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Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > WDR 3 Musikpassagen 14. November 2001 Bleibende Substanz

WDR 3 Musikpassagen
Bleibende Substanz, wandelbare Deutung?
Ein paar Vergleiche
1 Doppelt schöne Müllerin: Fritz Wunderlich und Christoph Prégardien singen Schubert
2 Der schwere Bach wird leicht: Von Henryk Szeryng zu Christian Tetzlaff
3 Der späte Beethoven: In Pollinis Obhut, in Mustonens Gewalt
4 Sonia M'barek und Farida: Zwei starke Frauenstimmen aus der arabischen Welt


Sendung am 14. November 2001 von 15:05 bis 17:00 Uhr
Skript der Sendung / Moderation: Jan Reichow
Redaktion: Jan Reichow


(MP Jingle)
Am Mikrofon begrüßt Sie J.R., - meine Damen und Herren, was uns an klassischer Musik begeistert, ist nicht leicht zu beschreiben: "Die schöne Müllerin" z.B., - was gehn uns diese alten Weisen an? Natürlich - die Liebe gibt es wohl immer noch, - aber glauben Sie, dass unglücklich verliebte junge Leute sich auch heute noch darin wiedererkennen?
Der wandernde Müllerbursche hat Arbeit in der Mühle gefunden, er verliebt sich die Tochter des Müllers und schwankt zwischen Hoffnung, Zuversicht und Glück. Davon erzählen 14 der 20 Lieder, dann aber taucht der Jäger auf: mit wilder Eifersucht beginnt der psychologische Absturz des Müllerburschen.

1) Die schöne Müllerin / Prégardien Tr. 14 "Der Jäger" 1'05"
2) Die schöne Müllerin / Prégardien Tr. 15 "Eifersucht u. Stolz" 1'29"
Das ist hinreißend gesungen: Der Bach ist also angesprochen, er soll der Müllerin eine Botschaft überbringen. - es passt nicht für ein sittsames Kind, sich den Hals nach dem Jäger zu verrenken! Natürlich, das sind - aus heutiger Sicht - weltfremde Vorstellungen. Aber vertraut klingt das!
"Geh, Bächlein, hin und sag ihr das; doch sag ihr nicht,
Hörst du, kein Wort von meinem traurigen Gesicht.
Sag ihr: Er schnitzt bei mir sich eine Pfeif' aus Rohr
Und bläst den Kindern schöne Tänz' und Lieder vor.
Sag ihr's! Sag ihr's! Sag ihr's!"
Haben Sie diese rührende Mollwendung bei dem "traurigen Gesicht" wahrgenommen? Natürlich. Aber ... sie ist allzu schnell vorbei.

Und jetzt hören Sie eine andere Interpretation: da beginnt die Rührung schon vorher, bei den Worten: "Geh, Bächlein, hin und sag ihr das; doch sag ihr nicht...", das setzt schon zögerlicher, geradezu flehentlich ein, und "das traurige Gesicht" wird herzzerreißend, auch die scheinbar fröhliche Wendung mit den Kindern vermag die Verzweiflung nicht zu verdecken, in dem abschließenden dreimaligen "Sag ihr's!" stürzt sie sich sozusagen aus dem Lied hinaus.

