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Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Musikpassagen 21.September 2006 - Lebensfremdheit der Musik

Musikpassagen
WDR 3 Donnerstag 21. September 2006, 15:05 - 17:00 Uhr
mit Jan Reichow

Von der Lebensfremdheit der Musik, dem Sinn des Lebens und anderem Unsinn
Wozu braucht man Töne, Verse, Rhythmen, symbolische Formen?
Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Frédéric Chopin, Shivkumar Sharma, Johannes Brahms, Gustav Mahler, Vilayat Khan und Béla Bartók;
Texte von Ernst Cassirer, Rudolf Krämer-Badoni, Susanne K. Langer und Thomas Nagel.
Redaktion: Bernd Hoffmann

(Jingle)

Am Mikrofon begrüßt Sie J.R., - meine Damen und Herren, es ist fast beängstigend: man hört heute wieder soviel von Spiritualität. Und man kann vielleicht nicht einmal von einem Missbrauch des Wortes reden, wie im Fall des Wortes 'Philosophie', das ungestraft im Marketing jedes Versicherungskonzerns oder Fußballvereins verwendet werden kann.
Aber erfrischend war es doch, im Urlaub, wo man die Seele baumeln lassen soll, ein Spiegel-Interview zu lesen, in dem Salman Rushdie schlichtweg sagt:
" Meiner Meinung nach sollte das Wort 'spirituell' auf den Index kommen und, sagen wir, 50 Jahre nicht verwendet werden... "
(Wie kommt er nur auf das Wort Index?)
Aber... lassen Sie uns den gern missverstandenen Erzähler nicht ein weiteres Mal missverstehen! Er meint doch wohl nicht so etwas wie z.B. Mozarts Spiritualität? Hören wir ein paar Takte von Mozartschem Geist: "Allegro spiritoso" :

1) Mozart Sinfonie No. 36 C-Dur K.425 "Linzer" 1.Satz ab 1:45 bis 3:13
Royal Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt
TELDEC 4509-97488-2 (LC6019)
Nein, - solch ein Spiritoso kann er nicht gemeint haben. In der Linzer Sinfonie.
Aber vielleicht einen beherzten Start ins Leben wie im Fall des folgenden Allegro con spirito ?

2) Mozart Sinfonie No. 35 D-Dur K. 385 "Haffner" 1. Satz Anfg. bis 0:55
Royal Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt
TELDEC 4509-97488-2 (LC6019)
Der Anfang der Haffner-Sinfonie, Allegro con Spirito.
Hat das mit Spiritualität zu tun?
Nein, das wird hier wohl auch nicht gemeint sein!
Etwas Heiliges sollte es doch sein, sehr getragen, sehr meditativ, aufs Wesentliche konzentriert.
Cum Sancto Spiritu, mit dem Heiligen Geist, an der Hand Johann Sebastian Bachs - das muss die Musik sein, die uns zu den letzten Dingen führt, zum spirituellen Kern unserer Existenz.
Und diesmal auch wirklich bis zum Ende, bis zum Amen!

3) Bach H-Moll-Messe I Missa Nr. 12 "Cum Sancto Spiritu" 3:49
Johann Sebastian Bach: Messe in h-Moll
Rias-Kammerchor, Akademie für Alte Musik Berlin, Leitung René Jacobs
Berlin Classics BC 1063-2 (LC6203)
So kann man sich täuschen!
Spiritualität - nicht einmal hier, in Bachs Hoher Messe, oder?? Da sieht man, wie lebensfremd die Musik ist: wir erwarten von ihr mit gutem Grund - Spiritualität - und sie? Greift hinein ins pralle Leben, mit Pauken und Trompeten.
Oder missverstehe ich diesen Begriff? "Spirituell...." Ist etwas ganz anderes daraus geworden als bei seiner frühesten Artikulierung gemeint war? Mit (engl.) "Spirit" oder (frz.) "Esprit" hat er ja wohl nur noch wenig zu tun, zu schweigen von "Spirituosen" und anderer "nicht-geistiger" Nahrung.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns in einem hochkomplizierten Vorgang: wir abstrahieren - wir lösen uns vom Offensichtlichen, von allem, was der gesunde Menschenverstand mit bloßen Händen greifen zu können glaubt.
Und genau hier lauern die Gefahren: die Begriffe werden unter der Hand besetzt und umgedeutet, man könnte sich ja wehren, aber niemand kann unentwegt analysieren, und man muss ja auch höflich bleiben! Wir kommen bestimmt auch noch dahin, dass die Verletzung spiritueller Gefühle geahndet wird.
In der Talkshow bei Maischberger beklagte sich neulich ein Physiker darüber, dass die Esoteriker sich der respektabelsten Begriffe bemächtigen, um höchst windigen Ideen Gewicht zu geben: "Energie", "Kräftefeld", "Strahlung", "Schwingungen".
Auch die stille Verwechslung der Wörter Astronomie und Astrologie wird billigend in Kauf genommen!
Um wieviel mehr müsste sich die Musik beklagen: da nun wirklich alles, auch das offensichtlich Aller-Unvereinbarste, mit diesem einen, immergleichen Wort "Musik" belegt wird, tja, - warum soll es ihr besser gehen als der "Kunst" oder der "Kultur" ? Alles ist Kultur, und jeder Mensch ist Künstler! Leider hat das ausgerechnet ein Künstler aufgebracht, ein äußerst wohlmeinender!
Aber wenn Joseph Beuys einem belgischen Zollbeamten bei der Kontrolle erklärt hätte, dass er Künstler sei, und jener insistiert hätte: "Nein nein, ich will wissen, was Sie beruflich machen!", hätte er vielleicht entgegnet: "Im Grunde das gleiche wie Sie, ... Sie Künstler!"
Und schon hätte man ihn - kraft amtlich gestützter Kunstgewalt - ein paar Stunden festgesetzt.

Meine Damen und Herren, - wir bestehen also auf dem alten Unterschied der Sphären: Kunst und Leben. In der Tat ist die Musik "lebensfremd" - wenn wir unter "Leben" auch die gelebte Realität eines belgischen Zollbeamten der 70er Jahre verstehen.
Unter einem ganz anderen Aspekt aber könnten wir sagen, dass sie das Leben selbst ist, genauer gesagt: das lebendigste Symbol eines sinnvollen Lebens.
Wenn wir z.B. daran denken, wie Gustav Mahler in kindlichster Weise von einem "himmlischen" Leben spricht und dabei eine Musik auf die Erde bringt, die in der Tat mit nichts auf Erden verglichen werden kann...

