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Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Musikpassagen 30.Januar 2002 - Körper, Trieb, Gewalt und Geist

30.01.2002 WDR 3 Musikpassagen 15.05-17.00 Uhr
mit Jan Reichow
Körper, Trieb, Gewalt und Geist
Was die Musik zusammenhält...

Beweisstücke aus Werken von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Robert Schumann,
Johannes Brahms, Richard Wagner, Arnold Schönberg, Maurice Ravel,
Igor Strawinsky, Béla Bartók, Dmitri Schostakowitsch u.a.,
Aufnahmen aus Ungarn, Rumänien, Sri Lanka, Indien, Bali und anderen Regionen der Welt.



PRESSETEXT


Bis in welche Tiefe sind körperliche Anteile in der Musik am Werk? Man spricht vom Atem, von Phrasierung und Gesten, man beschäftigt Finger, Arme, Mund, Zunge, Muskeln und Lungen. Und weiter? Vorsicht, - sobald man zum Herzen kommt, schlägt alles um in Geist und Seele.
Ist es nicht an der Zeit, auf dem physiologischen Kern der Musik zu bestehen? Es genügt nicht, in der musikalischen Diskussion das Wort Climax spielerisch gegen das Wort Orgasmus auszutauschen, bedeutungsvoll auf Skrjabins Poème de l'extase, Ravels Boléro oder Schönbergs Tanz ums goldene Kalb zu verweisen. Mozart, Schubert und Schumann sorgen dafür, dass man weiter den Hauptsitz der Musik jenseits der Wolken vermutet.
Der französische Philosoph Roland Barthes hat versucht, mutige Metaphern für das zu finden, was er an musikalischer Substanz in der Tiefe des Körpers wahrnimmt:
"Das romantische 'Herz'... ist ein starkes Organ, Extremum des Körperinneren, wo gleichzeitig und wie im Widerspruch zueinander die Begierde und die Zärtlichkeit, das Liebesverlangen und der Lockruf der Wollust sich mit Gewalt vermischen."
In seinem Schumann-Essay wird er noch deutlicher in der Physiologisierung ätherisch-ästhetischer Begriffe:
"'Seele', 'Gefühl' und 'Herz' sind die romantischen Namen für den Körper. Alles wird im romantischen Text klarer, wenn man den verströmenden, moralischen Begriff mit einem körperlichen, triebhaften Wort übersetzt - und nichts nimmt dabei Schaden: die romantische Musik ist gerettet, sobald der Körper zu ihr zurückkehrt..."
Es handelt sich nicht darum, die Musik auf Sexualität zu reduzieren,- von der man ja auch sagen könnte, sie sei musikalischer Natur: Man könnte von Osmose, Photosynthese, chemischen und alchemistischen Prozessen sprechen, von Grundfiguren des Lebens, vom "Triebleben der Klänge" (Arnold Schönberg), von einer "musikalisch-biologischen Matrix" (Susanne Langer), in Bali vom "steady state" oder "Fließgleichgewicht"" (Gregory Bateson) und im Gegensatz dazu von der konfliktorientierten Anlage der Musik im Westen.
Vielleicht ist die Gefahr, dass man neben dem musikalischen Konflikt auch dem Trieb und der schieren Gewalt ins Auge sehen muss, weniger erschreckend als die Aussicht, in einem fensterlosen Reich reinen Geistes zu enden.
Man findet in der Musik den eigenen Herzschlag, den Atem und das Begehren des allzu willigen Fleisches. Und einen rastlos tätigen Geist ebenfalls.



TEXT DER SENDUNG


(MP Jingle)
Am Mikrofon begrüßt Sie Jan Reichow, - meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor: die Ouvertüre zu Don Giovanni ist gerade vorüber, der Vorhang öffnet sich, Sie sehen Don Giovannis Diener Leporello auf und ab gehen: "Keine Ruh bei Tag und Nacht" schimpft er, "Ihr weilt drinnen mit der Schönen, und ich muß Wache stehen!" Sie wissen sicher, dass er vor dem Haus der Donna Anna, der Tochter des Komturs, Wache schiebt. Don Giovanni ist dort heimlich eingestiegen, um sie in ihrem Schlafgemach zu überraschen.
200 Jahre lang hat nun eine Frage die Gemüter bewegt, - Dichter, Musiker, Regisseure, Journalisten und Philosophen haben darüber phantasiert, gegrübelt und geschrieben: Was geschah dort im Innern des Hauses?
Leporello warf seinem Herrn später an den Kopf, er habe die junge Frau vergewaltigt. Aber darauf muss man nichts geben, er war ja nicht dabei, er stand vor dem Haus und sah - genau wie wir - die beiden nur in großer Aufregung herausstürzen.
Donna Anna klammerte sich an Don Giovanni und schrie, sie wolle seinen Namen wissen. Wäre er nicht vermummt gewesen, hätte sie ihn erkannt: als Kind muss sie ihm öfters begegnet sein. Merkwürdigerweise verschwindet sie im Haus, als sie ihren Vater herbeieilen hört, - ohne die Chance zu nutzen, Don Giovanni zu identifizie-ren. Ihr Vater stirbt im Zweikampf, der Mörder ist auf und davon. Donna Anna hat inzwischen ihren Verlobten Ottavio zu Hilfe geholt, - zu spät: nun fordert sie von ihm furchtbare Rache. Die Erschütterung durch den Überfall und durch den Tod ihres Vaters ist verständlich, aber war da vorher womöglich noch etwas anderes?
Hat es nicht allzu lange gedauert, ehe sie hinter Don Giovanni aus dem Haus stürzte?
Ist es nicht sogar denkbar, dass die Ouvertüre bereits von einem heftigen Teil der Begegnung im Hause erzählt, - was hätte dann - kurz vor dem Schwenk auf Leporello - diese seltsame Beruhigung zu bedeuten...? Möglicherweise dient sie zur Motivierung des Perspektivenwechsels, aber vielleicht - vielleicht! - auch, um einen Moment zärtlicher Übereinkunft auf der "Nebenbühne" anzudeuten?
1) Don Giovanni Ouvertüre ab 4'20" bis in die Szene 10'06" (ab 9'22" Betroffenheit)
(die Szene kommentierend:)
Leporello geht auf und ab. Gleich stürzen sie aus dem Haus: Don Giovanni und Donna Anna: (Lassen Sie sich durch die Munterkeit des Orchestertons nicht täuschen: auch die Ouvertüre war von dieser bösen Lebhaftigkeit.)
Jetzt eilt der Komtur herbei, Donna Anna verschwindet.... Der Komtur ist tödlich getroffen.


Noch einmal die Frage: Was geschah in Donna Annas Zimmer?
Die Romantiker, angefangen mit E.T.A. Hoffmann, haben geglaubt, sie sei von Don Giovanni "entehrt" worden, und haben sie prompt zur Heiligen gemacht. Der Regisseur Walter Felsenstein dagegen suchte mit akribischer Deutung nachzuweisen, sie sei von der Person Don Giovannis psychisch erschüttert worden, es sei aber keineswegs zum Liebesakt gekommen. Gewalt widerspreche Don Giovannis Charakter.
Andere Deuter haben sich mit schönen Worten angeschlossen:
"Donna Anna, ein ganz junges, fragiles Mädchen von achtzehn Jahren oder jünger, die abgeschirmt von der Welt, nach strengen patriarchalischen Maßstäben erzogen wurde - sie trägt darin bereits Züge der großbürgerlichen höheren Tochter -, erlebt ausgerechnet durch Don Giovanni, der Inkarnation des männlichen Eros, zum erstenmal bewußt ihre eigene Sinnlichkeit, ihre Weiblichkeit."
(Don Giovanni Csampai S. 16)

Aber ich frage Sie: auf welche Weise kann ein Vermummter eine Höhere Tochter beeindrucken?