3) Die schöne Müllerin / Wunderlich Tr. 15 "Eifersucht u. Stolz" 1'44"
Dieser Sänger heißt - viele werden ihn sofort erkannt haben - Fritz Wunderlich, seine letzte Aufnahme 1966, der andere Sänger vorher war Christoph Prégardien. Man hat ihn in den vergangenen Jahren im WDR Funkhaus mehrfach live hören können mit makellosen und bewegenden Liederabenden, besonders hervorzuheben "Die Winterreise".
Was mich im letzten Urlaub - auf Grund meiner CD-Überlebens-Ration - beschäftigt hat, war allerdings die Frage, wie es kommt, dass ich die Kunst des Sängers Prégardien bewundere und liebe, dass ich aber von Wunderlichs Stimme unfehlbar und immer wieder aufs neue erschüttert bin.
Es kann nicht daran liegen, dass ich Zyklen wie Schumanns "Dichterliebe" oder eben Schuberts "Müllerin" oder "Winterreise" mit ihm kennengelernt habe und deshalb für immer Stimme und Werk identifiziere, - so etwas kommt ja vor, und man sollte zusehen, dass man solche Bindungen löst -, aber all diese Musik habe ich doch kennen und lieben gelernt durch Fischer-Dieskau, und erst im Laufe vieler Jahre begann mich seine Detailausdeutung etwas zu stören, - zuviel spürbare Bewußtheit, zuviel Kunstverstand. Aber Wunderlich blieb - mit seiner wunderbaren Natürlichkeit, - oder war es Naivität? Man möchte sogar von Unschuld sprechen, wohlwissend, dass all diese Begriffe absurd sind, denn sie gelten genau so für große Lyrik, und jeder weiß, dass einer der intellektuell durchtriebensten Dichter die natürlichste, naivste und unschuldigste Lyrik geschrieben hat, Heinrich Heine nämlich. All dies ist weder natürlich noch naiv noch unschuldig, aber es gibt uns eine Idee davon, wie die Welt aussähe, wenn wir sie auf kindliche Weise neu wahrnehmen würden. Zum erstenmal! Die Liebe, der Tod, die Farben, z.B. die Farbe "Grün", grüne Tränenweiden und ein Zypressenhain...
Christoph Prégardien beginnt, Fritz Wunderlich macht die Fortsetzung.
4) Die schöne Müllerin / Prégardien Tr. 16 "Die liebe Farbe" bis 2'45"
5) Die schöne Müllerin / Wunderlich Tr. 16 "Die liebe Farbe" ab 1'09"-3'53"
Ich möchte mal behaupten: Prégardien singt immer so schön, wie wir es erwarten; wenn wir ihn kennen, ahnen wir schon, wie es wird: aus einem Guss, melodisch klar und linienhaft.
Wunderlich singt meistens noch schöner, als wir in Erinnerung hatten: jeder einzelne Ton, jede Silbe hat eine Aussage, ohne dass die melodische Linie darunter leidet. Wenn man ihm unbefangen zuhört, merkt man es kaum, - aber er macht viel mehr als Prégardien: Hören Sie nur, was er mit drei Zeilen anstellt: "Mein Schatz hat's Jagen so gern" - das singt er beim erstenmal bekennend und affirmativ, mit heldischem Vibrato auf dem hohen "gern", bei der Wiederholung spürt man schon auf dem "mein Schatz" eine Dämpfung, das "gern" erhält einen leichten Extra-Stoß:
6) Die schöne Müllerin / Wunderlich Tr. 16 "Die liebe Farbe" ab 1'31"-1'43"
Und nun trübt sich die Stimme "Das Wild, das ich jage, das ist der Tod, die Heide, die heiß ich die Liebesnot:" die beiden h's von "Heide" und "heißt" bekommen einen verstärkten Anhauch, das "L" von "Liebesnot" dient einer sanften, schmerzlichen Verzögerung des hohen Tones, und das "n" in diesem Wort Liebesnot lässt dann das "o" dringlicher herausschnellen.
7) Die schöne Müllerin / Wunderlich Tr. 16 "Die liebe Farbe" ab 1'44"-2'13"
"Mein Schatz hat's Jagen so gern": "mein Schatz" wird weich und wehmütig intoniert, dann noch einmal der Versuch des heldischen Tons, aber das Tempo verlangsamt sich, und das hohe "gern" erhält ein inbrünstiges Crescendo, in der darauffolgenden Wiederholung des Satzes wird mein "Schatz" mit der Andeutung eines Tremolos, einer Bebung, versehen, und das bedeutet: sie ist alles andere als "mein Schatz"!

8) Die schöne Müllerin / Wunderlich Tr. 16 "Die liebe Farbe" ab 2'00"-2'13"
34 Sekunden Musik, und ich habe zu ihrer Beschreibung drei Minuten gebraucht und eigentlich nur das Offensichtlichste gesagt.

Christoph Prégardien intensiviert an der Stelle: "Das Wild, das ich jage, das ist der Tod", es klingt fast ein wenig entrüstet, und auf dem "i" von "Liebesnot" bringt er einen seiner ziehenden, fast schneidenden, mit Vibrato erst spät belebten Töne, die Worte "mein Schatz hat's" klingen in ihrer Kürze fast neckisch. Aber es geht wunderschön weiter, gerade so wie man es erwartet hat.
9) Die schöne Müllerin / Prégardien Tr. 16 "Die liebe Farbe" ab 2'00"-2'33"
Meine Damen und Herren, es liegt mir fern, Christoph Prégardien gegenüber Fritz Wunderlich herabzusetzen, das wäre gar zu billig, und für ihn wäre es ja immer noch ehrenvoll, neben Wunderlich recht gut auszusehen.
Ich versuche lediglich einen Grund dafür zu finden, weshalb uns der eine Sänger ästhetisch zufriedenstellt, während der andere uns bis ins Mark erschüttert.
Im vorletzten Lied des Zyklus "Die schöne Müllerin" von Franz Schubert spricht der unglückliche Müller mit seinem Bach:
"Wo ein treues Herze in Liebe vergeht,
da welken die Lilien auf jedem Beet;
da muss in die Wolken der Vollmond geh'n,
damit seine Thränen die Menschen nicht seh'n;
da halten die Englein die Augen sich zu
und schluchzen und singen die Seele zur Ruh'."