4) Mahler IV - letzte Strophe: "Kein Musik ist ja nicht auf Erden" 3:00
Helmut Wittek, Knabensopran (Tölzer Knabenchor)
Concertgebouw Orkest Amsterdam Leitung Leonard Bernstein
DGG 435 168-2 (LC0173
Gustav Mahler, der Schluss der Vierten Sinfonie, mit Versen aus "Des Knaben Wunderhorn" vom himmlischen Leben. "In kindlichster Weise" hatte ich vorhin behauptet, aber natürlich hat sich Mahler ihrer nur bedient, er ist nicht zum Kind geworden: er hat uns in symbolisch-kindlicher Verkleidung - auf indirektem Wege - eine Wahrheit übermitteln wollen.
Könnte man sie nicht auch unmittelbarer mitteilen?
Mit gleichem Recht könnte man fragen: ginge es auch ohne Musik?
Nein, es wirkt ja nur, wenn die Musik uns erreicht, wenn die Kindlichkeit der Texte von uns im Sinne der Musik umgewendet wird und vielleicht - eine Erschütterung auslöst.
Da ist etwas!!!
Also auch nur, wenn wir uns in dieses Gedanken-System Musik einspinnen lassen. Das System "4. Sinfonie von Mahler", sie hat ja 4 Sätze, und dies war nur der Abschluss des letzten!
Die Suggestion ist, dass ein Kind - auch ein Bauernmaler, der das himmlische Leben naiv in Szene setzt, würde als eine Art Kind gesehen - alles anders sieht; neu und jung, frisch wie am ersten Tag! Und in der Aufnahme der Mahler-Sinfonie unter Leonard Bernstein hat man diesen Aspekt noch weitergetrieben, indem man das Sopransolo von einer Knabenstimme ausführen ließ.

Ein anderes System könnte einen ganz anderen Aspekt musikalisch einkreisen. Sagen wir: das Kamel und die entsprechende Melodie. In der Wüste bei den Nomaden bedeutet es Reichtum und Würde, der vornehmste Platz eines Mannes ist auf dem Rücken des Reittieres; um es sicher lenken zu können, muss er die Zügel straff halten.
Wenn in einem Lied aus Rajasthan, wie hier, das Geschirr des Kamels besungen wird, ist nicht nur die glänzende Ausstattung irgendeines realen Tieres gemeint, sondern auch die Symbolik von Seele und Körper als Reiter und Reittier: Das Leben meistern bedeutet, ein guter "Reiter" zu sein.
Was aber bedeutet es, dergleichen nicht aus dem Munde eines greisen Predigers zu hören, sondern aus dem Mund des Knaben Sikhander Khan, der zugleich die Melodie meistert, die aber auch nichts von einem Kinderlied an sich hat?

5) Rajasthan "Karioh" (trad.ohne) hoch ab 0:28 (5:33)
Ausf.: Kohinoor Langa Group (Sikhander Khan)
Music from the Desert Nomads RAJASTHAN
World Network 34 (WDR) Nr. 58.396 (LC 6759)
Musik aus Rajasthan, "Karioh", das Geschirr des Kamels.
Weshalb jedes Nachdenken über die alltäglichsten Phänomene wie Sehen Hören Sprechen, dann: Musikhören, Musikverstehen, Singen, Musizieren so kompliziert wird, sobald man einmal damit anfängt, das ist der Philosophie seit langem klar.
Normalerweise ist der menschliche Blick ja einfach nach vorn, auf die "Wirklichkeit" der Dinge da draußen gerichtet, nicht nach rückwärts, auf seine eigene Beschaffenheit und die eigene Leistung. Es gibt einen "natürlichen Weltbegriff", auf den sich der "gesunde Menschenverstand" gern bezieht. Auch der Künstler setzt dort an - und stutzt...
Der Philosoph Ernst Cassirer nennt das da draußen die Welt des "Du" und die Welt des "Es"; "und beide Welten erscheinen ihm [dem Gedanken] zunächst als fraglose, durchaus unproblematische Gewißheit."

6) Text Ernst Cassirer gesprochen von Bodo Primus
Das Ich ergreift in der Form des schlichten Ausdruckserlebnisses oder in der Form des Wahrnehmungserlebnisses das Dasein der fremden Subjekte und das Dasein von "Gegenständen außer uns" - und es ruht und verharrt in diesem Dasein und seiner konkreten Anschauung. Wie diese Anschauung selbst "möglich" ist, wird hier nicht gefragt und braucht nicht gefragt zu werden; sie steht für sich selbst und bezeugt sich selbst, ohne daß sie des Halts und der Bewährung an einem anderen bedarf.
Aber dieses unbedingte Vertrauen zur Wirklichkeit der Dinge erfährt alsbald eine Wandlung und eine erste Erschütterung, sobald das Problem der WAHRHEIT auf den Plan tritt. In dem Augenblick, in dem der Mensch nicht nur in der Wirklichkeit steht und mit ihr lebt, sondern indem er von sich eine Erkenntnis dieser Wirklichkeit verlangt, rückt er zu ihr in ein prinzipiell-anderes Verhältnis. Zwar scheint die Wahrheitsfrage zunächst nur einzelne Teile der Wirklichkeit, nicht aber sie als Ganzes betreffen zu können. Innerhalb dieses Ganzen beginnen sich jetzt verschiedene 'Schichten' der Gültigkeit voneinander abzuheben, beginnt die 'Realität' sich vom 'Schein' scharf und klar zu sondern. Aber es liegt im Wesen des Wahrheitsproblems, daß es, einmal in dieser Weise gestellt, in sich nicht wieder zur Ruhe kommt. Der Wahrheitsbegriff birgt in sich selbst eine immanente Dialektik, die ihn unerbittlich weiter und vorwärts treibt. Er drängt über jede erreichte Grenze hinaus, - er begnügt sich nicht damit, einzelne Inhalte des 'natürlichen Weltbegriffs' in Frage zu stellen, sondern er greift seine Substanz, seine Gesamtform selbst an. Alle bisherigen sichersten und zuverlässigsten Zeugen der "Wirklichkeit", die "Empfindung", die "Vorstellung", die "Anschauung" werden jetzt vor ein neues Forum gefordert und von ihm verhört.