Nichts ist heutzutage gefährlicher, als dies zu vermischen: eine Art Vergewaltigung, - die vom Opfer irgendwie positiv erfahren wurde. Unmöglich!! Andererseits muss man sehen: Mozarts Don Giovanni ist nicht nur vollkommen unmoralisch, er bemüht sich auch nicht um einen Hauch von political correctness.
Erst viel später erklärt Donna Anna den Verlauf der Begegnung ihrem Verlobten Don Ottavio: sie habe den vermummten Mann, der da spät nachts in ihrem Zimmer aufgetaucht sei, zunächst für ihn, Ottavio, gehalten; habe dann den Irrtum bemerkt und versucht, sich aus seiner Umarmung zu befreien; sie habe geschrieen, der Fremde hielt ihr den Mund zu, und nur mit äußerster Kraft vermochte sie, sich durch Drehen und Winden loszureißen. Der Schurke flieht, die Angegriffene wird zur Angreiferin und verfolgt ihn bis auf die Straße.
Im Gegensatz zu Felsenstein und anderen Deutern glaube ich nicht, dass Donna Anna die reine Wahrheit erzählt; es gibt da ein verräterisches Wort, das der Dichter da Ponte ihr in den Mund legt, während Mozart ihre Schilderung durch so abwegige Tonarten lenkt, dass man seine Einschätzung der Lage unschwer errät. Donna Anna hat Don Giovanni gerade wiedererkannt und zwar - wie sie sagt - an seiner Stimme, "dieses unterdrückte Reden, dieser Wechsel der Farbe sind allzu deutliche Anzeichen" - was meint sie, was hat sie ihn denn gerade sagen hören? Kein Zweifel, die erregten Worte "Zitto, zitto", die er Elvira ins Ohr zischt, "Leise, leise, denn die Leute scharen sich um uns, seid ein bißchen klüger, sonst setzt Ihr Euch der Kritik aus!"
2) Don Giovanni CD 1 ab 43'42" ("Infelice!") bis 44'42"

"Zitto, zitto!"
So ähnlich könnte er Donna Anna auch bei seinem Überfall ins Ohr gezischt haben. Daran erkennt sie ihn. Und nun rekapituliert sie die Szene, sagt aber ausdrücklich: "Schweigend nähert er sich mir, und er will mich umarmen. Ich versuche mich zu befreien, er umklammert mich fester..."
Und dabei soll er geschwiegen haben? Warum behauptet sie das? Weil das Flüstern des Vermummten sie elektrisiert hat? Die Begegnung darf in der Rückschau nicht die Intimität eines Wortaustauschs gehabt haben.
Und noch etwas: "Mein Vater eilt herbei, will wissen, wer er ist..." - so stimmt das nicht, wir haben es ja miterlebt: sie hat das wissen wollen, der Alte hat nur geschrien: "Lass sie los, Unwürdiger, schlage dich mit mir!" Und sie war längst wieder im Haus. Man könnte sogar meinen, dass dies die größte Beleidigung war: dass er partout unerkannt bleiben wollte, - was auch immer drinnen vorgefallen war. Dass er sie oder zumindest sich auf die bloße Gattung reduziert hat, auf Leib ohne Gesicht, allenfalls - mit Stimme. Anonymer Sex?
Ein Kernproblem der Liebe ist drastisch angesprochen: geht es um das Individuum, um den Partner oder die Partnerin oder geht es um den Körper, um das bloße Gattungsexemplar? Der Dichter Nikolaus Lenau lässt es seinen Don Juan klipp und klar sagen: "Die einz'lne kränkend schwärm ich für die Gattung."
Die Kluft wird vielfach schöngeredet, so noch bei Walter Felsenstein, der meint: "...die erste Berührung lässt sie ihren Irrtum erkennen, aber zugleich mit ihrer entsetzten Angst wird sie von einem nie gekannten, ungeheuren Gefühl erfasst, dem sie sich nicht zu widersetzen vermag - die für Giovanni geborene Partnerin ist erwacht und stärker als Annas Bewußtsein." Ist schon die Liebe auf den ersten Blick schwer zu glauben, um wieviel absurder ein "nie gekanntes, ungeheures Gefühl", ausgelöst durch einen Vermummten? Nein, darauf muss man bestehen: dass er wenigstens beschwichtigend geflüstert hat.
Auf einer ganz anderen, scheinbar naturhaften Ebene existiert diese Kluft nicht. Das Bauernmädchen Zerlina diskutiert nicht, sie baut auf handgreifliche Beziehungen: sie ermuntert ihren unglücklichen und mit Recht eifersüchtigen Partner sie zu schlagen, wohlwissend, dass er den Mut nicht haben wird. "Batti, batti..." Sie arbeitet mit Körpersprache und - Berührungen (nicht mit Namen oder Stimmen): Als Masetto von Don Giovanni schwer verprügelt worden ist, der Fuß weh tut, der Arm und die Hand..., sagt sie: "Lass nur, nicht so schlimm, wenn nur der Rest heil ist" und bietet ihm ihr Wundermittel an, das man nicht in der Apotheke bekommt. "Du möchtest wissen, wo ich es habe?" fragt sie. "Fühlst du es schlagen? (führt seine Hand an ihr Herz) berühre mich hier, berühre mich hier, hier." Immer wieder "Toccami qua", im Deutschen hieß es schamhaft: "Das heilt dein Leid" oder in der frühen Rochlitz-Übersetzung: "wirst du's nun kennen? brauch ich's zu nennen?, das helfe dir, das helfe dir...!" Vom Sex sprach man noch nicht oder nicht mehr, nicht einmal in der ziemlich deutlichen Sprache Mozarts und Da Pontes, stattdessen fand er beinah schon auf der Bühne statt.
3) Don Giovanni CD 2 Tr. 2 ab 17'13" "Sentilo battere?" bis 18'38"
4) Ravel: Boléro (nach ca. 1'30" über den Boléro:)

"Sentilo battere..." Das Pochen geht weiter, und wir wissen, dass gerade dem Boléro eine zwingend erotische Ausstrahlung nachgesagt wird. Da ist eine orientalisch schlangenhafte Melodie, eine Wiegebewegung und eine zunächst unmerklich anschwellende Dynamik, die immer deutlicher auf einen Höhepunkt zielt. Die unwiderstehliche Wirkung eines sich nicht beschleunigenden Tempos... eine Mischung aus menschengemacht und mechanisch.
Wir ahnen schon, dass unser Herz nicht in dieser Weise schlägt, wenn es gesund ist. Ein Dirigent, der diese Musik an seinem Herzschlag orientieren würde, wäre verloren:

5) Rhythmus-Buch Baier CD Tr 1 u.2 mit Ansage: Gesunder Herzschlag & Herzrhstörung

Außergewöhnlich am Boléro ist, dass er unbeirrt sein Tempo hält. Insofern gleicht er eher einer Herzrhythmusstörung.
Aber es ist kein Zufall, glaube ich, dass es unter Musikern einen heimlichen Horror vor der Beschleunigung gibt, wie man sie stereotypisiert in Liedern wie "Kalinka" oder "Hava Nagila" findet. Dieses Vergnügen, sich selbst als Masse in Bewegung zu setzen bis zu einem Höhepunkt, bei dem man umfällt, das hat weniger Erotisches als Soldatisches. Hier zeichnet sich ab, was an dem physischen Urbild der Steigerung musikalisch unbrauchbar ist: sie ist zu simpel. In der Musik muss sie harmonisch oder motivisch begründet sein. Ein und dieselbe Melodie immer schneller zu spielen, ist ein eher humoristisches oder sportliches Unternehmen. Wahre Musik ist differenzierter.
Maurice Ravels "Ondine" ist aus den Wassern aufgetaucht, um einen Menschenmann für sich zu gewinnen, sie streift ihm ihren Ring um den Finger und bittet ihn als Gemahl in ihren Palast. Die Musik wallt auf und nieder.
Aber so einfach ist es nicht: er entgegnet, dass er eine Sterbliche liebe, die Abgewiesene vergießt einige Tränen, stößt ein gellendes Lachen aus und verschwindet in der Tiefe.
6) Ravel "Ondine" Tr. 3 ab 3'13" (Ende:) 6'10"

Sie ist ins Wasser zurückgekehrt und tatsächlich: aus dem Wasser scheint alles gekommen zu sein: das Leben vor allem, aber auch ein besonderes Frauenbild. Klaus Theweleit zitiert in seinem Buch "Männerphantasien" zahlreiche Verse , Wunschbilder, Liebesängste, Angstbewältigungen: Angefangen mit Goethes Versen vom angelnden Fischer:

Und wie er sitzt, und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor;
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor. (...)

Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll.
Wie bei der Liebsten Gruß.

Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war's um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin,
Und ward nicht mehr gesehn.

Bis zu Gottfried Benns Meeres- und Liebesvision:

Liebe - halten die Sterne
über den Küssen Wacht,
Meere - Eros der Ferne -
rauschen, es rauscht die Nacht,
steigt um Lager, um Lehne,
eh' sich das Wort verlor,
Anadyomene
ewig aus Muscheln vor.


Die Musik muss es nicht erst ankündigen, wenn sie zu Wasser wird, sie ist ein Strom von Natur aus, Wagners Ring beginnt auf dem Grunde des Wassers und endet mit dem Blick ins himmlische Feuer, allerdings aus der kühlen Perspektive der Rheintöchter, die eben noch Hagen in die Tiefe gezogen haben. Der Tristan beginnt mit dem Blick auf die Irische See und endet "in des Wonnemeeres wogendem Schwall" - so heißt es im Urtext: wir sehen und hören Isolde "ertrinken, versinken ...in dem tönenden Schall, in des Weltatems wehendem All."
Davon ist der Strom des Boléro, diese gigantische Schlange der Verführung, weit entfernt, - jeder kennt diesen letzten Schub, jeder wartet darauf. Als die Tänzerin Ida Rubinstein 1928 bei der Uraufführung auf der Bühne stand, sah das so aus:
Ein schwach erleuchtetes spanisches Café, die schöne junge Frau beginnt einen lässigen Boléro zu tanzen, allmählich schenken ihr die anderen Beteiligten Beachtung. Die Tänzer werden zunehmend vom Rhythmus hingerissen, es gipfelt in einer allgemeinen Ekstase.
7) Ravel: Boléro hoch / Ende!