Der Bach wird dem Müller eine tröstende Antwort zu geben versuchen, aber hier ist zunächst diese Strophe in der Interpretation von Christoph Prégardien.
10) Die schöne Müllerin/Prégardien Tr. 19 "Der Müller u. d. Bach" 0'00"-1'14"
Das hat eine wehmütig-schöne Stimmung, da folgt Zeile auf Zeile in makelloser Tongebung, mühelos und fast etwas zu ordentlich.
Was macht Fritz Wunderlich? Das Wort "Liebe" geht er mit einem gewissen Aufwand an, den "Lilien" gibt er Nachdruck, der "Vollmond in den Wolken" erhält eine fast ins Knödeln tendierende Intensität, die "Thränen" ergeben Töne von unendlicher Sympathie, der Gedanke an "die Menschen", die diese Tränen nicht sehen sollen, lässt die Stimme erbeben. Aber erst die Engel! "Da halten die Englein die Augen sich zu", - das "dhaa", mit dem dieser Satz anhebt, ist weich hingehaucht, das nächste Wort wird angeglichen, "da halten", und die beiden Worte "die Augen" werden zu einem einzigen verschliffen, es ist fast zuviel des Guten, - aber was will man machen: es ist vollkommen.
11) Die schöne Müllerin/Wunderlich Tr. 19 "Der Müller u. d. Bach" 0'00"-1'05"
Im Anschluss daran spricht der Bach in Dur Trostworte von neuer, nicht welkender Liebe, aber dem Müller ist nicht mehr zu helfen: er kehrt mit seiner Entgegnung zum dunklen Moll seiner Anfangsstrophe zurück: "Ach Bächlein, liebes Bächlein, du meinst es so gut", und was jetzt kommt, ist unbeschreiblich: "ach Bächlein, aber weisst du" - diese Worte "weisst du" sagen so viel, dass es des Ornamentes auf "Liebe" - "weisst du, wie Liebe thut?" - gar nicht mehr bedürfte. Und dann entschwebt diese Strophe in ein lichtes Dur, das - trostloser nicht sein könnte: "Ach unten, da unten (im Bach) die kühle Ruh". Der Gesang des Baches ist das, was übrig bleiben wird.
12) Die schöne Müllerin/Wunderlich Tr. 19 "Der Müller u. d. Bach" 2'21"-3'20"
Ich habe noch nichts von dem unvergleichlichen Material dieser Stimme gesagt: da ist wohl zunächst eine verführerische, leicht rauchige Beimischung in der Mittellage, die eine Ahnung von gelebtem Leben, von Sehnsucht und Leidenschaft vermittelt; dann gibt es natürlich auch die ganze Palette von samtener Zartheit bis zum leuchtenden Metall, aber das Wunderbarste ist, wie sehr all diese Farben im Dienste des Wortes stehen: nein, eigentlich nicht im Dienste des Wortes, - im Dienste des Lebens, es ist ja kein Zufall, dass man sich so sehr mit dem Bedeutungsgehalt des Textes beschäftigt, wenn man diesen Sänger hört. Er singt die Vokale in "Liebe", "Lilien", "Wolken" und "Vollmond" nicht deshalb so schön, weil sie seiner Tonentfaltung gelegen kommen, sondern weil hinter diesen Vokal-Vehikeln Emotionen stehen, die nach außen drängen, gleichgültig ob mit ah oder ih oder oh.

Fritz Wunderlich.

Liebe Hörerinnen und Hörer, haben Sie bitte Verständnis, dass hier das Lied "Der Müller und der Bach" noch einmal in voller Länge folgt (mitsamt den Trostworten des Baches) - es gibt immer wieder Hörer, die noch keine Beziehung dazu haben; ich glaube, dass man sich an Schulen heute überhaupt nicht mehr mit solchen antiquierten Gefühlen auseinandersetzt, ganz zu schweigen von den Geheimnissen der Musik und ihrer Grammatik. Aber woher soll es dann kommen? Wer kommt denn von selbst auf Schubert? Er springt einen ja nicht im Supermarkt an! 10 mal hören wäre das Minimum, vorher hört man nur Clichés. Bei Wunderlich geht es schneller, aber es kommt letztlich ja überhaupt nicht auf Direktheit und Deutlichkeit an, im Gegenteil, - ich wüßte ein schönes antiquiertes Wort dafür:
"Innigkeit".
13) Die schöne Müllerin/Wunderlich Tr. 19 "Der Müller u. d. Bach" 3'42"
Das war Fritz Wunderlich. Sein Begleiter war Hubert Giesen.
Christoph Prégardien, den Sie vorher gehört haben, wurde von Andreas Staier am Hammerklavier begleitet; dieses etwas tiefer gestimmte historische Instrument war auch für die Grundtondifferenzen verantwortlich, die Sie vielleicht vorhin bei den Vergleichen etwas irritiert haben. Ich habe mehrfach betont, dass die Liebe zu einem Ausnahmesänger wie Fritz Wunderlich uns nicht taub machen sollte für außergewöhnliche Stimmen wie die Christoph Prégardiens, der ja - anders als damals Wunderlich - von der Alten Musik herkommt. Und da repräsentiert er tatsächlich eine andere, neue Welt, beweglich und expressiv, während Wunderlich mit seiner herrlichen Stimme wie gelähmt erscheint: im Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach gibt es gegen Ende ein Rezitativ, in dem der Komponist, weit mehr als der Textdichter, das ganze Weihnachtswunder in ein Resümee zu fassen sucht: Die damals noch nicht heiligen Drei Könige gehen ihrer Wege, und der Evangelist begleitet ihren Aufbruch mit guten Worten:
"So geht! Genug, mein Schatz geht nicht von mir. Er bleibet da bei mir, ich will ihn auch nicht von mir lassen. Sein Arm wird mich aus Lieb mit sanftmutsvollem Trieb und größter Zärtlichkeit umfassen."

