereits im Begriff, schuldig zu werden? Wir gleichermaßen, wenn wir die folgende Szene mit wachsender Freude beobachten, da Siegfried etwas Großes leistet - im Solinger Klingenmuseum kann man per Knopfdruck diese Szene wieder und wieder hören -, und Mime darf währenddessen ungestraft böse Pläne schmieden - "in höchster Verzückung" malt er sich aus, dass der tumbe Held ihm zur Herrschaft verhelfen und obendrein mit dem von Mime gebrauten Giftsüppchen rechtzeitig sein Leben aushauchen wird. Die Rechnung geht nicht auf. Aber hier ist es ja auch noch nicht so weit: Wenn Siegfried am Ende seiner Arbeit den Amboss in zwei Teile spaltet, fällt Mime lediglich vom Hocker.
26) Wagner Siegfried CD 2 Tr. 4 ab 8'19" (Neueinsatz nach Pause!) (8'27")
Forts. Tr. 5 5'44"
Sir Georg Soltis unvergleichliche Aufnahme aus dem Jahre 1962 mit den Wiener Philharmonikern, mit Wolfgang Windgassen als Siegfried und Gerhard Stolte als Mime. Meine Damen und Herren, was auch immer Sie über Siegfried und über Wagner denken, - muss man nicht zumindest den rein musikalischen Ausdruck immenser Freude - unschuldig nennen? Oder nur, wenn der Gegenstand der Freude ein anderer wäre? Statt des Schwertes mit Namen Notung etwa eine Pflugschar? Was hülfe denn die, wenn auf der andern Seite ein Drache steht? Und das ganze ein Drama werden soll? Die schlagende Wirkung dieser Musik ist unwiderstehlich. Und man beweist keine Sensibilität, wenn man auf Hammerschläge allergisch reagiert.
Immerhin steht jeder einzelne Hammerschlag in einer von Raffinesse geprägten Partitur. Aber wie wärs nun mit dem Ausdruck der Freude ganz ohne Hammerschläge? Meine Damen und Herren, Anfang Mai habe ich in den Musikpassagen zwei Sätze aus Olivier Messiaens monströsem Lied der Liebe gespielt, aus der Turangalîla-Sinfonie, und habe dabei aufmerksam gemacht auf ein Konzert, das im Rahmen der Triennale in der Kölner Philharmonie stattfinden würde. Das Boston Symphony Orchestra spielte am 7. Mai unter der Leitung von Seiji Ozawa die Turangalîla-Sinfonie von Olivier Messiaen, - es wurde ein unglaubliches, frenetisch gefeiertes Konzert: Was für ein Klang, was für eine Präzision, was für eine Konzentration! Man sah, hörte und fühlte es, und es wäre ungerecht den Dirigenten Ozawa oder den Klaviersolisten Pierre-Laurent Aimard hervorzuheben, die mit der Musik eins zu schienen und keines Notentextes mehr bedurften. Aber nun erst das Orchester! Es ist der Sinfonie ja seit ihrer Entstehung verbunden ist - Serge Kussewitzki hatte sie 1945 für das Boston Symphony Orchestra bestellt, unter Leonard Bernstein wurde sie 1949 von diesem Orchester uraufgeführt - und die nachgefolgten Generationen beherrschen immer noch jeden Winkel dieser schwierigen Partitur.
Ich möchte Ihnen zwei Sätze aus dem WDR-Mitschnitt dieser Aufführung vorspielen, sie erzählen von den Freuden der Liebe: "Jardin du sommeil d'amour" - "Der Garten des Schlafs der Liebe" weiß von der zarten, geistigen Liebe, eine langgezogene Melodie der Ondes Martenot, - des einstimmigen elektronischen Tasteninstruments -, ausgeschmückt mit Vibraphon- und Glockenspielklängen und den Vogelstimmen des Klaviers.
Der andere Satz, im Original geht er diesem voraus, spricht von der Freude der physischen Leidenschaft: "Joie du sang des étoiles" - "Freude des Bluts der Sterne".

