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WDR 3 27. September 2005 14:45 - 15:00 Uhr
Hörzeichen
mit Jan Reichow

Michael Korstick spielt Beethovens Diabelli-Variationen

Am Mikrofon ist J.R.
Um es kurz zu sagen: Der Pianist Michael Korstick hat eine überwältigende Interpretation der Diabelli-Variationen von Beethoven vorgelegt, - aber wer seine Aufnahmen der späten Beethoven-Sonaten kannte, hat insgeheim damit gerechnet und darauf gewartet.
Und dies ist nun der Start bei einem neuen Label, Oehms Classics, wo er das gesamte Klavierwerk Beethovens einspielen wird.
Willkommene Gelegenheit zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem allzu selbstverständlichen Repertoire-Komponisten Beethoven. Sein Gesamtwerk ist ja nicht einfach eine Aneinanderreihung großer und kleiner Werke, es ist schlechthin das Kompendium einer unvergleichlichen Blüte- und Wendezeit der abendländischen Musikgeschichte, - danach konnte nichts mehr sein wie vorher. Und das spürt man aufs neue in diesen wegweisenden Interpretationen.
Angesichts eines solchen Unterfangens meine einzige Kritik an der Nummer 1 dieses großen Unternehmens: es gibt kein Booklet, das der Größe der Sache und der Bedeutung der Diabelli-Variationen angemessen wäre! Eine lapidar zitierte Korstick-Äußerung ist eher irritierend: "Wie ein Zug", sagt er, "der auf einem abschüssigen Gleis herunterfährt und auf den Schlussakkord prallt", - das darf ein Pianist sagen, der jedes Detail ernstgenommen und verwirklicht hat, es sollte aber von anderen nicht als einzige Höranregung ins Booklet gesetzt werden.
Dementsprechend mein zweiter Kritikpunkt: es gibt keine Track-Setzung für die 33 Variationen, d.h. man soll sie tatsächlich als Ganzes an sich vorüberfahren lassen, ohne die Chance gezielter Einzelansichten, die man aber braucht, um am Ende auch wieder das Ganze zu würdigen. Es genügt nicht, immer wieder beim Thema zu beginnen, und es womöglich besser zu finden als seinen Ruf, - zumal Michael Korstick es ansteckend launig und direkt angeht. Beachten Sie die "Paukenbässe".

1) Diabelli Thema und Var. I bis etwa 1:25 (dann unter Text) 1:25

Wir sind bereits in der ersten Variation; sie ist vom Walzer- zum Marsch-Rhythmus gewechselt, der mit 'herrischer Gebärde' (Halm) das Thema 'von sich wegschiebt', es 'sozusagen vernichtet' (Riezler). [So sagen es die Kommentatoren.] Der quasi punktierte Rhythmus durchdringt alles, selbst die nachdenklichen Echo-Wirkungen, so daß Brendel sogar von einer bewußten 'Humorlosigkeit' spricht. Die 'Paukenbässe' des Themas werden in durchlaufende Baßlinien verwandelt, die Durchgangs-Harmonien erzeugen." Es erinnert ein bisschen an die Kontrapunktik des Meistersinger-Vorspiels.

(Musik wieder kurz hoch) 0:15

Die nächste Variation kehrt zum 3/4-Takt zurück, der eben noch kompakte Klaviersatz wird aufgelockert durch leichtfüßiges (darf man das sagen?) Alternieren der Hände. "Ätherisch" nennt Uhde den Klang der zwischen 4- und 6-Stimmigkeit schwankenden Akkorde.

2) Diabelli Var. II ab 2:52 bis 3:42 0:50

Man hat Versuche gemacht, die einzelnen Variationen durch Beiworte zu charakterisieren:
das ist nicht nötig wenn man gut zuhört, andererseits lenkt es gute Zuhörer dahin, auch die rein musikalische Charakteristik der einzelnen Variationen klarer zu erfassen: Alfred Brendel nannte die erste Variation, den Marsch: "Gladiator, seine Muskeln vorweisend", und die hier gerade abgelaufene 2. Variation "Schneeflocken". Danach würden folgen: "Zutrauen und nagender Zweifel", "Gelehrter Ländler", "Zahmer Kobold", "Trillerrhetorik (Demosthenes vor der Brandung)", "Drehen und Stampfen" und "An Brahms", und der wäre auf diese Zuordnung wohl stolz gewesen, - selbst ein starker Variationen-Schreiber.