(Moderation: JR)

Meine Damen und Herren, das klingt sehr streng und manch einer wird vielleicht sagen: "die Sorgen möcht ich haben!", aber genau diese Frageweise gehört schon zu den allerersten Anfängen jeder wissenschaftlichen Weltbetrachtung, und die können wir nicht außer Kraft setzen, wie jeder einsieht, spätestens dann, wenn er für immer auf Computer, Auto, Flugzeug und Urlaubslogistik verzichten sollte.
Und trotzdem hören wir nicht auf, auch weiterhin die alten Fragen zu stellen: nach dem Sinn des Lebens und des Todes. Oder - wenn wir bescheidener sind: warum uns die phantastischen Gebilde der Kunst nach wie vor so tief berühren.
Dazu gebe ich Ihnen in dieser Sendung eine Reihe von Beispielen: Musik, Lyrik und theoretische Texte, und enthalte mich fortan weitgehend jeden Kommentars.
7) Gewitter im Elsass Tr. 1 Nachtigall + Donner ab 5:53 bis ca. 6:23
"Temps d'orage sur le Ried alsacien"
Les Points du Jour Vol.1: nature en Europe occidentale / Pierre Huguet
Pithys 1990 (LC8505)
8) Shivkumar Sharma Tr. 1 (bleibt unter den Gedichten hörbar) 4:15
India Shivkumar Sharma, Santur: "Dadra" (trad./ohne)
World Network 1 Nr. 52.984 (LC6759)
9) Gedicht von Peter Huchel, gesprochen von Gisela Claudius
Unter der blanken Hacke des Monds
werde ich sterben,
ohne das Alphabet der Blitze
gelernt zu haben.

Im Wasserzeichen der Nacht
die Kindheit der Mythen,
nicht zu entziffern.

Unwissend
stürz' ich hinab,
zu den Knochen der Füchse geworfen.
Peter Huchel (1972; Conrady S. 767)


(Musik hoch und wieder hinter folgendes Gedicht)
10) Gedicht von Günter Eich, gesprochen von Gisela Claudius

Fußnote zu Rom

Ich werfe keine Münzen in den Brunnen,
ich will nicht wiederkommen.

Zuviel Abendland,
verdächtig.

Zuviel Welt ausgespart.
Keine Möglichkeit
für Steingärten.


Günter Eich (23.4.1963; Conrady S. 769)


(Musik hoch und wieder hinter folgendes Gedicht)
11) Gedicht von Bert Brecht, gesprochen von Gisela Claudius


Der Rauch

Das kleine Haus unter Bäumen am See.
Vom Dach steigt Rauch.
Fehlte er
Wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See.


Bertolt Brecht (Conrady S. 708)


(Musik endet bei 4:15)
12) Kurtág: Stele (Schluss) ab 11:28 (13:03) = 1:30
György Kurtág: Stele (letzter Teil) op. 33
SWR Sinfonieorchester Baden Baden und Freiburg Leitg.: Michael Gielen
Musik in Deutschland 1950-2000 Deutscher Musikrat
BMG RCA (LC00316)
13) Bartók Streichquartett V 4.Satz Andante ab 1:06 (4:44) 3:39
Béla Bartók: Streichquartett No. 5 B-dur
Ausf.: Alban Berg Quartett
EMI CDC 7 47722 2 (LC0542)
14) Gedicht Günter Grass, gesprochen von Gisela Claudius


Mitten im Leben

denke ich an die Toten,
die ungezählten und die mit Namen.
Dann klopft der Alltag an,
und übern Zaun
ruft der Garten: Die Kirschen sind reif!


Günter Grass (1997; Conrady S. 883)

15) Gedicht Ingeborg Bachmann, gesprochen von Gisela Claudius


Strömung

So weit im Leben und so nah am Tod,
daß ich mit niemand darum rechten kann,
reiß ich mir von der Erde meinen Teil;

dem stillen Ozean stoß ich den grünen Keil
mitten ins Herz und schwemm mich selber an.

Zinnvögel steigen auf und Zimtgeruch!
Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein.
In Rausch und Bläue puppen wir uns ein.


Ingeborg Bachmann (Conrady S. 842)

16) Brahms cis-moll Oppitz (Anfang bis 2:42) 2:42
Johannes Brahms: Intermezzo op. 117 Nr. 3 cis-moll
Ausf.: Gerhard Oppitz, Klavier
BMG Classics 09026 63124 2 (LC0316)

17) Text Thomas Nagel, gelesen von Bodo Primus

Der Sinn des Lebens
von Thomas Nagel

Vielleicht haben Sie schon einmal den Gedanken, daß in Wirklichkeit alles egal ist, da wir in zweihundert Jahren alle tot sein werden. Eigentlich eine komische Idee, denn es ist nicht klar, warum aus dem Umstand, daß wir in zweihundert Jahren alle tot sein werden, folgen soll, daß nichts von dem, was wir jetzt tun, wirklich von Bedeutung ist.
(...)
Natürlich ist Ihre Existenz - Ihren Eltern und anderen Leuten, denen Sie etwas bedeuten - nicht egal, doch als ganzes betrachtet hat auch deren Leben keinen Sinn, so daß es egal ist, daß Sie ihnen nicht egal sind.
(...)
Der Gedanke, daß wir in zweihundert Jahren tot sein werden, ist lediglich eine Möglichkeit, unser Leben so zu betrachten, daß es in einen größeren Kontext eingegliedert ist, und zwar so, daß der Sinn der kleinen Dinge in diesem Leben nicht mehr ausreicht - und eine größere Frage unbeantwortet läßt.
Was wäre jedoch, wenn unser Leben als ganzes in Beziehung auf etwas Größeres einen Sinn hätte? Würde dies bedeuten, daß es schließlich doch nicht sinnlos wäre?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie unser Leben einen größeren Sinn haben könnte. Wir könnten Mitglied in einer politischen oder sozialen Bewegung sein, die zum Wohle künftiger Generationen die Welt verbessert. Oder wir könnten lediglich unseren Kindern und ihren Nachkommen ein gutes Leben zu sichern versuchen. Oder wir suchen den Sinn unseres Lebens in einem religiösen Kontext, so daß unsere Zeit auf Erden bloß eine Vorbereitung auf eine Ewigkeit in direktem Kontakt mit Gott sein würde. (...)
18) Brahms cis-moll Afanassiev (Mittelteil ab 2:38 bis 5:07) 1:27
Johannes Brahms: Intermezzo op. 117 Nr. 3 cis-moll
Ausf.: Valery Afanassiev, Klavier
DENON CO-75090 (LC8723)

