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Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Musikpassagen 21.April 1999 - Die Welt der Violine

WDR 3 Musikpassagen
Die Welt der Violine
Barock: Fabio Biondi
Romantisch: Isaac Stern
Orientalisch: Abdu Dagir
Südindisch: L.Subramaniam
Sendung 21. April 1999, 15.05 - 18.00 Uhr
Skript der Sendung / Moderation: Jan Reichow

(Musikpassagen Jingle)

Im Studio sitzt Jan Reichow, meine Damen und Herren, ich hatte vor, Sie in diesen Musikpassagen aus den verwinkelten Gassen Cremonas oder Venedigs in die glänzende Musikwelt New Yorks und in die weiten Landschaften orientalischer Musik zu geleiten, - im weitesten Sinne: "Die Welt der Violine" -, aber einige aktuelle Anlässe haben mir gezeigt, daß ich das meiste - wenn ich einmal von der Geige absehe - innerhalb eines Jahres oder sogar innerhalb weniger Tage auch in Köln erleben kann, und allenfalls einmal bis Bochum fahren muß:

Ich bin, wie Sie womöglich wissen, ziemlich einseitig, und kann Ihnen deshalb von vornherein sagen, daß mich ein indisches Konzert mit Shivkumar Sharma am vorigen Freitag mit mehr Begeisterung und Dankbarkeit erfüllt hat als der Besuch des Workshops mit Isaac Stern am Mittwochnachmittag, zumal das Publikum des indischen Konzerts von den musikalischen Akteuren ernsthaft wahrgenommen wurde, während es hier nach einer ohnehin bedrückenden Lektion schließlich des Saales verwiesen wurde.

Leider konnten die letzten Minuten (Musik beginnt) des Konzerts mit dem Santurspieler Shivkumar Sharma und seinem Sohn Rahul am Freitag nicht mehr live über den Sender gehen. Kein Problem in WDR 3: hier sind sie, die letzten Minuten, ein wahrer Grundtonrausch: mit Shivkumar und Rahul Sharma, sowie Shafaat Ahmed Khan und Rubi Ray.

1) Konzert 16.4.99 Shivkumar Sharma und Rahul Sharma 5'

Shivkumar Sharma, sein Sohn Rahul Sharma, der Percussionist Shafaat Ahmed Khan und Rubi Ray an der Grundtonlaute, das war der Abschluß des Konzertes "Santur - Klang von 100 Saiten" im Klaus-von-Bismarck-Saal des WDR-Funkhauses in Köln am vorigen Freitag.
Am Abend danach war ich in Bochum: der WDR-Ü-Wagen stand vor dem Bahnhof Langendreer, und drinnen auf der Bühne herrschte die Rhythmomania: afrikanische Trommeln, afrikanischer Tanz, das Ensemble Mamady Keita. Kaum jemand sitzt, das Publikum steht dicht an dicht, und alles ist in Bewegung. Da das ganze eher einem Rock-Konzert gleicht, schon was die körperbetonte Show angeht und die enorme Lautstärke, die den lärmerprobten Bahnhof erschüttert, muß man sich immer mal daran erinnern, was für eine Kunst in diesen Rhythmusgeweben steckt: wir verstehen unter Kunst natürlich am liebsten nur das, was vor Jahrhunderten vom Christentum eingefädelt wurde: selbst der Tanz wurde weitgehend ins Innere des Kopfes verlagert!
Diese Bewegung von außen nach innen ist an einem zarten menschenförmigen Instrument nachzuvollziehen: an der Geige. Da gibt es eine alte Inschrift auf den Zargen der Violine: Die Violine spricht:

Viva in sylvis / fui dura occisa securi /
Ich habe im Wald gelebt / dann fällte mich das harte Beil /
Dum vixi tacui / mortua dulce cano.
Solange ich lebte, schwieg ich / als Tote singe ich süß.

Dieses süße Singen gleicht oft einer stilisierten Form des Weinens. Hier aber sind die Lebenden: der Wald steht da in Gestalt der Trommeln, und Mamady Keita singt nicht für sich, er ruht nicht, bis er alle aktiviert hat! Das Wort, das alle lernen müssen, heißt ARBRE, TREE, BAUM, Morybayassa.
Und er sagt:

Wir spielen unsere Djembe-Trommel nicht um zu weinen, sondern um glücklich zu sein.
Mamady Keita bemüht sich auch nicht, süß zu singen. Alle sollen dabeisein, nicht nur die, die es verstehen süß zu singen.
Meine Damen und Herren, Sie befinden sich in den Musikpassagen auf WDR 3, wenn Sie sich darin schon ein wenig auskennen, verweilen Sie gern für 10 Minuten vor unserem afrikanischen Schaufenster, um dann - wie in einem Wort zum Sonntag, falls es einmal zum Thema kommt - endlich auch den Übergang des Abendlandes zu erleben...