Es gibt asiatische Fruchtbarkeitsgesänge, die sich in mikrotonaler Bewegung unendlich langsam, bei fortwährender Wiederholung des Gleichen, in die Höhe schrauben; sie beginnen fast unhörbar und schallen nach einer halben Stunde in der höheren Oktave durchs ganze Dorf. Die magische Wirkung eines solchen Prinzips spürt man - ins rein Dynamische übertragen - auch im Boléro, aber erst die Tatsache, dass er in eine solche Climax mündet, mit dem tierisch stöhnenden Blech und dem heftigen Absturz, gibt ihm die sexuelle Ausstrahlung. Es war wohl auch die erste offensive Demonstration eines (separat von der Melodie!) durchgehenden Rhythmusstrangs in der klassischen Musik. 30 Jahre später ließ Elvis Presley seine Hüften unmissverständlich kreisen, und den Europäern war endlich aufgegangen, dass der Rhythmus und überhaupt der Tanz auf den Ur-Elementen lebendiger Bewegung beruhen.
Der amerikanische Wissenschaftler und Musiker Robert Jourdain schreibt nun allerdings (S.188):
"Vom Rhythmus wird oft behauptet, er sei der 'ursprünglichste Aspekt', die Übertragung von Vorgängen unseres Körpers auf die Musik. Dies ist eine Auffassung vom Kaliber: 'Die Erde ist eine Scheibe': völlig einleuchtend, aber kompletter Unsinn."

Jourdain hält die beliebte Rückführung unseres Rhythmussinnes auf den Herzschlag oder die Atemfrequenz für falsch, - mit gutem Grund. Die psychologisch bedingten Schwankungen des Pulsschlages dürfen sich beim Musiker gerade nicht als Tempowechsel während einer Aufführung niederschlagen. Musiker mit höherem durchschnittlichen Pulsschlag neigen auch nicht dazu, durchweg in schnelleren Tempi zu spielen.
Ebenso falsch, meint Jourdain, sei die andere Sichtweise, dass der Rhythmus aus angeborenen Bewegungsfolgen wie Laufen oder Kopulationsbewegungen resultiert. Ein Großteil solcher Bewegungen läuft automatisch ab, sie beruhen zum Teil auf sehr alten Mechanismen, die im Rückenmark verschaltet sind, und erwecken den Eindruck von "Primitivität", die wir auch gern mit dem musikalischen Grundschlag verbinden. Interessanterweise scheinen wir auch eine Art Ur-Gedächtnis für körperliche Rhythmen zu besitzen. Ein Neugeborenes läßt sich beispielsweise am besten beruhigen, wenn man es im gleichen Rhythmus, den es im Mutterleib erfahren hat, hin und her schaukelt.
Trotzdem, um es vorwegzunehmen, - der Leit-Rhythmus liegt überraschenderweise nicht im Körper, sondern im Gehirn, der Körper würde kaum von sich aus dies Ideal eines fast maschinell gleichmäßigen Pulses zugrundelegen. Seine Sache ist, die vom Gehirn vorgegebenen Schläge zu realisieren, und diese Realisation können wir so deuten, als entspräche sie unmittelbar den Bedürfnissen des Körpers.
Mit andern Worten: wir dürfen uns getrost weiter so verhalten, als habe unser Körper Realität. Der 20jährige Johannes Brahms hat über den langsamen Satz seiner f-moll-Klaviersonate drei Verszeilen gesetzt, die offenbar eine engere Verzahnung der Musik mit der Realität andeuten, - er wollte, dass man sich Konkreteres dabei denkt.
Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint
Da sind zwei Herzen in Liebe vereint
Und halten sich selig umfangen.

Deutlicher hätte man es damals nicht sagen können. Die letzte Zeile gilt dem letzten Teil des Satzes, einer gewaltigen Climax.
Im Bass beginnt es mit einem pochenden Achtel-Herzschlag, der sich zu Triolen und schließlich Sechzehnteln steigert; am Anfang Pianissimo, später gipfelnd in einem Fortissimo 10stimmiger Akkorde. Und danach folgt - besonders bemerkenswert: ein wunderbares Verebben und Zurücksinken ins Pianissimo.
8) Brahms Andante-Schluss / Sonate op. 5 Katchen Tr. 2 ab 8'05"-Ende (12'16")

Die Musik ist so überwältigend, dass man sich instinktiv weigern möchte, sie auf den physischen Vorgang festzunageln. Man könnte ja auch sagen, dass der banale körperliche Vorgang erst in dieser Verherrlichung einen erträglichen Sinn bekommt.
Der Pianist Detlef Kraus, der in seinem Buch über Johannes Brahms als Klavierkomponist den ganzen Satz der f-moll-Sonate op. 5 einer detaillierten Deutung unterzogen hat, sagt, dieser Schluss sei durch das Motto - "Und halten sich selig umfangen" - nicht mehr umschrieben, und er will auch nicht deutlicher werden: "Was sich in diesem großartigen, breiten Schlußteil abspielt, sollte nur von der Musik allein ausgedrückt werden: höchste Ekstase der Liebenden in tiefster Dunkelheit." Und schon hat er zuviel gesagt. Ahnt er nicht, was er anrichtet, wenn er uns darauf hinweist, was hier "nur von der Musik allein ausgedrückt werden" soll?
Schon arbeitet die Phantasie, die dramatische, die visuelle, die von Musik beflügelte, die von allen guten Geistern verlassene - sollen wir sie etwa in ihre dumpfe Höhle zurückschicken?
Nein, die Phantasie, die Imagination ist ohnehin ein Bereich, der seine Nahrung aus der Realität saugt, - ohne der Realisierung zwingend zu bedürfen.

Meine Damen und Herren, manche indischen Improvisationen sind derart gesättigt von sinnlichem Wohlklang und verführerisch gewölbten Melodiebögen, es ist fast unmöglich, keine Bilder zu sehen. (Musik beginnt)

"Gummani djakta..." - "Die Welt ist Illusion" sagt der Text, - und lässt den musikalischen Schleier der Maya um so betörender leuchten.
9) Ali Brothers Tr. 1 ab Anfang bis ca. 2'24"

15 Minuten später ist die Erregung merklich gestiegen: ein neuer Abschnitt beginnt: "Anokha ladela" - "Ein neuer Geliebter".
10) Ali Brothers Tr. 1 ab 15'21" - 17'14" (instr. weg)

Und der schnelle letzte Teil mündet in eine ekstatische Begeisterung, die mit einer Klimax endet. Und danach: seliger Sturz in frühkindliches Wohlbefinden.
11) Ali Brothers Tr. 1 ab 27'35" bis 30'56"
12) Bach CD 2 Tr. 9: Wollust (Orch.vorspiel bis 0'54") bis 4'56"(ab 0'16" Text drüber:)

Kennen Sie diese Musik? Bach - Weihnachtsoratorium - Wiegenlied an der Krippe. Der gesamte Chor der Engel war im vorausgehenden Rezitativ angekündigt worden, stattdessen nun eine einzige Frauenstimme: vielleicht ist es Maria, die ihr Kindlein wiegt und stellvertretend für die Engel singt: "Schlafe mein Liebster, genieße der Ruh..."
(Musik hoch, Sopraneinsatz bei 0'55", ab 1'51" wieder Orchester bis 2'13", folg. Text drüber)

Haben Sie es gemerkt? Das ist gar nicht Maria! "Folge der Lockung entbrannter Gedanken!" Was soll das heißen?! "Schlafe, mein Liebster, und pflege der Ruh. Folge der Lockung entbrannter Gedanken." Und später:
"Schmecke die Lust
Der lüsternen Brust
Und erkenne keine Schranken"
- Ist das zu glauben? Hier treibt die Wollust ihr verführerisches Spiel, und in ihren Armen liegt Herkules! Was für ein ödipaler Hintersinn! Die Buhlschaft singt wie eine Mutter! (Wir armen Männer: immer nur auf der Suche nach der Mama! - - -Gott sei Dank: da ist sie wieder:)
(Musik hoch) (ab 3'38" B-Teil)

Lange vor dem Weihnachtsoratorium entstanden einige der Sätze, die Bach dann mit verändertem Text und Sinn in das geistliche Werk übertrug: Die weltliche Kantate "Herkules am Scheidewege" hatte er als Ermunterung geschrieben für den gerade 11jährigen Enkel August des Starken, - bei dieser Verwandtschaft konnte man wohl eine entsprechende Frühreife voraussetzen. Ich will nicht verschweigen, dass später, nach 8 Minuten Wollust, endlich die Tugend auftritt, um Herkules erfolgreich eines Besseren belehrt. Bald findet er selbst die rechten Worte:
"Verworfene Wollust, ich kenne dich nicht.
Denn die Schlangen,
So mich wollten wiegend fangen,
Hab ich schon lange zermalmet, zerrissen."