Das ist reinster Pietismus und nicht jedermanns Sache. Aber wenn es am Ende heißt:
"Du, Jesu, bist und bleibst mein Freund; und werd ich ängstlich zu dir flehn: Herr hilf! So lass mich Hilfe sehn!"
- so ist die Hilfe schon fast da, gerade für uns, denen die Musik vielleicht mehr bedeutet als jedes einzelne Wort.
Zumindest wenn Christoph Prégardien singt:
14) Weihnachtsoratorium CD 2 Prégardien Tr. 26 1'46"
Christoph Prégardien im Weihnachtsoratorium, begleitet vom Amsterdam Baroque Orchestra unter Ton Koopman. Die hohe Kunst dieser innigen, inständigen Sprechweise kann man vielleicht erst richtig wertschätzen, wenn man es anders hört.
Das Gegenbeispiel kommt jetzt ausgerechnet von Fritz Wunderlich, der im Jahre 1965 solche Bach-Rezitative noch regelrecht buchstabierte, so wie es damals üblich war, Achtelnote für Achtelnote. Bei Karl Richter konnte man nichts anderes lernen. Und München verspätete sich in der Alten Musik um 20 Jahre.
15) I-91447 6 Weihn.orat. Nr. 61 Wunderlich "So geht" 14'51"-16'51" 2'00"
In derselben Aufnahme unter Karl Richter sang Gundula Janowitz die Sopranpartie. Im gleichen Stil. Man muss sich vergegenwärtigen: Herodes hat versucht, die Weisen aus dem Morgenland auszuhorchen und schickt sie nun in Richtung Bethlehem unter dem Vorwand, sie mögen ihm den Fundort des Kindleins nennen, damit er auch kommen könne es anzubeten.
Da erhebt sich der Solo-Sopran und schreit:
"Du Falscher, suche nur den Herrn zu fällen,
nimm alle falsche List, dem Heiland nachzustellen!!!
Der, dessen Kraft kein Mensch ermisst, bleibt doch in sichrer Hand.
Dein Herz, dein falsches Herz ist schon, nebst aller seiner List,
des Höchsten Sohn, den du zu stürzen suchst, sehr wohl bekannt."

Wie dokumentiert Gundula Janowitz 1965 diese Empörung, diese Leidenschaft? Ton für Ton, mit ordentlicher Stimmbehandlung. Allerdings ohne besondere Erregung.
16) I-91447 6 Weihn.orat. Nr. 56 Janowitz "Du Falscher" 6'35"-7'35" 2'00"
Das klingt heute anders. Dorothea Röschmann hat sich den Text einmal genauer durchgelesen und kommt zu dem Schluss, dass man ihn nicht buchstabieren, sondern interpretieren soll: da fällt es einem wie Schuppen von den Ohren: so muss es sein!
17) Weihn.orat.orium (Jacobs) Tr. 24 Röschmann "Du Falscher" 0'50"
Dorothea Röschmann sang ein Rezitativ aus dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach, entnommen der Gesamtaufnahme unter René Jacobs.
Meine Damen und Herren, Sie haben bisher in dieser Sendung Stimmen gehört, die vielleicht Ihr Interesse geweckt oder erneuert haben.
Mich zum Beispiel interessiert Dorothea Röschmann, und der Zufall will es, dass sie heute abend in der Kölner Philharmonie singt. Soweit ich gehört habe, gibt es noch Karten! Und das Programm ist vielversprechend. Robert Schumann: "Liederkreis", also die Eichendorfflieder, reinste deutsche Romantik, später Hugo Wolf, "Mörike-Lieder", und anderes: Graham Johnson am Klavier: Dorothea Röschmann, Gesang, heute 20 Uhr, Kölner Philharmonie.

Meine Damen und Herren, die Sonaten und Partiten für Violine Solo von Johann Sebastian Bach sind ein Prüfstein für jeden Geiger. Als Hauptproblem gilt, die verlangte Mehrstimmigkeit auf einem Melodieinstrument darzustellen, das maximal zwei Stimmen ohne Arpeggierung spielen kann, d.h. ohne Brechung. Die Brechung der drei- und vierstimmigen Akkorde aber schafft unter Umständen eine Unruhe und tonliche Gewaltsamkeit, die gar nichts mit dem Charakter des Stückes zu tun haben. Es hat lange gedauert, bis die Geiger eine Technik entwickelt hatten, wie man mit diesem Problem umgeht. Einer der berühmtesten Geiger des 19. Jahrhunderts, Joseph Joachim, der es wagte, diese Werke wie Konzertstücke zu präsentieren, wurde von George Bernard Shaw folgendermaßen beschrieben:

"Joachim kratzte frenetisch seinen Bach - produzierte Töne, nach denen der Versuch, Muskatnuß auf einer Schuhsohle zu reiben, sich wie eine Äolsharfe angehört hätte." Begeistert war er trotzdem: "Die ehrenvolle Laufbahn Joachims und die Größe von Bachs Ruf hatten uns so hypnotisiert, daß wir ein greuliches Geräusch für Sphärenmusik hielten."
Sicherlich hat es später gelungenere Versuche der klanglichen Umsetzung gegeben, aber als Anfang der 60er Jahre die Gesamtaufnahme der Bachschen Sonaten und Partiten mit Henryk Szeryng veröffentlicht wurde, war die Welt der Geiger im wahrsten Sinne des Wortes aus den Fugen: in dieser klanglichen Vollkommenheit, mit dieser grifftechnischen und bogentechnischen Unfehlbarkeit hatte man die Fugen und die mehrstimmigen Partiten bis dahin nicht gehört. Dieses Akkordspiel wurde zum absoluten Maßstab, und kaum jemand hätte gewagt zu monieren, dass es irgendwie an rhetorischer Lebendigkeit mangelte, dass die Tänze nicht tanzten und schon gar nicht die Fugen swingten.
18) Bach h-moll Szeryng Allemanda (1. Teil)
Die Allemanda, der Kopfsatz der 1. Partita h-moll, - eine Allemanda, ein Tanzsatz also? Sicherlich ein sehr majestätischer, was aber Grazie nicht unbedingt ausschlösse...
Eine Generation später klingt es so:
19) Bach h-moll Tetzlaff Allemanda (1. Teil W 1'06", 2. Teil W beginnt bei 3'19") (4'28")
Christian Tetzlaff hat seine atemberaubende Aufnahme der Bachschen Solissimo-Werke 1993, mit 27 Jahren, aufgenommen. 12 Jahre vorher waren bereits in einer anderen Neuaufnahme ganz neue Töne angeschlagen worden: der 19jährige Thomas Zehetmair hatte sich von Nikolaus Harnoncourt in die neue Auffassung der Alten Musik einweisen lassen und dabei erkannt, dass Bach nicht länger den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts angepasst werden sollte, dass er aber vor allem nicht in einem sakrosankten Raum steht und daher auch nicht distanziert gespielt werden soll, sondern - wie alle Musik - "bis zum Extrem engagiert, emotional gespannt." (Eggebrecht S. 303).
Was dabei herauskam, war eine aufregende neue Bach-Interpretation, vollkommen anders als alles, was man bis dahin von bedeutenden Geigern gehört hatte. Allerdings waren dem temperamentvollen jungen Mann auch einige rhetorische Ausreißer passiert, die sogar nach sporadischem Kontrollverlust klangen, insgesamt aber so interessant, dass man sich gewünscht hätte, einige Jahre später einer neuen, gereiften Version der Werke zu begegnen, - dem Luxus eines zweiten Versuches, den sich ja Sigiswald Kuijken soeben geleistet hat, allerdings auf der Grundlage einer ganz anderen geigerischen Basiskondition.
So kam statt einer Zehetmair-Revision eben nach 12 Jahren die Neuaufnahme mit Christian Tetzlaff, und sie zeugt sowohl von einer intelligenten Reflektion der Alten Aufführungspraxis als auch von Temperament und Geschmack, nebenbei auch von stupender Virtuosität.
20) Bach h-moll Tetzlaff CD 1 Tr. 8 Corrente Double 2'45" Tr. 9 Sarabanda 3'27"
Christian Tetzlaff spielte zuletzt die herrliche Sarabanda der h-moll-Partita, davor das "Double", die Variation des Corrente-Satzes, und über dieser Variation steht tatsächlich "Presto", obwohl schon das Original, der Corrente-Tanz selbst, durchaus nicht langsam zu spielen ist. Da die Notenwerte sich nun verdoppeln, statt Achteln jetzt Sechzehntel dastehen, könnte Bach mit der Presto-Vorschrift gemeint haben: es ist mein Ernst, du sollst wirklich so schnell wie möglich spielen! Sei ein Virtuose!
Bei Henryk Szeryng, der ja zweifellos über Virtuosität verfügte, klingt diese Variation folgendermaßen:
21) Bach h-moll Szeryng Corrente Double (Anfang, dann unter Text weg) ca. 0'30"
Übrigens heißt dieser Satz Corrente - nicht Courante - und der abschließende Tanzsatz heißt nicht Bourrée, sondern "Tempo di Borea". Die italienisierte Form der Namen deutet auf eine andere Tempoauffassung, und wenn der Theoretiker Mattheson damals mit feinem Sinn für Bildhaftigkeit bemerkte, ein Tanz wie die Bourrée schicke "sich zu keiner Art der Leibesgestalt besser als zu einer untersetzten", so meinte er sicher nicht die italienische Borea. Andererseits ist dieser Satz so mit Akkorden gespickt, dass er sicher langsamer gespielt werden muss, wenn es einigermaßen klingen soll, andererseits wollen auch "untersetzte Italiener" beim Tanzen nicht schwer erscheinen. Was an der alten Bach-Interpretation beim Wiederhören am meisten stört, ist die Verfehlung der Tanzcharaktere, die Herauskehrung tonlicher Bodenhaftung und schwerer Motorik, kurz: der bedrohlich heilige Ernst.
Und dann? Warten Sie's ab: der schwere Bach wird leicht. Im Tempo di Borea von Henryk Szeryng zu Christian Tetzlaff.
22) Bach h-moll Szeryng Tempo di Borea (1.Teil mit Wiederholung) ca. 1'
23) Bach h-moll Tetzlaff Tempo di Borea (W 1.Teil ab 0'27" +Forts. incl. Double) 5'30" / ohne Double 2'39"
Der Schlußsatz der h-moll-Partita, BWV 1002, Tempo di Borea, angespielt von Henryk Szeryng, fortgesetzt (und samt Double zuendegeführt) von Christian Tetzlaff.
Meine Damen und Herren, Sie hören Musikpassagen, am Mikrofon ist J.R., und mein Thema lautet - ich habe es noch gar nicht erwähnt, hoffe aber, dass es Sie trotzdem interessiert - also:
Bleibende Substanz, wandelbare Deutung (Fragezeichen)? Die Qualität der Bachschen Musik ist in den unterschiedlichsten Deutungen erkennbar, und selbst wenn man die Töne in einen Computer einspeisen würde, der sie ohne Dynamik und Phrasierung abspult, würde man hören: das ist gut gearbeitet. Die Qualität bleibt erkennbar, aber sie lebt nicht.
Die Notation eines musikalischen Kunstwerks ist mehr als ein Wachsabbild in Madame Tusseaus Kabinett, sie ist eine Anleitung zur Wiederauferstehung, und sie bedarf dafür eines kongenialen Entzifferers, der von seinem eigenen Lebensgefühl soviel dazu tut wie der Wachsabdruck braucht, um ins Leben zurückzukehren, zu atmen, zu sprechen und sein Mienenspiel zu entfalten.
Es gibt ein wunderbares Thema von Ludwig van Beethoven, ein wahres Wunder an Schönheit, rührender Schlichtheit, 16 Takte, die das Portrait eines Mädchens darstellen könnten, vielleicht ein Portrait des Mädchens, dem die ganze Sonate gewidmet ist, Maximiliane Brentano, die auch Beethovens Klavierschülerin gewesen ist.
24) Beethoven (Pollini) CD 2 op. 109 Tr. 3 0'00"-2'11" 2'11"
Ich habe mich in den Musikpassagen schon einmal ausgiebig mit dieser Sonate beschäftigt (s. MP 28. Juni 2000) und will mich nicht wiederholen, deshalb nur soviel:
Die Mutter der Widmungsträgerin Maximiliane, Antonie Brentano, war niemand anders als Beethovens "unsterbliche Geliebte", der Beethoven - ohne sie mit Namen anzureden - die leidenschaftlichsten Briefe seines Lebens geschrieben hat. In Tagebüchern und Notizen erscheint sie mit dem Buchstaben T., - und Antonie Brentano wurde im Freundeskreis "Toni" genann, eine unerlaubte Liebe, die auch ohne happy end geblieben ist. Beethoven resignierte, aber noch im Jahre 1817 findet sich folgende Notiz in seinem Tagebuch:
"Nur Liebe - ja nur Sie vermag dir ein glücklicheres Leben zu geben O Gott laß mich sie jene endlich finden die mich in Tugend bestärkt die mir erlaubt mein ist. Baaden, am 27ten Juli Als die M. vorbeifuhr und es schien als blickte sie auf mich." (Solomon S. 204)