2) Band Mamady Keita ab Anfang "Wassa,wassa" ca. 10'
Schlußbeifall blenden mit 3) Lalo
3) CD Isaac Stern Lalo Tr.2 "Scherzando.Allegro molto" 4'22"

Isaac Stern spielte mit dem Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy das Scherzando, den zweiten Satz aus der Symphonie espagnole von Édouard Lalo. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1967. Sie wissen es, in allen Zeitungen standen die Berichte, im Spiegel, in der ZEIT, in der Süddeutschen, im Kölner Stadt-Anzeiger natürlich: Isaac Stern, der letzte der großen Geiger-Generation nach Heifetz, Oistrach, Szigeti, Grumiaux, Milstein, Menuhin, Szeryng ist in Köln; er denkt zwar nicht daran, seinen Schwur zu brechen, niemals in Deutschland zu spielen, aber er war bereit, ausgewählte Kammermusik-Ensembles zu unterrichten, und er hat dies vom 8. bis 17. April öffentlich im Konzertsaal der Hochschule für Musik getan; morgen um 19.00 Uhr findet das Abschlußkonzert der Kursteilnehmer in der Kölner Philharmonie statt.

Ich glaube, ich habe vorige Woche einen schlechten Tag erwischt. Da saß ein junges Streichquartett auf der Bühne, um Beethovens Streichquartett c-moll, op.18 Nr.4 zu spielen. Vor der Bühne, mit dem Rücken zum Publikum, 4 Herren, die mir im Laufe der Sitzung immer mehr wie Ankläger erschienen, die einander an Erfindungsreichtum überboten: neben Isaac Stern der Geiger James Buswell, der Cellist Joel Krasnick und der Pianist Joseph Kalichstein. Nach etwas mehr als einer Stunde war eine Liste schwerster musikalischer Vergehen zusammengekommen, gipfelnd in der Anklage, daß die jungen Leute nur die gedruckten Punkte in den Noten spielen, Tinte, Druckerschwärze, aber nicht einen einzigen Ton Musik. 5 Minuten Pause wurden anberaumt, dann das Publikum nach Hause geschickt, - was konnte denn Schlimmeres noch folgen? Berufsverbot?

Das junge Quartett war bereits erster Preisträger beim "Internationalen Wettbewerb für Streichquartette" in Cremona, es wurde zu bedeutenden Festivals eingeladen, - zur Schubertiade Feldkirch, zum Carinthischen Sommer, ins Salzburger Mozarteum, in den Wiener Musikverein, im Januar hat es in der Reihe "Rising Stars" in der Kölner Philharmonie debütiert, im Herbst folgt die erste Japan-Tournee. Was kann das bedeuten? Daß alle sich irren können. Vielleicht sogar Isaac Stern. Aber seine Autorität ist ungeheuer, und jeder kann sich überzeugend, wie fabelhaft er selber spielt und gespielt hat, - nicht nur romantische Literatur, auch Beethoven. Hier ist der Schluß des Violinkonzertes mit der Kadenz von Fritz Kreisler, aufgenommen vor fast genau 40 Jahren, am 20. April 1959 mit The New York Philharmonic und Leonard Bernstein.

4) CD Bernstein Tr. 1 Concerto f. Violin & Orch. (Beethoven) ab 19.30 bis (23'46") 4'16'

Aus dem Violinkonzert von Ludwig van Beethoven: Isaac Stern spielte Fritz Kreislers Kadenz und den Abschluß des Kopfsatzes. Bei der Uraufführung muß das Konzert aller Konzerte merkwürdig geklungen haben: Beethoven hatte es 1806 für den Geiger Franz Klement geschrieben und war erst 2 Tage vor der Uraufführung damit fertig geworden. Die Tinte war also fast noch naß, der Mann mußte sehr gut vom Blatt spielen können, er muß ein guter Improvisator gewesen sein, denn für den zweiten Teil desselben Konzertes war angekündigt, daß Herr Clement "auf der Violin phantasieren und auch eine Sonate auf einer einzigen Saite mit umgekehrter Violine spielen" werde. Sicher hat er auch die Kadenzen im Beethoven-Konzert phantasiert, ich hoffe nur, mit konventioneller Geigenhaltung.