(Musik hoch, bis Ende B-Teil bei 4'56")

"Und erkenne keine Schranken" so sang die Wollust in einer Art Wiegenlied und wird sehr bald in ihre Schranken gewiesen. Wenn Don Giovanni Zerlina überredet hat, die Schranken des Anstands und des Standesunterschieds zu vergessen, stimmt sie terzenselig in das wiegende Lied ein: "Gehen wir, die Schmerzen einer unschuldigen Liebe zu stillen."

In seinem Buch "Music and Mind" spricht der Psychiater und Wissenschaftler Anthony Storr vom Phänomen der Ekstase und insbesondere von einem Fall, in dem sie durch dieses Duett aus Mozarts Don Giovanni ausgelöst worden sei: "Là ci darem la mano". Wenn man dafür - abgesehen von der wunderbaren Melodie - einen bestimmten musikalisch-physiologischen Auslöser benennen sollte, wäre er wohl in Zerlinas nachlassendem Widerstand und dem nachfolgenden Wiege-Gesang zu finden, Auslöser dessen, was Sigmund Freud als "ozeanisches Gefühl" bezeichnet hat. Zerlina übernimmt Don Giovannis Melodie zunächst noch etwas zaghaft, eingedenk ihres Mannes Masetto kreist sie relativ standhaft um einen Ton, wenig später beginnt sich neben diesem Ton eine Abwärtschromatik durchzusetzen - "bald bin ich nicht mehr standhaft" -

13a) Don Giovanni CD 1 36'18"- 36'37"

und schließlich ist es so weit:
13b) Don Giovanni CD 1 37'06" - 37'37" (in Schlangenfigur der Streicher weg)

Hier also schon diese freudige Auflösung im wiegenden Rhythmus, die Vorwegnahme der Vereinigung. Selbst eine Schlangenfigur wurde hier gerade von den Geigen eingeblendet. Beobachten wir Don Giovanni, nah seinem Ziel: "Da ist mein Schloss und dort, mein Juwel, werden wir uns vermählen."
14) Don Giovanni: "Là ci darem la mano"CD 1 ab 35'20" - 38'13"
15) Chaurasia "Raga Lalit" = Krschnas Flöte

(Über Musik:) Raga vor Sonnenaufgang: ein bezaubernder junger Mann, der seine Frau betrügt. Nach der Liebesnacht mit seiner Geliebten kehrt er im Morgengrauen zurück
(Raga Guide S. 175 Anm. 139)

Der Indologe Heinrich Zimmer beschreibt in seinem Buch "Maya - Der indische Mythos" (S.91f), wie am Anfang des Abendlandes die Verteufelung der Schlange stand, Herkules erwürgte als Kind in der Wiege die Schlangen, die ihm die Erdmutter Hera schickte, als Heranwachsender bezwang er die vielköpfige Hydra, an ihn lehnt sich das Christusbild:

"des Menschen Sohn, dessen Fuß der Schlange den Kopf zertritt; die überwundene Schlange ist das neue Sinnbild, das sich das Abendland, christlich und antik bestimmt, aus der alten weltweiten Urschlange formte und als Zeichen über seinen Aufgang schrieb. Im indischen Mythos aber sind Mensch und Schlange unlöslich eins in Gott..."

"Im Leibe des indischen Menschen schläft Kundalini, die geringelte Lebensschlange, als animalische Kraft in seiner Tiefe; der Yogin weckt sie durch eigene Übungen, daß sie über die Leiter der Elemente, die Leib wie Weltleib in Schichten füllen, aufwärts steige und einmünde in die überweltliche Sphäre des gestaltlos ruhenden Schiva..."

"Die indische Welt mit all ihrem Grauen ist wohlbewahrt in Gott, ihr Ich ist nicht abgenabelt, einsam auf sich selbst gestellt im Wirbel der Vergänglichkeit, im Wüten der Dämonen. Denn das einzelne Ich weiß sich wie die ganze Welt als eine Blüte auf Zeit; es sieht sich aus dem Schoß zeitloser Wasser wachsen und fühlt diese Wasser im Schoße des eigenen Leibes, es findet sich dort im Bilde der Schlange, die geringelt in seiner Tiefe schlummert. (...)

Das weite Reich in uns, wo wir nicht Ich sind, aber Trieb und Ahnung (...)- dieser bodenlose Raum schaukelt die Blüte des kleinen Ich wie ein Meer. (...)

(Musik hoch bei Rhythmuseinsatz? Tabla ab 1'32")
Heinrich Zimmer schreibt in den 30er Jahren. Wenn er sagt "der Inder" oder "wir" spricht er sozusagen von dessen oder unserem mythologischen Bewusstsein. Zitat:
"Wie sehr sind wir im Abendlande seit Herakles und Christus vergleichsweise aufs Trockene geraten, indes der Inder, mit amphibischer Gelassenheit, (...) das Blütenhaupt des Ich aus den Wellen hebt und schwebend hält, derweilen sein ganzer Schlangenleib noch in den Wassern steckt und, mit seinem Stengel angenabelt an den Schlamm der Tiefe, sich Nahrung saugt.
Dem Inder dieser Mythen ist das Gespinst aus Ich und Welt, das sich Bewußtsein nennt, eine bedingte Wirklichkeit - so wirklich wie Träume." (S.92 )
schreibt Heinrich Zimmer.


Auch Krischna, der flötespielende Gott, hat mit der vielköpfigen Schlange Kaliya im Flusse Yamuna gekämpft, sie aber nicht getötet. Er begann auf ihren Köpfen zu tanzen, und er tanzte bis sie begriff, dass er das Prinzip des Universums ist!
(Musik hoch)

Krischna sagt: "Ich bin die Lust, die alles erschaffen hat."

Meine Damen und Herren, es gibt einige Rätsel in der Vorstellungswelt Indiens, die wir in dieser Sendung nicht auflösen werden. Wir wissen einerseits, dass der indischen Gesellschaft die moralische Bedenkenlosigkeit des modernen Westens völlig fremd ist; man sieht in den zahllosen Liebesfilmen aus Bombay keinen entblößten Körper, selbst vor dem Kuss wird ausgeblendet. Es gibt auch keine Bikini-Schönheiten am Strand des Indischen Ozeans; Frauen, die auf sich halten, begeben sich, in ein Gewand gehüllt, ins Wasser. Wie passt das zusammen mit der freizügigen Darstellung sich liebender Körper an indischen Tempeln? Auch der heutige Inder kennt sein Kamasutra und die entsprechenden Skulpturen der Tempel von Khajuraho oder Konarak. Unübersehbar auch die zahllosen Lingam-Säulen, das Phallussymbol, oft ergänzt durch den weiblichen Widerpart:

"Die Yoni-Lingam-Skulptur versinnbildlicht den Schöpfungsakt. Sie verweist auf die Vereinigung des Gottes Shiva mit Shakti, seinem weiblichen Aspekt. Shiva wird durch einen Phallus (Lingam) und Shakti durch eine Vulva (Yoni) symbolisiert. Beide Zeichen können auch einzeln dargestellt sein. Wenn nur ein Shiva-Lingam abgebildet wird, ist damit das Prinzip der Ruhe gemeint. Erst Shakti bewegt den meditierenden Gott, sie ist das energetische Prinzip. Die Verschmelzung der beiden Aspekte wird zum Sinnbild der Schöpfung als neue Einheit aus aktiven und passiven Wesenszügen."
(Prospekt Düsseldorf "Altäre")