(Moderation:)
Noch einmal der amerikanische Philosoph Thomas Nagel:
19) Text Thomas Nagel (Fortsetzung)
Wenn jemandes Leben als ein Teil von etwas Größerem einen Sinn hat, so kann man immer wieder in Beziehung auf dieses Größere fragen, welchen Sinn es hat. Entweder es gibt eine Antwort, die auf etwas noch Größeres verweist, oder es gibt sie nicht. Gibt es sie, so stellt sich die Frage erneut. Gibt es sie nicht, so sind wir mit unserer Suche nach einem Sinn am Ende und bei etwas angelangt, das keinen Sinn mehr hat. Wenn ein solche Sinnlosigkeit jedoch bei jenem Größeren akzeptiert werden kann, von dem unser Leben einen Teil ausmacht, warum dann nicht bereits bei unserem Leben selbst, als ein Ganzes betrachtet? Warum darf unser Leben eigentlich nicht sinnlos sein?
Falls das hier nicht bereits akzeptiert werden kann, warum kann es dann akzeptiert werden, wenn wir zu einem größeren Kontext aufsteigen? Warum müssen wir dann nicht weiterfragen: 'Ja, und worin liegt nun der Sinn von alledem?', (der Geschichte der Menschheit, der Abfolge der Generationen, oder was es auch immer sei)? (...)
20) Brahms Intermezzo cis-moll Oppitz Mittelteil 2:44 bis 5:44 2:00
Johannes Brahms: Intermezzo op. 117 Nr. 3 cis-moll Ausf.: Gerhard Oppitz
BMG Classics 09026 63124 2 (LC0316)

(Moderation JR:)
Noch einmal Thomas Nagel:
21) Thomas Nagel (Fortsetzung)
Die Idee Gottes ist offenbar die Idee von etwas, das alles andere erklären kann, ohne selbst erklärbar sein zu müssen. Es ist jedoch nur schwer zu sehen, wie es so etwas geben kann. Stellen wir die Frage: 'Warum ist die Welt so beschaffen?', und erhalten eine religiöse Antwort, was kann uns dann hindern, erneut zu fragen: 'Und warum ist das so?' Welche Antwort könnte unsere Warum?-Fragen ein für alle mal zum Schweigen bringen? Und wenn sie hier zu einem Halt kommen, warum konnten sie nicht bereits vorher enden?
(...)
Wenn der Gott unserem Leben einen Sinn geben soll, den wir nicht verstehen können, so ist das ein schwacher Trost. Der Gott als letzte Rechtfertigung ist womöglich wie der Gott als endgültige Erklärung eine unverständliche Antwort auf eine Frage, die wir nicht loswerden können. Andererseits ist vielleicht gerade so etwas gemeint, und ich verstehe religiöse Gedanken einfach nicht. Vielleicht ist der Glaube an Gott die Überzeugung, das Universum sei verstehbar - jedoch nicht für uns.
22) Brahms cis-moll Fortsetzung ab 5:09 bis 5:44= 0:34
Johannes Brahms: Intermezzo op. 117 Nr. 3 cis-moll Ausf.: Gerhard Oppitz
BMG Classics 09026 63124 2 (LC0316)
23) Text Thomas Nagel (Fortsetzung)
Lassen wir dieses Problem beiseite und kehren wir zur kleineren Dimension des menschlichen Lebens zurück. Vielleicht braucht es uns gar nicht zu beunruhigen, falls das Leben als ganzes sinnlos ist. Vielleicht können wir dies anerkennen und weitermachen wie bisher. Wir müssen nur lernen, immer geradeaus zu schauen und Rechtfertigung jederzeit innerhalb unseres Lebens und innerhalb des Lebens anderer, mit denen wir in Verbindung stehen, enden zu lassen. Sobald wir uns die Frage vorlegen, 'Doch wofür leben wir überhaupt?' - das bestimmte Leben eines Studenten, eines Kellners oder was auch immer -, antworten wir: 'Um keines Zweckes willen; es wäre egal, wenn ich überhaupt nicht existieren oder wenn nichts mir etwas bedeuten würde. Aber ich existiere. Das ist alles.'
24) Brahms cis-moll Forts. und Ende ab 5:09 bis Ende (7:45)= 2:36
Johannes Brahms: Intermezzo op. 117 Nr. 3 cis-moll
Ausf.: Gerhard Oppitz, Klavier
BMG Classics 09026 63124 2 (LC0316)
25) Gedicht von Ilse Aichinger, gesprochen von Gisela Claudius


Spaziergang

Da die Welt aus Entfernungen entsteht,
Treppenhäuser und Moore,
und das Erträgliche sich verdächtig macht,
so laßt es nicht zu,
daß hinter euren Ställen die Elstern
kurz auffliegen und glänzend
in die glänzenden Weiher stürzen,
daß euer Rauch noch steigt
vor den Wäldern,
lieber wollen wir warten,
bis uns die goldenen Füchse
im Schnee erscheinen.


Ilse Aichinger (Conrady S. 819)

26) Schubert: Grab und Mond 2:23 bis 2:53 "Komm' und schau!" 0:30
Franz Schubert: Grab und Mond (Text: Johann Gabriel Seidl) Ausf.: Carus-Quintett
CD Romantic Vocal Bayer Records BR 100 139 CD (LC 8498)
27) Gedicht von Ilse Aichinger, gesprochen von Gisela Claudius


Gebirgsrand

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären, meine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.


Ilse Aichinger (Conrady S. 819)

28) Schubert: Grab und Mond (ganz) 2:53
Franz Schubert: Grab und Mond (Text: Johann Gabriel Seidl) Ausf.: Carus-Quintett
CD Romantic Vocal Bayer Records BR 100 139 CD (LC 8498)
Silberblauer Mondenschein fällt herab, / senkt so manchen Strahl hinein in das Grab. / Freund des Schlummers, lieber Mond, schweige nicht, / ob im Grabe Dunkel wohnt oder Licht. /
Alles stumm?
Nun, stilles Grab, rede du, / zogst so manchen Strahl hinab in die Ruh', / birgst gar manchen Mondenblick, silberblau, / gib nur einen Strahl zurück!
Komm' und schau!
(Moderation JR:)
Die romantisch-mystische Antwort beim Anblick von Mond und Grab: Grüble nicht länger - Komm' und SCHAU! Und es ist wirklich die Frage, ob wir nicht so antworten, statt so wie Thomas Nagel vorhin suggerierte:
"Wir leben um keines Zweckes willen; es wäre egal, wenn ich überhaupt nicht existieren oder wenn nichts mir etwas bedeuten würde. Aber ich existiere. Das ist alles."