Es ist eine zweischneidige Sache, immer auf die Quellen zu verweisen - wie es Isaac Stern gern tut -, selbst die Briefe und Notizen Beethovens sind ja nicht 1:1 zu verstehen: man sieht, was er gewollt hat und wie er sich sehen wollte, aber nicht unbedingt, wie er war. Und die Aussage seines Werkes steht auf einem ganz anderen Blatt. Nur ein Beispiel: für Beethoven war sein Neffe eine einzige Katastrophe, aus der Sicht der Nachwelt war wohl eher Beethoven die Katastrophe seines Neffen, daran ändert die menschliche Ausstrahlung seines Violinkonzertes nicht einen Deut. Über Isaac Sterns dringenden Rat an junge Künstler, Beethovens Briefe und Aufzeichnungen zu lesen, kann ich deshalb nicht so in Begeisterung geraten. Man muß sie ja erst lesen gelernt haben. Vorher ist die Lektüre einer guten Beethoven-Monographie, sagen wir: der von Maynard Solomon , einfach nützlicher. Und wenn dann gesagt wird, Beethoven war Pianist, kein Geiger, wie jetzt beim Kurs von Seiten der Jury zu hören war, könnte man entgegnen: so stimmt das doch gar nicht: Beethoven hat als Kind ordentlich Geigen gelernt, und selbst als er mit fast 22 Jahren nach Wien übersiedelte, hat er dort nochmal Geigenstunden genommen.

Lassen Sie uns doch einmal richtig kritisch werden!
Hier ist ein hoffnungsvolles Streichquartett, das Beethovens op.18 Nr.4 spielen will:

5) CD Beethoven op.18 Tr. 5 "Allegro ma non tanto" Anfang bis etwa 2'18"
dann abrupt unter folgendem Text abbrechen!

Moment! Stop! Was ist das eigentlich für ein Tempo? Steht da Alla Breve? Nein? Da steht sogar Allegro ma non tanto. Wieso spielen Sie so schnell? Was Sie gespielt haben, hat überhaupt nichts zu tun mit Beethovens Quartett; da müßte man etwas von einem gigantischen Kampf spüren, es handelt sich doch nicht um einen 5-Uhr-Tee. Nochmal!

6) CD Beethoven op.18 Tr. 5 "Allegro ma non tanto" Anfang bis 0'08"

Was ist das da im Cello? Diese Achtelnoten. Sehen Sie da etwa Punkte über den Noten? Wieso spielen Sie also Springbogen?

7) CD Beethoven op.18 Tr. 5 "Allegro ma non tanto" Anfang bis 0'22"

Meine Herren, das geht zwar immer höher hinauf, aber da ist keinerlei Spannung drin. Warum fällt das immer wieder ab, das klingt, als wollten Sie bei jedem Taktstrich eine Luftpause machen, bei Ihnen hat jeder neue Takt eine eigene Betonung. Ds muß doch weitergehen! Sie spielen zweidimensional, das hat keine plastische Tiefe, keine Skulptur. Da spricht nichts, das ist nur Papier! Also bitte!

8) CD Beethoven op.18 Tr. 5 "Allegro ma non tanto" Anfang bis 0'14"

Eine Frage an die erste Geige: Was ist mit den grace notes. Die Umspielung versteht man ja überhaupt nicht! Und glauben Sie eigentlich, daß sich ihr Vibrato in Takt 11 von dem Vibrato in Takt 1 unterscheidet? Es gibt 814 Arten von Vibrato und ich entdecke immer noch neue. Wieso vibrieren Sie das hohe G überhaupt nicht? Weil Sie den vierten Finger nehmen und der vibriert nicht gern? Das ist nicht bequem? Junger Mann, Geigespielen ist nicht bequem!! Musik ist überhaupt nicht bequem!!!

9) CD Beethoven op.18 Tr. 5 "Allegro ma non tanto" Anfang bis 0'22"

Haben Sie eigentlich mal über Bogentempo nachgedacht? Sie ziehen ihn immer mit der gleichen Geschwindigkeit über die Saiten. Bogentempo hat aber mit Intensität zu tun. Die schwarzen Punkte da auf dem Papier bedeuten gar nichts, was Sie daraus machen, ist alles. Was wir bisher gehört haben, das war nichts, das waren irgendwelche Töne.