Wie lässt sich dieses visualisierende Prinzip praller Symbole mit der vorherrschenden Prüderie des Verhüllens vereinbaren? Die Inder selbst verweisen vielleicht auf den Einfluss des Islams oder auf die Engländer, wahrscheinlich gibt es aber schon entsprechende Brahmanen-Gebote.
Und es gibt Zwischenstufen: wenn man die neue Bibel der im Westen weit verbreiteten Krischna-Bewegung liest, bemerkt man die fortwährende Tendenz, den Lust-Aspekt Krischnas ins Transzendente abzubiegen: Das ist gar nicht so einfach, denn Krischnas Flötenspiel bezaubert die Gopis, die Hirtinnen, nicht nur rein musikalisch. Dass er ihnen beim Nacktbaden auflauerte, ihre Kleider stahl und sie auf diese Weise neckisch zwang, unbekleidet vor ihm zu erscheinen, - dies Spiel wird durch fromme Deutung nur mühsam im Lustfaktor gemildert. An anderer Stelle wird der heilige Tanz des Gottes mit den Gopis beschrieben:
"Als Krsna die verschiedenen Teile ihres Körpers berührte, fühlten die gopis, wie sie von spiritueller Energie durchdrungen wurden. Sie versuchten vergeblich, ihre gelockerten Kleider wieder richtig anzuziehen. Ihr Haar und ihre Kleider gerieten durcheinander, und auch ihr Schmuck löste sich, als sie sich völlig Krsnas Gemeinschaft hingaben und alles andere vergaßen." (S.216)

Wenig später wird versichert, was das Wunderbare an Krsnas Spielen mit den gopis war:
"daß es dabei nicht die geringste Spur von sexuellem Verlangen gab." (S.217)

An anderer Stelle wird dergleichen eingeräumt, aber ausdrücklich auf "die sittenlosen Eingeborenenmädchen" bezogen; die sahen das von seinen Lotosfüßen gefallene rötliche Pulver auf dem Waldboden.
"Sowie die lustvollen Eingeborenenmädchen, die ihre Blicke auf den flötespielenden Krsna richteten, den roten kun-kuma entdeckten, nahmen sie ihn vom Boden auf und rieben ihn sich über Gesicht und Brüste. Auf diese Weise wurden sie vollkommen zufriedengestellt, wohingegen sie nicht befriedigt waren, wenn ihre Liebhaber ihre Brüste berührten. Alle materiellen lustvollen Verlangen können augenblicklich gestillt werden, wenn man mit dem Krsna-Bewußtsein in Berührung kommt." (S.149)
(Musik kurz hoch)
Die Zitate stammen aus einem Krsna-Buch, dessen gesamte Druckkosten 1987 durch eine großzügige Spende des Beatles George Harrison getragen wurden, "...der mittlerweile ebenfalls Hare Krsna chantet...", wie das Vorwort sagt (nach Harrisons Tod wird "My sweet Lord" gerade zum zweiten Mal ein Bestseller).

Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen diese neue Sicht auf den Gott Krischna vorgelesen, um anzudeuten, welche Kräfte ins Werk gesetzt werden, um den offen und unschuldig in Szene gesetzten Trieb zu entschärfen, auf dass wir am Ende nur noch die lustvolle Musik im Ohr haben und auf den Augen eine unsichtbare Brille, die hilft, auf Bildern und in der Realität anderes zu sehen, als offensichtlich gemeint ist.

Trotzdem ist hervorzuheben, dass die Verdrängung des Sexuellen in Indien ganz andere Ursachen hat als im christlichen und islamischen Westen. Sie ist vor allem nicht mit Schuld verknüpft worden. Michel Foucault schreibt in seinem grundlegenden Buch "Sexualität und Wahrheit":
"Historisch gesehen gibt es zwei große Verfahren, die Wahrheit des Sexes zu produzieren. Auf der einen Seite die Gesellschaften - und ihrer waren viele: China, Japan, Indien, Rom, die arabisch-islamischen Gesellschaften - die sich eine ars erotica gegeben haben. In der Kunst der Erotik wird die Wahrheit aus der Lust selber gezogen, sie wird als Praktik begriffen und als Erfahrung gesammelt. Nicht im Hinblick auf ein absolutes Gesetz des Erlaubten und des Verbotenen und nicht unter Bezugnahme auf ein Nützlichkeitskriterium wird die Lust gesehen, sondern zunächst und allererst in Bezug auf sich selbst ist sie als Lust zu erkennen, also in ihrer Intensität, ihrer spezifischen Qualität, ihrer Dauer und ihren Ausstrahlungen im Körper und in der Seele. (...)
Unsere Zivilisation besitzt, zumindest auf den ersten Blick, keine ars erotica . Dafür ist sie freilich die einzige, die eine scientia sexualis betreibt. Beziehungsweise die einzige, die im Lauf von Jahrhunderten, um die Wahrheit des Sexes zu sagen, Prozeduren entwickelt hat, die sich im wesentlichen einer Form von Macht-Wissen unterordnen, die der Kunst der Initiationen und dem Geheimnis des Meisters streng entgegengesetzt ist: es handelt sich um das Geständnis."
Soweit Michel Foucault.

Die Stützen der zum Geständnis führenden hochnotpeinlichen Sex-Befragung waren: die Beichte, das Gerichtsverfahren und die medizinische Untersuchung. Kein Wunder, dass es eine Sexualität zum Fürchten wurde.

Und wen könnte es da noch überraschen, dass die Wahrheit der Sexualität bei anderen unvermuteten Gelegenheiten mit Gewalt aus der Finsternis hervorbricht?
16) Schumann: Kreisleriana Martha Argerich Tr. 14 "Äußerst bewegt" 2'35"

Der französische Philosoph Roland Barthes sagt:
"In den 'Kreisleriana' von Schumann höre ich eigentlich keine einzige Note, kein Thema, keine Grammatik, keinen Sinn, nichts, was eine irgendwie geartete intelligible Struktur des Werks wiederherzustellen erlauben würde. Nein, was ich höre, sind Schläge: ich höre das, was im Körper schlägt, was den Körper schlägt, oder besser: diesen Körper, der schlägt." Barthes könnte natürlich sagen: der ganze Körper schlägt wie ein Herz, aber er versucht, mutigere Metaphern für das zu finden, was er an musikalischer Substanz in der Tiefe des Körpers wahrnimmt: "Das romantische 'Herz'... ist ein starkes Organ, Extremum des Körperinneren, wo gleichzeitig und wie im Widerspruch zueinander die Begierde und die Zärtlichkeit, das Liebesverlangen und der Lockruf der Wollust sich mit Gewalt vermischen."

Und er wird noch deutlicher in der Physiologisierung ätherisch-ästhetischer Begriffe:
"'Seele', 'Gefühl' und 'Herz' sind die romantischen Namen für den Körper. Alles wird im romantischen Text klarer, wenn man den verströmenden, moralischen Begriff mit einem körperlichen, triebhaften Wort übersetzt - und nichts nimmt dabei Schaden: die romantische Musik ist gerettet, sobald der Körper zu ihr zurückkehrt..."

Was Roland Barthes meint, ist hier nicht in aller Kürze zu erfassen. Vielleicht versuchen wir es mit seinen befremdlichen "Schlägen" des Körpers! Schlagen Sie einfach mal mit: hier ist eine rhythmisch sehr eindeutige Aufnahme des 7. Satzes der "Kreisleriana", eine andere wird gleich folgen.
17) 5019 875 2 Kreisleriana Lars Vogt Tr. 7 "Sehr rasch" Anfang bis 0'36"(am Anfang mitschlagen!)

"Es handelt sich nicht darum mit den Fäusten gegen die Tür zu schlagen, in der Art wie es vom Schicksal angenommen wird",
sagt Roland Barthes, und weiter:
"Es muß im Inneren des Körpers schlagen, gegen die Schläfe, im Geschlecht, im Bauch, gegen die innere Haut, es muß direkt dieses ganze Sinnlich-Emotionale schlagen, das aus (verschiedenen Gründen) das 'Herz' genannt wird."

Gefährliche Worte, wenn man sie schlicht irrational versteht. So sind sie nicht gemeint, sondern - sagen wir - unakademisch. Ob Martha Argerichs Interpretation in diesem Sinne akzeptabel ist? Ich wage es nicht zu entscheiden. Vergessen Sie den Herzschlag, der Ihnen zunächst nochmal ans Herz gelegt wird; versuchen Sie danach einfach, so präzise wie möglich mitzuschlagen.
18) Rhythmus Buch-CD Tr 1 mit Ansage: "Ein gesunder Herzschlag..." ca. 1'
19) Schumann: Kreisleriana / Martha Argerich Tr.20 "Sehr rasch" 2'06"

Sie haben den schnellen Teil noch genau in Erinnerung?
Man könnte 100 Pianisten befragen, ob eine solche Rhythmusbehandlung zulässig ist. Ich glaube: an der Hochschule wäre es mit Recht verboten, Martha Argerich muss man es erlauben. Wer möchte ihre Lebendigkeit mindern? Ist es denn pure Selbstherrlichkeit? Ich muss hinzufügen: das Stück wirkt im weiteren Zusammen-hang durchaus nicht willkürlich, die Pianistin befindet sich auf einer großen emotionalen Fahrt und wirft den Kompass über Bord.
Meine Damen und Herren, als die europäischen Künstler in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts Afrika entdeckten, oder auch Bali, oder auch sogenannte "primitive" Kunst, "wildes" Denken usw., ahnten sie zumeist nicht, in welchem Maße die scheinbare Urwüchsigkeit von strengsten Regeln durchzogen waren. Dass Nacktheit dort mehr mit Klima zu tun hat als mit sexueller Freizügigkeit und dass die Abwesenheit von Scham in einem Punkt nicht mit Libertinage zu tun hat, sondern aus unserer Sicht nur die tausend anderen Punkte verbirgt, durch die der Einzelne verflochten ist mit einem engmaschigen System von sozialen, natürlichen und übernatürlichen Beziehungen und doppelten Böden.
Roland Barthes sagte über Japan:
"Dort gibt es die Sexualität nur im Sex und nirgendwo sonst. In den USA ist sie überall, ausgenommen im Sex."