Wer war M.? Es kann nur Maximiliane gewesen sein, die Tochter, die in Beethoven das Bild der Mutter aufsteigen ließ. (s. Solomon S. 204) Mutter und Tochter, Antonie und Maximiliane Brentano waren die einzigen Frauen, denen Beethoven nach 1820 noch Werke widmete. Und zur Sonate in E-dur op. 109 schrieb er Maximiliane einen vielsagenden Brief, der so beginnt:
"Eine Dedikation!!!! - Nun es ist keine, wie dergleichen in Menge gemißbrauchet werden. - Es ist der Geist, der edlere und bessere Menschen auf diesem Erdenrund zusammenhält und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht und der Sie mir noch in Ihren Kinderjahren gegenwärtig zeigt, ebenso Ihre geliebten Eltern...." usw.

Und die Sonate redet von nichts anderem als von der Zeit, die den Geist nie und nimmer zerstören soll, vielleicht redet sie auch von Liebe, vielleicht sogar von Maximiliane selbst oder von ihrer Mutter. Darüber kann man streiten, nicht aber darüber, dass Beethoven etwas Außergewöhnliches sagen wollte und ein Mysterium geschaffen hat.
Die folgende Interpretation des Themas redet allerdings von alldem sowieso nichts, sondern nur von einem: von Olli Mustonen, der fabelhaft Klavier spielen kann und macht, was er will.
25) Beethoven (Mustonen) Tr. 3 0'00"-2'13" 2'13"
Liebe Hörerinnen und Hörer, es könnte sein, dass jemand, der diese Sonate und die Rahmenbedingungen einer Interpretation nicht ganz genau kennt, findet, dass das ganz ordentlich gespielt ist, und deshalb möchte ich mir die Zeit nehmen zu beschreiben, weshalb ich das nicht akzeptabel finde, ja, derartig unsympathisch, dass ich mir keine zweite CD dieses Pianisten kaufen würde, selbst wenn mir jemand sagt: Haydn-Sonaten spielt er hervorragend. Ich glaube es nicht. Er wird keinen Schubert spielen können und keinen Schumann. Brahms auch nicht. Rachmaninow vielleicht. Bach auch, denn - wie gesagt - der verträgt viel.
Erstens: er spielt nur die Oberstimme, die Töne der Mittelstimmen sind anfangs kaum zu erraten. Zweitens: er verzögert oder beschleunigt das Tempo an willkürlichen Punkten, ein unerträgliches Rubato, drittens: er missachtet das genau gesetzte crescendo- und decrescendo-Zeichen des Komponisten im 4. und 5. Takt, usw., im zweiten Teil beginnt er mit einer zickig gekürzten Note, er setzt willkürliche Betonungen auf schwache Takteile.
26) Beethoven (Mustonen) Tr. 3 + Kommentar 0'00"-2'13"
(Kommentar:)
Takt 1-2: er beginnt stockend
Takt 3-4: er wird zum hohen Ton hin leiser, Beethoven wollte es umgekehrt
Takt 5: hier sollte nach Beethoven das Crescendo gipfeln, stattdessen sitzt hier nun ein Akzent, am Ende des Taktes stolpernde Sechzehntel, ein affektierter Mordent.
Wiederholung:
Takt 9: der Zeigestock auf dem ersten Ton hat keinen Sinn, der Akzent auf dem letzten Achtel ist noch sinnloser.
Takt 13: da stehen keine Betonungen, hier soll ein Cresc. beginnen
Takt 14: was soll denn der Akzent nach dem Sforzato-Ton?
Ich könnte jetzt die einzelnen Variationen dieses Themas durchgehen, es ist einfach zuviel an Sinnlosigkeit und Willkürlichkeit: ich greife nur eine heraus. Die vierte Variation, die für Sekunden Pianissimo-Ausblicke in mystische Fernen gewährt, dann eine gewaltige Verzückung, Wogen ekstatischer Fortissimo-Begeisterung, und ein weich fließender Abgesang. Was wird daraus bei Olli Mustonen?
27) Beethoven (Mustonen) Tr. 3 ab 5'48"- 7'32" + Kommentar 1'44"
(Kommentar:)
Alle Sechzehntel-Girlanden sind bei Beethoven gebunden. Mustonen spielt nach Belieben Staccato, - und auch die beiden abschließenden Achtel müssten schön gebunden sein.
Dann folgt ein Pianissimo, in das auch die hohe Figur eingeschlossen ist. Deren Heraushämmern macht den ganzen Zauber der Stelle zunichte.
T. 112 ff Da stehen zwar sforzati, die zu dem Überschwang des Cresendos gehören, aber Mustonens rhythmische Zuckungen sollen uns wohl nur verblüffen, jedenfalls nicht mitreißen, zudem betont er die falschen Töne, nämlich jeweils genau ein Sechzehntel daneben, und er beginnt überhaupt zu früh mit diesen Zuckungen. Es ist einfach ärgerlich, das müsste doch in der Klavierstunde geklärt worden sein!
Meine Damen und Herren, es ist völlig klar, dass Olli Mustonen die Tastatur mit agilen Fingern beherrscht, aber darum kann es nicht gehen, es gibt so viele virtuose Klavierspieler, und um so mehr geht es weiterhin allein um die Musik! Hier ist Musik.
28) Beethoven (Pollini) Tr. 3 ab 6'05" bis 8'17" 2'12"
Maurizio Pollini spielt hier. Seine Aufnahmen der späten Beethoven-Sonaten entstanden in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Man wird in den Noten kaum eine dynamische Vorschrift, kaum ein Crescendo, kaum einen Akzent oder gar ein Sforzato finden, das sich nicht minutiös in Pollinis Aufnahme spiegelte, und doch klingt alles, als entstünde die Musik gerade erst unter seinen Fingern und spreche zu uns so un-mittel-bar, wie sie vielleicht damals zu Maximiliane Brentano oder ihrer Mutter sprechen sollte: von Geist zu Geist.
29) Beethoven CD 2 (Pollini) Sonate E-dur op. 109 Tr. 3 12'30"
Maurizio Pollini spielte den abschließenden Variationensatz der Beethoven-Sonate E-dur op. 109. In unseren Musikpassagen, ging und geht es heute um die Frage "Bleibende Substanz, wandelbare Deutung", wir haben uns mit ein paar Vergleichen beschäftigt:
Zuerst hatten wir die "doppelt schöne Müllerin", nämlich interpretiert von FritzWunderlich und Christoph Prégardien, dann haben wir erlebt, wie "der schwere Bach leicht" wurde: Von Henryk Szeryng zu Christian Tetzlaff und jetzt gerade den späten Beethoven, "in Maurizio Pollinis Obhut, in Oliver Mustonens Gewalt", zuletzt natürlich in der unbestechlich schönen Interpretation von Maurizio Pollini.
Ich habe auch auf einen außergewöhnlichen Liederabend hingewiesen, der heute um 20 Uhr in der Kölner Philharmonie stattfindet. Dorothea Röschmann singt Haydn, Schumann, Liszt und Hugo Wolf. Eine außergewöhnliche Stimme, die man sonst eher in Oratorien und Mozart-Opern kennt, in einem Liederabend, auf den man sich freuen kann.