Ist es denn wirklich so? Er war noch nicht am Ende...
29) Thomas Nagel (Forts. und Schluss)
Einige Leute finden diese Einstellung völlig befriedigend. Andere finden sie deprimierend, doch unvermeidbar. Zum Teil liegt das Problem in unserer unheilbaren Neigung, uns ernst zu nehmen. Wir wollen uns selbst "von außen betrachtet" etwas bedeuten. Ein Teil von uns ist unzufrieden, wenn uns unser Leben als ganzes zwecklos erscheint - der Teil, der uns immer über die Schulter schaut und zusieht, was wir tun. Viele menschliche Anstrengungen, insbesondere solche im Dienste ernster Ambitionen und nicht bloß im Dienste von Bequemlichkeit und Überlebenstrieb, verdanken ihren Nachdruck einem Gefühl von Bedeutsamkeit - einem Gefühl, daß das, was wir tun, nicht nur für uns von Bedeutung ist, sondern bedeutsam in einem größeren Sinne: eben bedeutsam . Sollten wir dies aufgeben müssen, so hätten wir am Ende vielleicht allen Wind aus den Segeln verloren.
Wenn das Leben egal ist, wenn das Leben nicht ernst und das Grab sein Ende ist, dann ist vielleicht lächerlich, daß wir uns so wichtig nehmen. Wenn wir auf der anderen Seite nicht anders können, als uns so wichtig nehmen, dann müssen wir uns womöglich am Ende damit abfinden, lächerlich zu sein. Das Leben ist dann nicht allein sinnlos, sondern absurd.
(Moderation JR:)
So endet Thomas Nagels Büchlein: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Das Wort "absurd" als Abschluss des Ganzen lässt uns ein wenig ratlos zurück, der Philosoph aber geht als ein unbestechlicher Denker von dannen.
9 menschliche Grundprobleme hat er tiefschürfend dargestellt, endend mit den drei Kapiteln: "Gerechtigkeit", "Tod" und "Der Sinn des Lebens".
Aber eins fehlt. Die Kunst, - das Bild, das Gedicht, die Musik.
Und Sie haben ja schon bemerkt, wie sich die musikalischen Gedanken des cis-moll-Intermezzos von Brahms unvermerkt in Nagels Gedankengang eingemischt haben.
Und es scheint gar nicht so absurd, am Ende jeden verbal eindeutig fassbaren Sinn zurückzustellen und das Sinngewebe der Musik, die Chiffren der Kunst, das Ziel des "künstlerischen Ausdrucks" - was liegt an Wort-Etiketten - ernster denn je zu nehmen.
30) Musik: Bach Solo-Partita E-dur Menuet I (Podger) 1:52
Johann Sebastian Bach: Partita Nr. 3 E-dur BWV 1006 Menuet I
Ausf.: Rachel Podger, Baroque Violin
Channel Classics CCS SEL 2498 (LC4481)
31) Text-Lesung Susanne K. Langer durch Gisela Claudius
Susanne K. Langer / aus: Philosophie auf neuem Wege (S. 251)
Sicherlich hat irgendeine Tanzform allen [Bachschen ?] mozartischen Menuetten seinen Stempel aufgeprägt und eine andere Chopins Walzern, aber die musikalischen Werke, die Menuett und Walzer heißen, geben keine Darstellung der betreffenden Tänze in der Weise, wie Bilder ihre Gegenstände darstellen. Sie sind abstrahierte in der Musik wiederverkörperte Formen, und man kann viel leichter die Musik in sich aufnehmen und den Tanz vergessen, als ein Gemälde aufnehmen und, was es porträtiert, vergessen. Der "Tanz" war nur ein Gerüst, die ""eise" hat andere Inhalte, eigene musikalische Züge und interessiert uns unmittelbar[, nicht durch die Konnotation eines "step", den wir vielleicht nicht einmal kennen].
Dasselbe gilt für die Worte, die einer Weise als Gerüst gedient haben. Die Melodie, die man hört, ohne zugleich auch den Text zu hören oder ihn zu verstehen, gefällt um ihrer selbst willen, als Tongebilde, und läßt sich ebensogut spielen statt singen. Die Musik kommt leicht ohne ihre Vorbilder aus, weil sie ihnen niemals wirklich gerecht werden konnte als ihr Repräsentant; sie sind nur ihre Zieheltern und ihr getreues Abbild war die Musik ohnehin nie. Dieser verwaiste Stand hat ihr Wachstum als Kunst verzögert und sie lange in einer bloßen Hilfestellung, sogar in einem Nutzverhältnis festgehalten; er hat aber die kompensierende Fähigkeit, sie, wenn die Selbständigkeit einmal erreicht ist, von ihren natürlichen Vorbildern unabhängiger als irgendeine andere Kunstform zu machen. Wir nehmen sie wahr als "sinnhaltige Form", unbehindert durch einen fixierten, wörtlichen Sinn, durch etwas, was sie darstellt. Es ist leichter, den künstlerischen Gehalt der Musik zu erfassen als den der älteren und mehr ans Vorbild gebundenen Künste.

32) Musik: Schubert Tr. 7 "Wasserflut" mit Bratsche 1:55
CD 2x Winterreise (Franz Schubert) Tabea Zimmermann, Viola, Hartmut Höll, Klavier
Capriccio 10 382/83 (LC8748)
33) Textlesung Susanne Langer (Forts.)
Dieser künstlerische Gehalt ist das, was Maler, Bildhauer und Dichter durch ihre Schilderung von Gegenständen oder Ereignissen ausdrücken. Seine Semantik ist das Spiel der Linien, Massen, Farben und Stoffe in den bildenden Künsten, oder das Spiel der Vorstellungsbilder, die Spannungen und Lösungen, das Eilen und Verhalten, der Klang und Reim der Worte in der Dichtung - das was Hoesslin "Formenmelodie" und "Gedankenmelodie"" nannte. Was alle diese Medien zu vermitteln streben, ist künstlerischer Ausdruck, und ich habe den starken Verdacht, [obwohl ich es noch nicht dogmatisch behaupten möchte,] daß der Gehalt des künstlerischen Ausdrucks aufs Ganze gesehen in allen Künsten der gleiche ist wie in der Musik - das mit Worten nicht sagbare, und doch nicht unausdrückbare Prinzip der lebendigen Erfahrung, die innere Bewegungsform des empfindenden, seines Lebens bewußten Daseins. Das ist der "Inhalt" dessen, was wir als "schöne Form" wahrnehmen, und dieses formale Element ist die "Idee" des Künstlers, die jedes große Werk zum Ausdruck bringt. Das ist es auch, was sogenannte "abstrakte Kunst" zu abstrahieren sucht, indem sie sich vom Vorbild löst oder es überhaupt abschafft, und was die Musik vor allen Künsten offenbar machen kann, unverdunkelt durch hinzutretende wörtliche Bedeutungen. Vermutlich ist es dies, was Walter Pater mit seinem vielumstrittenen Ausspruch "Alle Kunst strebt nach der inneren Verfassung der Musik" (All art aspires to the condition of music) meinte.
Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege
34) Dvorak Dumky Trio 4. Satz Anfang bis 3:19 (dann unter Text weiter)
Antonin Dvorak: Trio e-moll op.90 "Dumky-Trio" (1890) 4.Satz vollständig: 5:01)
Ausf.: Abegg Trio
Intercord INT 860.876 (LC1109)
(inzwischen beziehbar über TACET)
35) Gedicht von Rose Ausländer, gesprochen von Gisela Claudius
Redensarten

Dieser Tag
vom Regen in die Traufe
Rosen im Garten
keine ohne Dornen
trinken den durstigen Tag
aus Rinnen strömt die
Zeit in die Gasse
sie redet nicht mit Engelszungen
Geduld bringt Rosen sagt sie
Geht geduldig weiter
der Regen
Ratlos
gehen wir weiter
in Redensarten.