27) Messiaen "Turangalîla" Satz 6 "Jardin du sommeil d'amour" 11'15"
ab 32'44" Satz 5 "Joie du sang des étoiles" 6'40"
Es scheint merkwürdig, dass Messiaen ein solches Werk, ein gigantisches "Lied der Liebe", unmittelbar nach dem Erlebnis des Zweiten Weltkrieges geschrieben werden konnte, merkwürdig aber nur dann, wenn man an das erratische "Quatuor pour la fin du temps" denkt, das er 1941 im deutschen Gefangenenlager geschrieben und aufgeführt hat. Charakteristisch für sein Bild der Welt um 1945 sind aber Titel wie "Liturgien der göttlichen Allgegenwart" oder "20 Blicke auf das Jesuskind". Er war ein katholischer Mystiker und blieb es bis hin zu seinem letzten großen Werk, der Oper über Franz von Assisi, den großen Heiligen, mit dem ihn der kindlich-fromme Blick auf Gott, Mensch und Tier verband.
Und gerade in der Hoch-Zeit der Neuen Musik, die dem Komponisten Messiaen entscheidende Impulse verdankt, gibt es ratlose Kommentare wie den von Hans Heinz Stuckenschmidt zur Turangalîla-Sinfonie:
"Verblüffender Könnerschaft in der Ausnutzung einer überreichen Klangpalette steht die bisweilen erschreckende Wahllosigkeit des melodischen Materials gegenüber; streng berechnender Konstruktion widerspricht die zügellos-wollüstige Gestaltung der Liebesszenen mit ihrem schmachtenden Fis-dur." (Schöpfer S. 223)

Meine Damen und Herren, wenn Sie naiv genug sind, noch mehr davon zu wollen, viel mehr sogar, dann notieren Sie sich doch einfach den Sendetermin der Triennale-Aufführung, aus der Sie eben zwei Sätze gehört haben: eine bessere Interpretation der Turangalîla-Sinfonie von Olivier Messiaen werden Sie so bald nicht wieder erleben:
Samstag, 2. September, 20 Uhr auf WDR 3: das Boston Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa mit Pierre-Laurent Aimard am Flügel, Takashi Harada an den Ondes Martenot.


Sie hören die Musikpassagen auf WDR 3, heute mit J.R
Es wundert uns kaum, dass eine Sinfonie, die von der Liebe erzählt, kein Ende nehmen will; und wenn Turangalîla tatsächlich, wie Messiaen gesagt hat, mit dem Tristan-Stoff zu tun hat, so unterscheidet sich seine Behandlung von der Wagners dadurch, dass der Tod darin keinen Platz hat. Tristan und Isolde, unschuldig-schuldig in das "Tagesgeschehen" verstrickt, wollten nichts als das Ende des grausamen Tages, das Ende aller Tage.
Das Christentum - hat Wagner das nicht gewusst? - hält dagegen - in gleichsam kindlicher Naivität - kein Ende, - kein Ende:
"O der großen Freud und Wonne! Jetzo gehet auf die Sonne, jetzo gehet an der Tag, der kein Ende nehmen mag. Ach ich habe schon erblicket alle diese Herrlichkeit; jetzo werd ich schön geschmücket mit dem weißen Himmelskleid und der güldnen Ehrenkrone, stehe da vor Gottes Throne, schaue solche Freude an, die keine Ende nehmen kann." (EKG Lied 326)

Kein Ende? Das ist neu! Die Mythologie wusste es anders.
Die Antike erzählte von dem schönen Knaben Adonis, der durch einen wilden Eber tödlich verwundet wurde; von dem wunderbaren Sänger Orpheus, der Menschen und Tiere bezaubert hatte und schließlich doch von den Mänaden zerrissen wurde... Auch das Schöne muß sterben! Sie wissen, dass der kraftvoll lärmende Siegfried sein Leben früh verwirkt hatte genau wie Achill vor Troja.
"Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt." dichtete Friedrich Schiller. ("Nänie")
Und bis in unsere Tage wirkt diese Bilder fort, so bei Georg Trakl, der Kaspar Hauser, den kindlichen Fremdling, mit biblischen Worten bedenkt:
"Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg, Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel und die Freude des Grüns", aber schließlich sah er "im dämmernden Hausflur den Schatten des Mörders. Silbern sank des Ungebornen Haupt hin."
(Trakl S. 113)