In einem entlegenen rumänischen oder ostserbischen Dorf gab es nie die Zwangsaufklärung durch die Medien; über die Vorgänge, die in den Varietés der nächsten Großstadt aufgeheizt und zugleich verweigert werden, weiß jedes Kind genug aus eigenen "Feldstudien". Mit den schnellen Vorwärts-und Rückwärts-Schritten des Tanzes Sochitz - die "Maus" -, assoziiert die Jugend das Heraus und Hinein am Mauseloch ebenso wie die Coitus-Bewegung. In einem Dorf auf Sri Lanka besingt ein Sänger mit 4 Mädchen das weibliche Geschlechtsteil, das einer kostbaren Blume gleicht, die allerdings den Eremiten in seiner einsamen Meditation irritiert. Genial: er weiß, was heute schon mal als Sensation der botanischen Wissenschaft verkauft wird: wie sich die Blumen präsentieren, ist eine einzige Obszönität! Heinrich Heines Lotosblume macht da keine Ausnahme, mag er sie noch so blumenreich umschreiben. Dagegen das flötespielende Hamar-Mädchen in Süd-Äthiopien: es bewacht das Hirsefeld gegen Vögel, Affen und andere Tiere; außerdem hilft sie der Hirse beim Wachsen, indem sie Flöte spielt. Sie weiß, dass der Name der Flöte - "woissa": "das, was das Aufrechtstehen verursacht" - auf das gute Gedeihen der Hirse bezogen ist ... und außerdem auf die Erektion des Mannes. Das Mädchen darf und soll die Flöte spielen, aber eine Flöte herzustellen, ist nur den jungen Männern erlaubt. Und hier ist die Maus!
20) Musikfolge Ostserbien / Sri Lanka / Robert Schumann / Äthiopien
a) Ostserbien Flöten+alle
b)Sri Lanka "Narilata"
c) "Die Lotosblume" ab 0'39"
c) Hamar "Woissa"
[d) Ostserbien ?] 2:54 bis 7:35

Die Hamar in Süd-Äthiopien singen folgendes Lied:
"Die Kinder vom Armo-Felsen und vom Kuz-Baum sind zum Tanz gekommen. Die jungen Männer-Falken stürzen sich auf die Mädchen wie auf Wild.- Wenn die jungen Männer die Mädchen für die Liebe greifen wollen, laufen die Mädchen weg.- Wenn der Abend kommt, hat der schlaue Mann sein Mädchen gefunden und es auf den Rücken gelegt."
Um den Inhalt dieses Liedes wahrheitsgemäß zu interpretieren, würde man wirklich eine Untersuchung schreiben müssen, am besten mit verschiedenen Beichten und Gerichtsgutachten, es sei denn man hätte einen Experten wie den Ethnologen Ivo Strecker an der Hand, der diese Lieder gesammelt hat, der bei den Hamar gelebt und studiert hat.
Sonst ist die Gefahr groß, dass man diese Verhältnisse so versteht wie ein Russe in Paris, der die orgiastischen Rhythmen einer vorzeitlichen heidnischen Welt erfindet und die Vision hat, dass als Höhepunkt eines mythischen Frühlings mindestens ein (auserwähltes) Mädchen geopfert werden muss, während die Männerwelt sich aufs Segnen beschränkt.
21) Stravinsky Sacre CD 1 Tr. 14 (event. erst ab 2'00") 4'42"

Der Schluss von Igor Strawinskys Sacre du Printemps. Und selbstverständlich: er macht keine Aussage über die heidnische Welt, sondern brauchte einen Stimulus, aufregend neue Musik zu erfinden.
Möglicherweise ist es ja richtig, dass alles Brave aus der Musik verschwinden muss, wenn ihre Wahrheit zum Vorschein kommen soll?? Und wo bleibt das Behagliche? das sorgsam Ausbalancierte? das Humane? Es ist nach wie vor vorhanden, aber nicht Gegenstand dieser Sendung, die ja den vulkanischen Untergrund begutachtet, ohne die Blumenwiesen der vulkanischen Landschaft zu missachten, die ja auch nicht ganz ... ohne sind.
Wissen Sie etwas über die Alchemie der Akkorde? Was es bedeutet, sinnvoll oder "logisch" von einem Akkord zum nächsten zu kommen und noch weiter und wieder zurück? Diese einfache Akkordfolge, die Erfindung der Kadenz, gehört zu den genialsten Erfindungen des Abendlandes.

Aber nun Richard Wagner!
Seine Manie, aus der privaten Erfahrung unerfüllbarer Liebe den Trieb eines Akkordes, seinen Auflösungsdrang, seine Strebefähigkeit durch Alteration einzelner Töne auf ungeahnte Weise zu steigern, zugleich aber die entspannende Auflösung des Akkordes zu unterbinden, weil sie nicht seiner Erfahrung entspricht: der neue Akkord ist ein anderer als der erwartete, und er ist wiederum ein Strebeklang. Die Liebe selbst ist kaum auflösungsfähig, sie beginnt als ein Hauch des Leidens an der Welt und sie gipfelt in einer Raserei, die der planvollen Selbstauslöschung vorangeht.
Der Aufprall der Liebenden im zweiten Aufzug des Tristan wird von peitschenden Drehfiguren begleitet, die auf ein Ziel drängen, das auch wirklich eintritt, um sich sogleich als nur vorläufig zu erweisen: der Wirbel baut sich fortwährend von ganz unten aufs neue auf. Wann wir auch ausblenden, es ist immer der falsche Zeitpunkt.

22) Tristan CD 2 Tr. 2 ab 12'12" (Ende:) 13'02" Tr. 3 ab 0'00" bis 1'48"

Es ist furchtbar, hier abzubrechen, aber noch furchtbarer ist der von Wagner selbst eingebaute Interruptus am Ende dieser intensiven Begegnung zwischen Tristan und Isolde. Die Liebenden sind durch Melot verraten worden und werden von dem betrogenen König Marke in flagranti überrascht.
23) Tristan CD 2 Tr. 8 ab 6'10" - 7'37" (Ende) Tr. 9 0'00 bis ca. 0'48" 2'15"

Was Wagner über seine Dramen gesagt hat, dass sie ersichtlich gewordene Taten der Musik seien, lässt uns ahnen, was für furchtbare Geheimnisse nun erst in manchen Instrumentalwerken stecken mögen. In der Tat hat man versucht sie zu entschlüsseln, ihre Wahrheit aufzudecken.
Sie liegt aber nicht im Biographischem, sie liegt vielleicht in den intelligenten Strukturen, aber auch in den daraus hervorspringenden und sogar struktur-gefährdenden Emotionen, in ihrer - mit Worten nicht zu fassenden - Vielschichtigkeit. Alles andere kann man leichter Hand abweisen: der gewaltigste, rein musikalische Trugschluss würde nicht ausreichen uns so zu erschüttern wie König Markes leibhaftiges Erscheinen.
Die Oper macht es uns weniger schwer - oder auch ganz im Gegenteil: hier haben Sie drei eindeutige, vordergründige Realitäten: die Bühne samt wortgebundenen Aktionen, die Musik, die sich nicht nur verstärkend, sondern auch kommentierend und ironisierend verhalten kann; schließlich noch das auf diese Aspekte reagierende, individuell unterschiedlich ausgestattete Gehirn des Zuschauers.

Ein Experiment! Dmitri Schostakowitsch: Lady Macbeth von Mtsensk, 1. Akt, 2. Bild. Auf dem Hof der Ismailows: Einige Arbeiter tun der Köchin Axinja Gewalt an, sie begrapschen die Frau, und der brutale Spaß droht zu einer Vergewaltigung auszuarten. Der skrupellose Sergej tut sich dabei besonders hervor. Die neue Herrin des Hauses Katerina tritt dazwischen und stellt ihn zur Rede. Sie wird ihm später selbst zum Opfer fallen.
Die Szene ist abstoßend, die Männer sind primitiv und die Erniedrigung der Frau ist peinlich. Aber da ist noch etwas: die Wildheit der Musik versetzt uns in eine Erregung, die vielleicht "nur" musikalischer Natur ist, die uns aber gerade in dieser Koppelung zur Distanzierung zwingt.
Ist das nicht die alte Rolle, die das Abendland dem Sexuellen zugewiesen hat: die Rolle der peinlichen Selbsterforschung, die zur Beichte, ins Gefängnis oder in die Klinik führt?