Rose Ausländer (Conrady S. 817)

(Musik Dvorak hoch bis Ende bei 5:00)
36) Text Susanne K. Langer (Forts.)
Das besagt aber nicht, daß die Musik das Ziel des künstlerischen Ausdrucks vollkommener erreichte als die anderen Kunstarten. Zwar müssen die anderen Künste diese ideale "Verfassung" erst zu erringen streben, wogegen die Musik sie vom ersten Stadium an, in dem sie überhaupt als Kunst bezeichnet werden kann, schon in sich findet. Ihr künstlerischer Auftrag ist sichtbarer, weil er nicht durch Bedeutungen verdunkelt wird, die mehr zum dargestellten Gegenstand als zu der Form, die nach seinem Bilde gemacht wird, gehören. Aber der künstlerische Gehalt einer musikalischen Komposition ist deswegen nicht größer oder vollkommener formuliert als der eines Bildes, Gedichtes oder anderen Werkes, das auf seine Weise der Vollkommenheit ebenso nahekommt.
Ob das Gebiet der musikalischen Bedeutungen, über dem die Symbole unfestgelegt spielen - das Reich der bewußten und emotionalen Erfahrung - letztlich Gegenstand aller Kunst ist, bleibt noch zu erörtern... (S.252)
Susanne K. Langer / aus: Philosophie auf neuem Wege

Ein Auszug aus Susanne K. Langers richtungweisendem Werk "Philosophie auf neuem Wege", gelesen von Gisela Claudius.
WDR 3 Musikpassagen: Von der Lebensfremdheit der Musik, dem Sinn des Lebens und anderem Unsinn, - Wozu braucht man Töne, Verse, Rhythmen, symbolische Formen? Antworten in Form einer Zusammenstellung von Texten und Musik, von J.R.
Hier ist es der greise Sitarmeister Vilayat Khan, der am 2. November 2003, in einem der letzten Konzerte, das er außerhalb Indiens gab, die Bedeutung bestimmter Töne im Raga Lalit herausarbeitet: sie stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zum ewigen Grundtonklang, der jetzt mit dem ersten Anschlag und dann immer wieder in Erinnerung gebracht wird.

37) Vilayat Khan - Töne des Ragas Lalit ab 7:26 bis 10:06 2:34
Al wida - farewell Ustad Vilayat Khan, Sitar RAGA LALIT (Alap 32:12)
CD Navras NRCD 0188/9 (LC 12948)
38) Gedicht von Elisabeth Borchers

Niemand behaupte

Niemand behaupte
ich sei taub.
Allabendlich höre ich
die Unrast der Sterne.

Niemand behaupte
ich sei blind oder lahm.
Ich nehme Stock und Stein
bis zum jähen Ereignis.

Niemand behaupte
ich hätte zu träumen versäumt.
Ich werde nicht nach Tibet reisen
und auch nicht nach Tanger.
Mir träumte
ich fände den Weg
nicht zurück.

Elisabeth Borchers (Conrady S. 850)

39) Vilayat Khan - Töne des Ragas Lalit ab 16:46 bis 21:43 4:57
Al wida - farewell Ustad Vilayat Khan RAGA LALI (Alap 32:12)
CD Navras NRCD 0188/9 (LC 12948)
40) Gedicht von Dagmar Nick, gelesen von Gisela Claudius
Ankündigung

Die Zeichen mehren sich
nicht allein an den Wänden.
Auch in der heitersten Luft
erscheinen sie ehern, sogar
auf dem ebenen Wasser ohne Verzerrung
treten sie auf, widerspiegeln
das, was ich verneinen will,
diese Entstaltung, die Dissonanz
des Verbliebenen nach sieben Jahrzehnten,
Wahrheiten, abgehäutet und
ohne Erbarmen.
Dagmar Nick (1996; Conrady S. 846)

41) Musik: aus "Miserere" von Allegri Tr. 2 ab 10:10 bis 12:39 2:29
CD Miserere / Westminster Abbey Choir Abbey Consort Leitung Martin Neary Gregorio Allegri: Psam 50 (51) à 9, Miserer mei, Deus (Modern Version)
Edited by Hugh Keyte after Robert Haas (1933) and Sir Ivor Atkins (1951)
CD Sony Classical 1240083 (LC 06868)
42) Text Krämer-Badoni, gelesen von Bodo Primus
"Oder..."

sagt Rudolf Krämer-Badoni in seinem Buch Über Grund und Wesen der Kunst:

Oder stellen wir uns eine idyllische Szene vor. Auf der steilen Ufermauer am Fluß liegt eine Eidechse, grün und braun, unbeweglich, nur die papierdünne Haut am Hals schwillt und schrumpft im Atmen, ein Grashalm kitzelt sie, das schert sie nicht, dann dreht sie die Augen zu dir, hast du dich bewegt? Plötzlich ist sie in einer Mauerritze verschwunden. -
Wenn der Dichter dieses kleine Bild so darstellt, daß wir die unbewegliche Szene ganz deutlich vor den Augen des Geistes haben, was ist dann gelungen? Das Wesen der Eidechse? Überraschend genaue Erinnerung an Eidechsen, die wir schon gesehen haben? So glauben wir leichtlich.
Betroffenheit über das deutliche "Sehen" dessen, was wir ungefähr in Erinnerung haben. Aber wir "sehen" ja noch viel mehr. Vielleicht steht im Kunstwerk das Wichtigste überhaupt zwischen den Zeilen, also daß der Sommer als Ganzes mitaufstünde: heiß muß der Stein ja sein, sonst läge die Echse nicht gemächlich da, Braun und Grün sind Sommerfarben, der Grashalm ist Zeichen, Fluß, Ufer und Sonne - ja, das ist es: der Sommer als Ganzes steht hinter den Zeilen auf. Die Eidechsenszene steht für "Sommer".
Wir sind versucht, zu glauben, wir hätten nun die Lösung gefunden. Denn dieses, "Sommer", ist sowieso jenseits jeder Beschreibung, kein Brehm beschreibt "Sommer", kein Botaniker ist imstande, die Stimmung einer Jahreszeit einzufangen. Die Empfindung, die wir einst in schönen Sommeraugenblicken hatten - sie wird durch diese Szene wiedererweckt, wiederholbar gemacht.
Das würde denn freilich bedeuten, daß der flüchtige Sommer in seiner Realität "besser" wäre als der Ersatz in der - wenn auch wiederholbaren - Nachbildung. Was andererseits an der stimmungerregenden Nachbildung "besser" genannt werden darf, ist das Wiederholbare der Stimmung, das Nichtflüchtige. Also einerseits schlechter, andererseits besser. Aber doch immer eine Relation zwischen greifbarer Natur und Nachahmung der Natur. Könnten wir - so würde also daraus folgen -, könnten wir zu jeder Zeit in den wahren Sommer tauchen, könnten wir uns jederzeit vor eine wirkliche Eidechse auf der wirklichen Ufermauer bringen, dann - brauchten wir die geschriebene Szene nicht. Wir brauchen sie sozusagen nur im Winter.
Und diese Folgerung muß auch noch gezogen werden, wenn der Einwand gemacht wird, man müsse gut darauf achten, daß man nicht greifbare Nachahmung gegen greifbares Modell ausspiele, denn die gegenständliche Konkurrenz (etwa daß Vögel gemalte Trauben mit wirklichen verwechseln sollten) sei in der Kunst selbstredend niemals gemeint. Sondern es handle sich um die Verewigung, Sublimierung und Wiederholbarmachung der Stimmung.
Die Stimmung, die angesichts der realen Eidechse den Menschen heimsucht oder vielleicht - da er halbwegs zerstreut ist - nur halbwegs heimsucht, diese Stimmung werde durch die gedichtete Eidechse nicht nur echt, sondern auch unzerstreut, konzentriert, ja sogar beliebig durch Wieder-Lesen wiederholbar, also verewigt dargeboten. Hier werde etwas Eidechsiges oder Sommerhaftes geboten, das in der Realität kaum je erreicht werde. Der Künstler habe eben eine so überwältigende Darstellungskraft, daß...
...daß jeder junge, frische, mit wachen Sinnen, scharfem Geist und verwundbarem Gemüt ausgestattete Mensch die Eidechse und den Sommer ebenso konzentriert genießt. Der Mensch brauchte also nur genügend jung, frisch, voll zu sein, und schon müßte er an der Kunst achtlos vorübergehen. Der intensiv lebende Mensch besäße kraft seiner vollen, unerschöpflichen, stündlich regenerierbaren Natur alles an Stimmung, was die Kunst ihm zu bieten suchte.
Und es ist ganz klar, daß man - lägen die Dinge so - tausendmal vorziehen müßte, die Kunst des intensiven Lebens zu lernen, anstatt sich dem intensivierten Leben der Kunst hinzugeben.
Wie platt oder wie vergeistigt man auch immer die Relation zwischen Kunstwerk und Naturmodell setzt, immer wird die Natur - den Fall höchster Güte vorausgesetzt - das Wichtigere, Bessere, mindestens Erste bleiben. Und das Kunstwerk ist dann - wie platt oder wie vergeistigt auch immer verstanden - das Gebilde aus zweiter Hand, das bereitwillig beiseite geschoben wird, wenn sich Gelegenheit gibt, mit intensivster Kraft zum vollen Original in Beziehung zu treten. (S.64)
(Zwischenmoderation JR)
Soweit Rudolf Krämer-Badoni. Was noch aussteht, ist das entscheidende Wort zur Relation zwischen Kunst und Leben, Bild und Modell. Davon also später.
43) Gedicht von Ingeborg Bachmann, gelesen von Gisela Claudius
Enigma
(Für Hans Werner Henze aus der Zeit der Ariosi)

Nichts mehr wird kommen.

Frühling wird nicht mehr werden.
Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.

Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen
wie "sommerlich" hat -
es wird nichts mehr kommen.

Du sollst ja nicht weinen,
sagt eine Musik.

Sonst
sagt
niemand
etwas.
Ingeborg Bachmann (1968; Conrady S. 843)
44) Musik Waldamsel Tr. 4 Anfang (Atmo) bis etwa 0:54 (dann unter Text)
"Waldamsel" aufgenommen von Walter Tilgner / Küstenbuchenwald an der Ostsee bei Stralsund
CD Natural Sound SM 9011 2 Wergo Schott Music & Media
(Zwischenmoderation JR:)
Die Natur an dieser Stelle - das soll nicht die Andeutung eines billigen Trostes sein. Ingeborg Bachmanns Satz "Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik" bezieht sich wohl auf Mahlers 3. Sinfonie mit einem Text aus "Des Knaben Wunderhorn": "Armer Kinder Bettlerlied".
Aber was hat die Kunst, nehmen wir das Bild oder einen Text, mit ihrem Modell, mit der Natur zu tun? Wie eng bleiben beide miteinander verbunden? Rudolf Krämer-Badoni, gelesen von Bodo Primus:
45) Text Krämer-Badoni (Forts.)
Für die Kunst ist die Relation zwischen Bild und Modell überhaupt nicht konstitutiv. Die geschriebene Szene mit der Eidechse auf der Ufermauer - selbst wenn sie auf genauen Studien der Wirklichkeit beruht - ist nicht dadurch gerechtfertigt, daß sie die "genaue" oder "wesentliche" Eidechse oder umfassender: den "genauen" oder "wesentlichen" Sommer einfängt und wiederholbar macht und also verewigt; denn damit würde die Kunst Gebilde aus zweiter Hand, über das hinaus man ins "Wirkliche" vorstoßen müßte. Vielmehr ist es so: Indem die geschriebene Szene mit der Sommerechse Glück ins Herz des Lesers gießt, stellt sie nicht fest, daß dies eine intensivierte Eidechse und ein verewigter Sommer sei, sondern stellt sie wortlos fest, daß es verstattet ist, glücklich zu sein. Wir wissen zwar, daß wir eines Tages alles verlieren, daß wir ein geschlagenes Geschlecht sind, aber davon reden wir jetzt nicht. Jetzt ist die Eidechse auf der Ufermauer mit dem kitzelnden Grashalm und dem Sommer ringsum ein Symbol für Einstimmung unserer Seele in die Jahreszeiten des Lebens. Wenn wir "jetzt" sagen, schweigt die Tragik und schweigt die Komik, redet nur Glück.
Und dies alles kann auch die bildende Kunst und kann die bildende Kunst auch unmittelbar, ohne den Umweg über den nachzuahmenden Gegenstand, hervorrufen: dunkle Gefühle, helle Gefühle, schrecklich gespannte und glücklich gelöste Stimmung. Wäre die bildende Kunst nicht "Stellungnahme", "Haltsuchen", "Analogie zur menschlichen Bestrebtheit", sondern Nachahmung von Dingen und Wesensenthüllung von Dingen, dann wäre die abstrakte Malerei ein lächerlicher Irrweg. Aber die Kunst überhaupt - ob sie den Weg über das Naturmodell nimmt oder nicht - bildet ihre Szenen niemals um dieser Szenen willen. Dann wäre ja das Modell das "Bessere". Nein, die Kunst überhaupt - ob sie nun den Weg über das Naturmodell nimmt oder nicht - bildet ihre nachahmende oder abstrakte Szenerie stets als antwortendes Symbol. Der gespannte, der leidend bestrebte oder spottend geknickte oder einstimmend eingespannte Mensch, also: das Wesen des Menschen, der da dichtet und der da liest, taucht aus jeder Flut von gezielten Worten und Tönen und Farben auf. Es geht immer nur um dich und um mich. Weil es um die Antwort des Menschen auf das Geschick geht.
Rudolf Krämer-Badoni: Über Grund und Wesen der Kunst
Mit einem historischen Abriß der Dichtungs- und Kunsttheorie
Frankfurt am Main 1960 (S. 64-67)
46) Aus dem "Miserere" von Allegri Schluss ab 6:30 bis 12:39 6:00
CD Miserere / Westminster Abbey Choir Abbey Consort Leitung Martin Neary
Gregorio Allegri: Psam 50 (51) à 9, Miserer mei, Deus (Modern Version)
Edited by Hugh Keyte after Robert Haas (1933) and Sir Ivor Atkins (1951)
CD Sony Classical 1240083 (LC 06868)
47) Gedicht von Erika Burkart, gelesen von Gisela Claudius
Die Gnaden des Alltags