Es sind vor allem die Schuldlosen, Reinen, Unerfahrenen, Naiven, die Jungen, deren vorzeitigen Tod alle irgendwie schuldhaft Überlebenden beklagen, da ihnen nunmehr kein Hoffnungsschimmer bleibt. Aber auch der reife Sokrates gehört dazu, der Vortreffliche, der den Schierlingsbecher trinken musste und naiv genug war, es auch noch zu wollen.
Und dann natürlich: Jesus, der ein junger Mann war, als er starb, unschuldig wie kein anderer, er wird zum Paradigma aller Paradoxe: er stirbt und will sterben, weil sein Tod allen Menschen das Leben bringen soll. Er stirbt aus Liebe.
28) Bach "Aus Liebe will mein Heiland sterben" 5'28"
Barbara Schlick, Sopran, mit der zentralen Arie aus der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach, Mitglieder des Amsterdam Baroque Orchestra unter der Leitung von Ton Koopman.
Im Sommer 1812 schrieb Ludwig van Beethoven ein wunderschönes Stück für Klaviertrio, das er einem Kinde widmete, Maximiliane von Brentano, genannt Maxe, es muss dasselbe Mädchen gewesen sein, das er - wie Carl Czerny berichtete -, bisweilen neckte und das ihm, "als er eben sehr erhitzt war, in kindischem Muthwillen eine Flasche eiskaltes Wasser unversehens über den Kopf schüttete." Beethoven war ein vertrauter Gast im Hause Brentano, wohnte dort oft Quartettaufführungen bei "und erfreute selber öfters seine Freunde durch sein herrliches Spiel", berichtet Vater Brentano, und dessen Kinder brachten dem Komponisten zuweilen Obst und Blumen in die Wohnung, während Beethoven ihnen Bonbons schenkte und stets große Freundlichkeit zeigte.
Maximiliane war zudem eine begabte Klavierspielerin, und über den folgenden Satz schrieb Beethoven: "...für meine kleine Freundin Maxe Brentano zu ihrer Aufmunterung im Klavierspielen..."
29) Beethoven Klaviertrio-Satz WoO 39 B-dur 5'07"
"...für meine kleine Freundin Maxe Brentano zu ihrer Aufmunterung im Klavierspielen..." Beethovens Klaviertriosatz B-dur 26. Juni 1812, überliefert als Werk ohne Opuszahl Nr. 39, hier gespielt vom Abeggtrio.
Maximilianes Mutter, Antonie Brentano, war, wie Maynard Solomon in detektivischer Arbeit glaubwürdig nachgewiesen hat, niemand anders als Beethovens "unsterbliche Geliebte", eine nicht mit Namen genannte Frau, der Beethoven die leidenschaftlichsten Briefe seines Lebens geschrieben hat. In Tagebüchern und Notizen erscheint sie mit dem Buchstaben T., - und Antonie Brentano wurde im Freundeskreis "Toni" genann, eine unerlaubte Liebe, die ohne happy end geblieben ist. Aus dem Jahre 1817 gibt es folgende Notiz Beethovens:
"Nur Liebe - ja nur Sie vermag dir ein glücklicheres Leben zu geben. O Gott laß mich sie jene endlich finden die mich in Tugend bestärkt die mir e r l a u b t mein ist.
Baaden, am 27ten Juli Als die M. vorbeifuhr und es schien als blickte sie auf mich." (Solomon S. 204)
Wer war M.? Es kann nur Maximiliane gewesen sein, die Tochter, die in Beethoven das Bild der Mutter aufsteigen ließ. (s. Solomon S. 204) Mutter und Tochter, Antonie und Maximiliane Brentano waren die einzigen Frauen, denen Beethoven nach 1820 noch Werke widmete. Und zur Sonate in E-dur op. 109 schrieb er Maximiliane den vielsagenden Brief, der so beginnt:
"Eine Dedikation!!!! - Nun es ist keine, wie dergleichen in Menge gemißbrauchet werden. - Es ist der Geist, der edlere und bessere Menschen auf diesem Erdenrund zusammenhält und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht und der Sie mir noch in Ihren Kinderjahren gegenwärtig zeigt, ebenso Ihre geliebten Eltern.... usw. Zugleich schreibt er einen Brief an Maxes Vater, er möge doch "dieser Dedikation keine üble Deutung auf irgendein Interesse oder gar auf Belohnung" geben.
(Schon vorher die Anspielung auf die Kinderjahre klingt merkwürdig demonstrativ, da Maximiliane jetzt 20 ist und in diesem Punkt nicht der Belehrung bedarf!).
Und die Sonate redet von nichts anderem als von der Zeit, die den Geist nie und nimmer zerstören soll, vielleicht redet sie auch von Liebe, vielleicht sogar von Maximiliane selbst oder von ihrer Mutter.
Die Sonate endet jedenfalls mit einem Variationensatz, der die Persönlichkeit eines rührenden Themas zur Entfaltung bringt, ein Satz, der am Ende die Melodie in unerhörten, nicht enden wollenden Trillerketten - wie Jürgen Uhde sagt - "zu utopischem Ausdruck potenziert. Die Extreme berühren sich, man kann nicht entscheiden, ob eine solche Dissonanz den höchsten Schmerz oder die höchste Lust symbolisiert." Und dann - sagt Uhde - beginnt das "Nachleuchten", das Thema nimmt Abschied: "Wie es am Anfang stand, so wartet es am Ende und bestätigt damit seine dauernde Gegenwart." Der Schlußtakt klingt, "als setze sich die Musik im Unhörbaren fort."
Maurizio Pollini spielt die Klaviersonate in E-dur op. 109 von Ludwig van Beethoven.
30) Beethoven Sonate op. 109 17'55"
Der Schlußtakt klingt, "als setze sich die Musik im Unhörbaren fort." Maurizio Pollini spielte die Klaviersonate in E-dur op. 109 von Ludwig van Beethoven. Wenn irgendwo das Wort einen Sinn macht, dann hier: "Namenlose Freude". --- Namenlos?
Ich habe vorhin von der Persönlichkeit dieses Themas gesprochen, das vielleicht mit der Widmungsträgerin der Sonate, Maximiliane Brentano, vielleicht auch mit ihrer Mutter, der "unsterblichen Geliebten" zu tun hat. Wenn man das Thema und seine Variationen gehört hat, ist man vielleicht geneigt zu sagen: so klingt ein Mensch, ein richtiger Mensch, keine "Persönlichkeit", die immer etwas naturwüchsig, bräsig sich Behauptendes an sich hat. Adorno hat über dies Wort eine treffende Glosse geschrieben, die mit den Worten endet:
"Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlichkeit, aber auch nicht unter ihr, kein Reflexbündel, sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: 'Drum so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!'"
(Adorno "Stichworte" S. 56)