24) Lady Macbeth CD 1 Tr. 5 ab 0'00" (ab 2'22" Dial. Sergej/Katerina) Ende 2'32"

Man sagt so leicht: der Mensch w i r d zum Tier, dabei ist doch ausgemacht, dass er dies immer geblieben ist, und zwar auf eine besonders vertrackte Weise: seine Vitalität wurzelt in dieser Verbindung. In seiner alltäglichen Beziehung zur "Realität". Daran denkt er den ganzen Tag - oder wie die Statistik sagt: alle 10 Minuten. Oder waren es Sekunden?. Die Franzosen sprechen vom "Kleinen Tod", der Schwabe in seiner unnachahmlichen Verniedlichung vom "Jetzetle"; es wartet nur darauf, von einem vorwitzigen Philosophen mit dem mystischen "Nun" in Verbindung gebracht zu werden.
Wenn man heute - irritiert durch die Allgegenwart der Sex-Themen in den Medien und das Fortdauern des Unbehagens in der Kultur - in die seriöse Literatur zu diesem Thema schaut, bemerkt man schnell, dass nach wie vor die meisten Fragen offen sind. Nicht die Aufklärung hat zugenommen, sondern der Druck, sich aufgeklärt zu geben und keine Hemmungen zu zeigen, - dabei hat sich offensichtlich nur die Schamlosigkeit erhöht, nicht aber die Zahl der beneidenswert glücklichen Menschen.

In aller Kürze wenigstens ein paar Stationen der Aufklärung:

Sigmund Freud setzt in seine Untersuchung zum Phänomen der "Verdrängung" ein Kapitel "Über die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens": gleichgültig, wie wir zu seinen ödipalen Theorien heute stehen, seine Fragestellung, weshalb der Mann zur Demütigung der Sexualpartnerin neigt, während sie anders auf eine verkorkste Sozialisierung reagiert, erscheint nach wie vor ungelöst und wird bei Schostakowitsch beklemmend in Szene gesetzt.

Ein wenig bekannter, scharfsinniger Bilder-Traktat von John Berger "Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt" zeigt, dass der verfügende männliche Blick auf die Frau sich durch die ganze Geschichte der Ölmalerei bis in die Bildersprache der heutigen Werbung zieht. Die Nacktheit ist - wie jeder ahnt - durchaus kein rein ästhetisches Phänomen, - immer sagt sie zugleich: "Du bist nicht die unverwechsel-bare Person, die du scheinst, du bist: ein Exemplar der Gattung." Das zieht sich durch die Geschichte, - Paradestück: "Cosi fan tutte". Der eine gerät bei dieser Feststellung in Verzückung, der andere sieht Anlass zu Gemeinheiten, und bei manchen gehört das eine zum Vorher, das andere zum Nachher. Gleich werden Sie das grässliche Lachen Sergejs hören: NACHHER. Es heißt: ich kenne dich, mir kannst du nichts mehr vormachen. Der primitive Triumph: - nackt, ohne dass eine Entschleierung des Bildes von Sais stattgefunden hätte. Realität!

Christina von Brauns eben erschienenes fundamentales Buch "Versuch über den Schwindel." Untertitel: Religion, Schrift, Bild, Geschlecht" ist ein Steinbruch von Wissen wie früher Klaus Theweleits "Männerphantasien".
Sie schreibt:
"In der Pariser Ecole de Médecin steht eine Statue, die [ebenfalls] die sexuellen Implikationen d[ies]es wissenschaftlichen Blicks verdeutlicht. Sie trägt den Titel: 'Die Natur entschleiert sich vor den Augen der Wissenschaft' und stellt die schamvolle Selbstentkleidung eines weiblichen Körpers dar. Anders als der alttestamentarische Begriff des 'Erkennens', der auch Sexualität mit Wissen verbindet, dabei aber vor allem die Erkenntnis der eigenen Unvollständigkeit oder Sterblichkeit hervorhebt, stellt dies naturwissenschaftliche 'Erkennen' einen einseitigen Vorgang dar. Dieses 'Erkennen' beinhaltet das Eindringen in und die Inbesitznahme von Weiblichkeit und damit ein Omnipotenzphantasma." (S. 5)

Der mehrfach erwähnte Michel Foucault untersucht in seinem Buch "Sexualität und Wahrheit", auf welchen Wegen sich im Abendland die Strategien der Macht in alle Formen der Lust eingenistet haben, um sie zu verdächtigen und zu kontrollieren. Zum Paradigma der Wahrheitsfindung avanciert die Konfession, die Beichte, das Geständnis, die medizinische Diagnose: unentwegt wird geredet, bekannt, gebeichtet, nur von Genuss ist nicht die Rede. Es geht um die Durchsetzung latenter Gewalt und Kontrolle. Die unglückliche Natur selbst schien danach zu verlangen.

Als Alice Schwarzer den Kampfbegriff "Penetration" in die Debatte geworfen hat, haben viele mit ironischem Lächeln auf die Natur gewiesen: da steht die Schuldige. Aber bei Klaus Theweleit kann man mit Staunen nachlesen, dass auch die Evolutionsbiologen es gar nicht so frohgemut sehen:
" Als es überhaupt noch keine Landlebewesen gab, gab es auch noch keinen Paarungsakt durch Eindringen. Dieser sei entstanden, als durch Austrocknen der Meere die Wassertiere aufs Land mussten (...) An Land entbrannte ein Kampf um Wasser; die Männchen entwickelten erektile Penisse und die Weibchen seien gezwungen worden, das Eindringen zu erdulden und sich selbst "zum Meere machen zu lassen". Um es abzukürzen: die Biologen beschreiben im Zusammenhang mit dieser Entwicklung "eine wirklich fatale Koppelung des männlichen Paarungsverhaltens mit der Fähigkeit zur unbegrenzten Gewaltausübung. Zum Glück entwickelte sich die Geschichte in Widersprüchen; so auch hier. Um das Weibchen zu beschwichtigen, um es quasi zu über"reden" (die Sprache war noch nicht vorhanden), (...) sei das ganze soziale Zärtlichkeitsverhalten (lausen, streicheln, liebkosen, küssen, warmhalten etc.), das bei den Affen und anderen sozialen Tierarten vorhanden ist, aber dort mit dem Paarungsakt überhaupt nichts zu tun hat , in den menschlichen Liebesakt integriert worden; die menschliche Fähigkeit zur Liebe sei erwachsen aus der Einführung der Gewalt in die menschliche Paarung..."
(Theweleit S.301 f)

--- Zugleich die Fähigkeit, sich gegenseitig unglücklich zu machen.

Katerina ist unglücklich, der ungeliebte Mann ist fort, und sie klagt: Zärtlichkeit gebe es selbst bei Tieren, aber "niemand liebkost mich." Da klopft es, Sergej nähert sich unter fadenscheinigem Vorwand. Die Situation des Vorher und Nachher, es dauert 2 Minuten, beginnt mit: "Du mein Leben, du meine Freude!" endet mit dem Gelächter "...das habe ich noch nie erlebt, dass eine verheiratete Frau sich mir so schnell hingibt."
25) Lady Macbeth CD 1 Tr. 10 ab 0'00" (2'34") bis 7'57" (Boris von fern)
26) Music Appreciation I (Vidya Rao) ab 1'23" bis 2'22"
"Two objects must strike each other to produce nad - there must be aghat.
(Musikbeispiel: Bell, gong)
"It is significant that aghat means 'to strike' or 'to wound'. It is only when silence is wounded that nad may arise. At the heart of our music, then, is this admission of vulnerability, this recognition that the heart must be pierced, one must willingly surrender oneself to the pain of the wounding of silence. Only then will the joy and beauty of music, the most perfect art form, be born."
(Vidya Rao in: Music appreciation I)
(nächste Musik beginnt)
Ist es nicht tröstlich, von dieser eifrigen indischen Stimme, die alles weiß, offiziell zu erfahren, dass die Welt trotz allem in Ordnung ist? Dass vor dem Beginn des Klanges 'Nad' und der Musik nun einmal die Verwundung der Stille steht? Im Herzen unserer Musik steht das Einverständnis mit dieser Verletzung, die Erkenntnis, dass das Herz durchbohrt werden muss...., damit die Freude und die Schönheit der Musik, die perfekteste Kunstform der Menschen, zur Welt kommen kann.
Meine Damen und Herren, nehmen Sie dies als versöhnlichen Ausklang. Ich bin nur der Bote, das Problem habe ich nicht erfunden, ich gehöre, wie Sie vielleicht auch, eher zu denen, die es erleiden, aber ganz so schlimm ist es ja auch wieder nicht, dank der Musik.
Alles, was mich an Literatur zu diesem Thema beeindruckt hat, steht auf einer Liste, die Sie anfordern können, in Kürze auch eine Musikliste.
Hörertelefon: 0800-5678-333. Für die Technik sorgte Thomas Grahl. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, der von Irritationen nicht einmal frei sein muss.
Hauptsache: ... schön. Ihr J.R.
27) Hariprasad Chaurasia wie 15)