Aus einem Wintergehölz
eine Rauchsäule aufsteigen sehn,
als gäbe ein Geist
einem andern ein Zeichen.
Nicht zählen können die Möwen
auf dem umgebrochenen Nebelacker,
den Weg des Wassers bedenken,
die Zeit der Steine -
Frost in den Wimpern
in eine geheizte Stube treten,
die Hände wärmen am Teekrug,
das Herz nicht überhören,
das außer sich ist
vor nichts als dem Leben,
dem kurzen, und einbringt
das Wissen, man habe,
bevor es zu spät war,
die Sterne gesehen,
Gemma, Capella,
wenn man fröstelte, nachts,
beim erkaltenden Ofen,
während der Wind
ans Fenster rührte
und den Bäumen
die Krone von Schnee
bis in den eisklaren
Himmel wuchs.

(Dem Andenken Rainer Brambachs)
Erika Burkart (Conrady S. 821)

48) Chopin: Mazurka a-moll Tr. 18 4:45
CD Chopin 23 Mazurkas / Arie Vardi, Piano
Frédéric Chopin: Mazurka op. 17 No. 4 in a-moll
Carrière Classics 21.0017 (Israel)
Ein Abschied also mit Chopins Mazurka in a-moll. Arie Vardi spielte.

In den Musikpassagen auf WDR 3 hörten Sie heute Gedichte, theoretische Texte und Musik, das Thema - "Von der Lebensfremdheit der Musik, dem Sinn des Lebens und anderem Unsinn - Wozu braucht man Töne, Verse, Rhythmen, symbolische Formen ?"
Die Sprecher waren: Gisela Claudius und Bodo Primus.
Konzept und Zusammenstellung: Jan Reichow.

Falls Sie das eine oder andere nachlesen wollen: ein Manuskript der Sendung finden Sie bereits auf meiner Web-Seite; bezüglich der Lyrik verweise ich ausdrücklich auf das große deutsche Gedichtbuch "Der Neue Conrady", über 1200 Seiten durch die Jahrhunderte, von den Merseburger Zaubersprüchen bis zu Albert Ostermaier.
Eine detallierte Musik- und Textliste erstellt gerade unser Produktionsassistent Carsten Krey, demnächst abfragbar über WDR3-Internet, Stichwort Radio, Sendungen, Musikpassagen.
Lob, Tadel, Fragen, Anregungen zu dieser Sendung - bitte gern an unser Hörertelefon, die Nummer wird im nachfolgenden Trailer genannt.
Die vollendete Technik steuerte Alexander Hardt bei, am Mikrofon verabschiedet sich J.R., und da im Titel der Sendung ausdrücklich von Rhythmen die Rede war, enden wir mit dem größten Un-Sinn, der fraglosen Sinn macht, - aus bloßem Fell hervorgetrieben - einer der schönsten Rhythmen der Welt, und das Sch&oum

l;nste: er spricht! Hören Sie nicht???
Famoudou Konaté aus Guinea spricht mit Ihnen!
49) Famoudou Konate "Hamana Foli Kan" Übergang bei 5:01 (8:26)
Famoudou Konaté Maître-djembé CD "Hamana Föli Kan"
Titel 12: DJEMBE KUMAKAN 8 :26
Buda Musique (Paris) 82230-2
www.budamusique.com

Zitierte Literatur


  • Der Neue CONRADY Das große Gedichtbuch
    Von den Anfängen bis zur Gegenwart
    Neu herausgegeben und aktualisiert von Karl Otto Conrady
    Patmos Verlag / Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf und Zürich 2000

  • Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen
    Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis
    Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1954 / 1994
    ISBN 3-534-12481-2

  • Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege
    Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst
    Fischer Verlag Frankfurt am Main 1984 / 1992
    ISBN 3-596-27344-7

  • Thomas Nagel: Was bedeutet das alles?
    Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie
    Reclam Stuttgart 2002
    ISBN 3-15-008637-X
  • Rudolf Krämer-Badoni: Über Grund und Wesen der Kunst
    Mit einem historischen Abriß der Dichtung und Kunsttheorie

    Ullstein Bücher Frankfurt am Main 1960


    Nachträgliche Empfehlung:
  • Wolfgang Ullrich: Was war Kunst?
    Biographien eines Begriffes
    Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2005
    ISBN 3-596-16317-X




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Musikpassagen 21.September 2006 - Lebensfremdheit der Musik