Es gibt allerdings auch Leute, die sagen: all dies hat doch mit Musik wenig zu tun, Musik besteht aus schönen tönenden Strukturen. Ich gebe sofort zu: das stimmt, aber diese Seite ist im Radio nicht gut darstellbar. Oder soll ich Ihnen vorlesen, dass der erste Satz der Sonate das starke Interesse widerspiegelt, "das Beethoven zu dieser Zeit an Strukturen hatte, die parenthetisch von kontrastierenden Abschnitten eingeschlossen sind"? (Beethoven-Interpretationen II S. 163)
Selbstverständlich, darüber kann man nachdenken, wenn man die Noten vor sich hat, und Beethoven hat ja offensichtlich seine ganze Kunst hineingelegt.
Aber glauben Sie wirklich, es sei für die Wahrheitsfindung wichtig, Maximiliane Brentano auszuschließen?
Hat Beethoven wirklich existiert? Oder nur sein Geist, der damals unzerstörbar schien?
(Fill-up-Musik beginnt:
Messiaen "Turangalîla" Satz 6 "Jardin du sommeil d'amour")

Das waren die Musikpassagen auf WDR 3. Wenn Sie Fragen haben, wenn Sie die erwähnten Festival- oder Sendetermine nicht mitbekommen haben, weiterführende Literaturhinweise wünschen, unser Hörertelefon steht Ihnen zur Verfügung, nennt Ihnen die Termine oder leitet Ihre Fragen an die Redaktion weiter.
In der Technik war N.N. für ca. 60 gelungene Aktionen zuständig, Andrea Friedrich war als Produktionsassistentin maßgeblich beteiligt, am Mikrofon verabschiedet sich J.R.
(Fill up hoch)

Zitierte Literatur
  • Jürgen Uhde
    Beethovens Klaviermusik III
    Reclam Stuttgart 1991
  • Joachim Kaiser
    Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten
    Frankfurt am Main 1979
  • William Kindermann
    Klaviersonate E.Dur op. 109
    in: Beethoven Interpretationen seiner Werke, Band 2 (Hg. Riethmüller, Dahlhaus, Ringer)
    Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996
  • Thomas Mann
    Leiden und Größe Richard Wagners
    in: Leiden und Größe der Meister
    Frankfurt am Main und Hamburg 1957
  • Georg Trakl
    Die Dichtungen
    Salzburg 1938
  • Theodor W. Adorno
    Glosse über Persönlichkeit
    in: Stichworte
    Frankfurt am Main 1969
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WDR 3 Musikpassagen 28. Juni 2000 Naivität und namenlose Freude