Gleich wird vielleicht manch einer fragen: wie kann man nur von der Empfehlung einer solchen Stimme und überhaupt: von solcher Musik zu arabischen Gesängen übergehen?! Ist unsere Kultur denn nicht reich genug? Fehlt uns etwa irgendetwas? Ich würde antworten: Ja, sicher, - was uns heute fehlt, ist ein Anteil improvisatorischer Freiheit. Zwar sind die Differenzen zwischen den Interpretationen, wie wir gesehen haben, keine Kleinigkeit; man kann innerhalb eines relativ engen Rahmens den Sinn einer Komposition vollkommen verfehlen. Und man kann eine Komposition notengetreu spielen und doch so wirken lassen, als entstünde sie in diesem Augenblick.
Aber Improvisation ist doch noch etwas ganz anderes, sie beruht auf einer ganz anderen Vereinbarung zwischen Publikum und Interpreten.
Und dann: der Rhythmus, der Rhythmus als ein wirklich ernstzunehmender Parameter der Musik! Ja, und eine frei schweifende Melodie, die Melodie an sich, die von Basslinien und dunklen Harmoniegängen nichts weiß.
"Ya lil, Deine Schönheit hat mich verzaubert, o Nacht. Deine graziöse Gestalt hat meinen Augen die Süße des Schlafs geraubt."
Die tunesische Sängerin Sonia M'barek singt im Maqam Kurdi, dem Modus der Kurden, der unserer alten phrygischen Kirchentonart entspricht. Wir würden das Instrumentalvorspiel vielleicht zunächst noch zwischen Dur und Moll einordnen, aber das sind nur Farben, erst die abschließende Phrase klärt den Maqam Kurdi.
30) Tunisia Tr. 6 Wasla Maqam Kurdi 5'51"
Sonia M'barek war am 6. Juni 1998 im WDR-Funkhaus zu Gast, und ein Teil der Aufnahmen ist bald darauf bei in der World Network Reihe veröffentlicht worden. Die junge Sängerin Sonia M'barek aus Tunis verfügt über eine leichte, bewegliche Stimme, die mühelos alle Winkel der Maqam-Ornamentik erfasst. Es ist eine Freude, ihr zuzuhören, man möchte Verse schreiben, die dazu passen; aber wenn die irakische Sängerin Farida auf den Plan tritt, versagen alle beschreibenden Worte: es ist, als ob eine alte, pathetische, fabelhafte Zeit wiederaufersteht: es ist eine unbeschreibliche Sehnsucht in dieser Stimme, zugleich eine Botschaft von Zuversicht, und wenn Farida den Maqam Saba anstimmt, mit seinen Vierteltonabweichungen und dem eigenartig platzierten übermäßigen Tonschritt, ein irrationales Terrain, in dem sich die Melodie mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt, - das vergisst niemand, der es einmal gehört hat. Darüberhinaus wird das rein Melodische, das Timbre dieser Stimme und die leidenschaftlich assistierende Geige, überhaupt alle Solo-Einlagen, von einem unglaublichen, fast afrikanischen Rhythmus getragen; er kommt aus dem Süden des Irak. Ich bedauere, dass diese Sendung ein Ende hat.
31) Farida Tr. 1 Maqam Saba 12'55"

(... über Musik:) Farida mit ihrem Iraqi Maqam Ensemble. Ich freue mich, solche Musik für die WDR3 Nachtmusik ankündigen zu können. Samstag, 24. November im Klaus-von-Bismarck-Saal, WDR Funkhaus am Wallrafplatz Köln.
Wenn Sie Karten brauchen, - der Saal ist zu klein für solche Musik: fragen Sie bei KölnTicket. Vielleicht haben Sie Glück.
Ich verabschiede mich und hoffe, Ihnen etwas gebracht zu haben, auch wenn alles nur Stückwerk war. "Bleibende Substanz, wandelbare Deutung?" Einen arabischen Maqam haben wir nicht deuten gelernt, haben aber vielleicht wahrgenommen, dass er Substanz hat? Dank einer großen Deuterin. Produktionsassistent war N.N., in der Technik war N.N., am Mikrofon verabschiedet sich J.R.

(Musik hoch, nach Bedarf)

Zitierte Literatur

  • Maynard Solomon
    Beethoven Biographie
    München 1977
    ISBN 3-570-00054-0
© Dr. Jan Reichow 2010Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < fürs Radio <
Musikpassagen 14. November 2001 Bleibende Substanz