Die nun folgenden beiden Variationen nennt Brendel: "Fleißiger Nußknacker" und "Kichern und Wiehern". Schön an diesen Bezeichnungen finde ich, dass sie auch ganz anders lauten könnten, aber vor allem jeden höheren Ernst herausnehmen, - denn genau darin könnte der tiefere Sinn dieser Variationen liegen. Befreiung auf höchster Ebene vom erdenschweren Tiefsinn. "Fleißiger Nußknacker" und "Kichern und Wiehern". Michael Korstick spielt.

3) Diabelli Var. IX und X ab 10:47 bis 13:06 2:19
(etwas eher unter Text)

Kichern und Wiehern? Wer weiß. Jürgen Uhde nannte diese Variation "Kaskaden", ein anderer Interpret: "Gewimmel". Sie können sich vorstellen, dass es auch jede Menge satztechnischer und motivischer Analysen gibt, die keinesfalls nur blasse Theorie enthalten. In Beethovens Kopf gab es jede Menge Ton-Kaskaden, meinetwegen auch Ton-Gewimmel, vor allem aber nimmermüde motivisch-thematische Metamorphosen- und Ordnungsarbeit. Seine Skizzenbücher legen beredtes Zeugnis ab. Wofür das alles?
Gestaltenreichtum wäre schon ein großes Wort. "Ein Kosmos musikalischer Gedanken" ein noch größeres.
Aber warum aus einem mittelprächtigen Walzer-Thema entwickelt? Tja, wie sieht es denn mit uns selber aus? Allenfalls mittelprächtig, und trotzdem: was für Erfahrungen können wir mit offenen Augen und Ohren machen!!!
Darüber dürfen wir in fruchtbares Grübeln geraten angesichts einer solchen erregenden und beruhigenden, von Anfang bis Ende durchlebten Aufnahme wie der vorliegenden von Michael Korstick. Spätestens in der 31. Variation denkt man dann auch an die weltenferne Melancholie der einen berühmten Goldbergvariation, Beethoven muss sie gekannt haben, "Schmerzgirlanden (An Bach)" nennt Brendel das.

4) Diabelli Var. XXXI ab 44:54 bis (oder nach Bedarf) 46:27 1:33

Dann auch, nach einer kleinen Ewigkeit, die Gegenwelt, die nach einem Finale aussieht, - eine Fuge, die Brendel "Kraftakt (An Händel)" nennt; aber dieser Kraftakt ist durchaus noch nicht das Ende des gewaltigen Kompendiums. Schon im zweiten Teil der Fuge lockert es sich:

5) Diabelli Var. XXXII ab 52:52 bis 54:02 1:10

Und was danach folgt, beschreibt ein Kommentator so: "Unvergleichlich ... die Grazie, mit der Beethoven, Mozart beschwörend, nach dem 'Wollen' der Fuge zu einem 'Nichts-mehr-wollen', einem 'Zulassen' gefunden hat.
Brendel, der Belesene, zitiert in diesem Zusammenhang Kleists Über das Marionetten-Theater:
'So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein.' "

6) Diabelli Var. XXXIII ab 55:24 bis 56:04 0:40
(Musik verschwindet unter folgendem Text)

Ich sollte Ihnen noch mitteilen, dass diese CD, - die Nr. 1 des geplanten vollständigen Beethoven-Zyklus mit Michael Korstick -, auch eine anrührende Interpretation der F-moll-Variationen von Joseph Haydn enthält.
In meinen heutigen analytischen oder bildhaften Bemerkungen habe ich mich an die ausgezeichnete Vorarbeit eines Schulmusikers in Mosbach/Baden gehalten (Christof Roos, OStR Nikolaus-Kistner-Gymnasium), leicht auffindbar im Internet. Die genaue Webadresse sagt Ihnen unser Hörertelefon ebenso wie die Bezugsquelle dieser mustergültigen Aufnahme der Diabelli-Variationen. Am Mikrofon verabschiedet sich J.R.

Web-Seiten:




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