LITERATUR

  • Gerold Baier
    Rhythmus - Tanz in Körper und Gehirn
    (incl. CD)
    Reinbek b. Hamburg 2001
  • Roland Barthes
    Was singt mir, der ich höre, in meinem Körper das Lied
    Berlin 1979
  • John Berger
    Sehen - Das Bild der Welt in der Bilderwelt
    Reinbek b. Hamburg 1974
  • Christina von Braun
    Versuch über den Schwindel - Religion, Schrift, Bild, Geschlecht
    Zürich München 2001
  • Antonio R. Damasio
    Ich fühle also bin ich - Die Entschlüsselung des Bewusstseins
    München 2000
  • Michel Foucault
    Sexualität und Wahrheit - Der Wille zum Wissen
    Frankfurt a.M. 1977
  • Sigmund Freud
    Über die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens
    (aus: Die Verdrängung 1915) in: Das Unbewusste
    Schriften zur Psychoanalyse
    Frankfurt a.M. 1965
  • Robert Jourdain
    Das wohltemperierte Gehirn - Wie Musik im Kopf entsteht
    Heidelberg, Berlin 1998
  • Gerhard Schweizer
    Indien - Ein Kontinent im Umbruch
    Stuttgart 1995
  • Wolfgang Schluchter: Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus
    Frankfurt a.M. 1984
  • Anthony Storr: Music and the Mind
    New York 1993
  • Klaus Theweleit
    Männerphantasien 1 - Frauen, Fluten, Körper, Geschichte
    Hamburg 1980
  • Heinrich Zimmer: Maya - Der indische Mythos
    Stuttgart 1936



MUSIKLISTE (WDR)

  1. Wolfgang Amadeus Mozart
    Ouvertüre und Rezitative aus: Don Giovanni (Ausschnitt)
    The London Classical Players, Ltg.: Roger Norrington
    EMI Classics CDS 7 54859 2
    LC: 6646 5012 788
    CD 1 <1>,
    Index 1-3 7'46
  2. Wolfgang Amadeus Mozart
    Quartetto: Non ti fidar, o misera, aus: Don Giovanni (Ausschnitt)
    Andreas Schmidt, Amanda Halgrimson u.a.
    The London Classical Players, Ltg.: Roger Norrington
    EMI Classics CDS 7 54859 2
    LC: 6646 5012 788
    CD 1 <1>,
    Index 19 1'00
  3. Wolfgang Amadeus Mozart
    Vedrai, carino Ouvertüre aus: Don Giovanni (Ausschnitt)
    Nancy Argenta, Gerald Finley u.a.
    The London Classical Players, Ltg.: Roger Norrington
    EMI Classics CDS 7 54859 2
    LC: 6646 5012 788
    CD 2 <2>,
    Index 9 1'25
  4. Maurice Ravel
    Boléro (Ausschnitt)
    Chicago Symphony Orchestra, Ltg: Sir Georg Solti
    Decca 440 273-2
    LC: 0171 5026 248 0
    <1> 4'39
  5. CD "Rhythmus - Tanz in Körper und Gehirn"
    CD zum Buch "Rhythmus - Tanz in Körper und Gehirn",
    Reinbek b. Hamburg 2001
    Nr.: N.N.
    LC: N.N. Privat-CD
    <1-2> 1'35
  6. Maurice Ravel Ondine (Ausschnitt)
    Dominique Merlet, Klavier
    Circé 87125/26
    LC: N.N. Privat-CD
    CD 1 <3> 3'57
  7. Johannes Brahms Andante, aus: Sonate f-moll op. 5 (Ausschnitt)
    Julius Katchen, Klavier
    Decca 2LC 6 455-247
    LC: N.N.
    Privat-CD
    <2> 4'11
  8. Trad.: Raga Darbari Kanarra (Ausschnitt)
    Ustad Nazakat Ali Khan, Gesang/Tambura; Ustad SalamatNazakat Ali Khan, Gesang, Svaramandara
    World Network/WDR 55.837
    LC: 6759 Privat-CD
    <1> 7'47
  9. Johann Sebastian Bach Aria: Wollust:"Schlafe, mein Liebster", aus: "Laßt uns sorgen, laßt uns wachen", BWV 213
    Efrat Ben-Nun, Soprano; Akademie für Alte Musik Berlin, Ltg.: René Jacobs
    harmonia mundi hmx 2951544.45
    LC: 7045 Privat-CD
    CD 2 <9> 4'56
  10. Wolfgang Amadeus Mozart La ci darem la mano, aus: Don Giovanni (Ausschnitt)
    Andreas Schmidt, Amanda Halgrimson u.a.
    The London Classical Players, Ltg.: Roger Norrington
    EMI Classics CDS 7 54859 2
    LC: 6646 5012 788
    CD 1 <1>,
    Index 15 2'27
  11. Trad.: Raga Lalit Darbari Kanarra (Ausschnitt)
    Pandit Hariprasad Chaurasia, Flöte; Zakir Hussain, Tabla u.a.
    SNCD 70898 (Promotion-Copy; produziert von Shefali Nag, Indische Tanzschule Chhandra Dhara, Stuttgart)
    LC. N.N. Privat-CD
    <1> 12'03
  12. Robert Schumann "Äußerst bewegt", aus: Kreisleriana op. 16
    Martha Argerich, Klavier
    Deutsche Grammophon 410 653-2
    LC: 0173 5000 207 0
    <14> 2'35
  13. Robert Schumann "Nicht schnell", aus: Kreisleriana op. 16
    Lars Vogt, Klavier
    Eigenproduktion 5019 875 1
    <7> 0'36
  14. CD "Rhythmus - Tanz in Körper und Gehirn"
    CD zum Buch "Rhythmus - Tanz in Körper und Gehirn",
    Reinbek b. Hamburg 2001
    Nr.: N.N.
    LC: N.N. Privat-CD
    <1> 1'10
  15. Robert Schumann "Sehr rasch", aus: Kreisleriana op. 16
    Martha Argerich, Klavier
    Deutsche Grammophon 410 653-2
    LC: 0173 5000 207 0
    <20> 2'06
  16. Igor Stravinsky "Danse sacrale", aus: Le sacre de printemps (Ausschnitt)
    Israel Philharmonic Orchestra, Ltg. Leonard Bernstein
    Deutsche Grammophon 445 538-2
    LC: 0173 5016 702
    CD 1 <14> 2'42
  17. Richard Wagner Zweiter Aufzug, aus: Tristan und Isolde (Ausschnitte)
    Wolfgang Windgassen, Birgit Nilson u.a.;
    Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele, Ltg. Karl Böhm
    Deutsche Grammophon 419 889-2
    LC. 0173 5006 117
    CD 2 <2, 3, 8, 9> 4'13
  18. Dmitri Shostakovich Zweites Bild, aus: Lady Macbeth of Mtsensk (Ausschnitt)
    Maria Ewing; Sergei Larin u.a.;
    Orchester et Choeurs de l'opéra Bastille, Ltg: Myung-Whun Chung
    Deutsche Grammophon 437 511-2
    LC: 0173 5013 288
    CD 1 <5> 2'32
  19. Dmitri Shostakovich Zweites Bild, aus: Lady Macbeth of Mtsensk (Ausschnitt)
    Maria Ewing; Sergei Larin u.a.;
    Orchester et Choeurs de l'opéra Bastille, Ltg: Myung-Whun Chung
    Deutsche Grammophon 437 511-2
    LC: 0173 5013 288
    CD 1 <10> 7'57
  20. Trad. Vidya Rao
    Vinay Bhide, Gesang; Ram Kishore Das, Pakhawaj; Ramzan Khan, Tabla u.a.
    CD: Music Appreciation
    CD-A92017
    LC: N.N. Privat-CD
    <1> 0'50
  21. Trad.: Raga Lalit & Darbari Kanarra (Ausschnitt)
    Pandit Hariprasad Chaurasia, Flöte; Zakir Hussain, Tabla u.a.
    SNCD 70898 (Promotion-Copy; produziert von Shefali Nag, Indische Tanzschule Chhandra Dhara", Stuttgart)
    LC. N.N. Privat-CD
    <1> 2'14
© Dr. Jan Reichow 2008Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < fürs Radio <
Musikpassagen 30.Januar 2002 - Körper, Trieb, Gewalt und Geist