10) CD Beethoven op.18 Tr. 5 "Allegro ma non tanto" Anfang bis 0'14"

Halt, nein, es hat keinen Zweck. Meine Damen und Herren, bitte verlassen Sie jetzt das Radio, ich möchte diese CD ohne Zeugen zerbrechen. Oder nein, ich spiele Ihnen zur Versöhnung eine wunderbare Aufnahme mit Isaac Stern vor. 9 Minuten - so lange müssen Sie die Auflösung des Rätsels auf sich beruhen lassen.

11) CD LALO, SAINT-SAENS Tr. 3 "Introduction e rondo capriccioso" 8'49"

Isaac Stern mit "Introduction et rondo capriccioso" op. 18 von Camille Saint-Saens. Das Philadelphia Orchestra begleitete unter Eugene Ormandy. Meine Damen und Herren, was Sie vorher gehört haben, war eine freie Verarbeitung des Workshops, den ich genau vor einer Woche in der Kölner Musikhochschule miterlebt habe, - wo allerdings ein junges Wiener Ensemble live gespielt hat, während ich hier die immer gleiche Aufnahme des renommierten Alban-Berg-Quartetts verwendet habe, um all die Zitate der 4-köpfigen Jury unterzubringen, die ich mir notiert habe. Wenn Sie die Aufnahme bei jeder Wiederholung schlechter gefunden haben, dann hätte dieser Beitrag seine psychologische Berechtigung gehabt. Ich habe ja regelrecht verhindert, daß Sie einen einzigen positiven Gedanken entwickeln konnten.

Auch in der Kölner Musikhochschule erschien uns die zunächst respektable Leistung des Nachwuchs-Quartetts immer schlechter. Wahrscheinlich ist es unter den kritischen Schlägen aber auch immer unbeholfener geworden. Ich will gar nicht sagen, daß es am Anfang wirklich gut war, - aber auch die Herren am Lehrertisch sollen sich an anderen Tagen durchaus eines freundlicheren, bisweilen sogar charmanten, animierenden Tones befleißigt haben (darüber hätte ich gern berichtet, aber einmal aus dem Saal geschickt, konnte und wollte ich es mir nicht leisten, noch einen weiteren Nachmittag freizumachen).

Bei Kursen im ungarischen Szombathely habe ich mal den Komponisten György Kurtág beim Interpretationskurs erlebt: ich übertreibe nicht, - er arbeitete mit einem jungen Geiger am ersten Akkord der Bartók-Solosonate 20-25 Minuten lang, ein g-moll-Akkord und sonst nichts, wieder und wieder, und doch hatte man die ganze Zeit über das Gefühl, daß hier etwas Entscheidendes vor sich ging, wobei allerdings Kurtágs enervierende Hartnäckigkeit noch von seiner Liebenswürdigkeit übertroffen wurde.

Vieles, was auf der Hand zu liegen scheint, muß jungen Musikern gewiß immer wieder neu gesagt werden, und die Meister tun es dann oft mit sehr plastischen Bildern, gerade auch Isaac Stern, wenn er z.B.dem Cellisten zu seinen Achtel-Repetitionen sagt: spielen Sie nicht Cello, sondern spielen Sie wie ein Fagott, oder stellen Sie sich ein Horn vor, nur nicht Ihr Cello, - das Ergebnis ist einleuchtend. Auch diese berühmte Stelle aus dem Film "Von Mao zu Mozart", wo er die chinesische Geigerin dazu bringt, eine Stelle zu singen, und plötzlich kann sie die Stelle sinnvoll vortragen, - das wirkt sehr überzeugend, provoziert aber letztlich dann doch die Frage: warum singen denn viele Sängerinnen und Sänger so wenig überzeugend?

Es gibt nicht nur den Gesang, es gibt auch den Tanz, und es gibt auch das sinnvolle Sprechen, - gerade in der Musik ("Parlando"): eine WDR-Sendung über Isaac Stern am vergangenen Samstag endete mit diesem Satz: "Ich spiele nur Musik, die zu mir spricht, so daß ich auch zu den Leuten sprechen kann." Und er weiß wie kein anderer, daß die Musik vielsprachig ist, und daß sie aus Tanz, Gesang und Text immer neue Sprachmischungen entstehen läßt.

In dieser Allgemeinheit kann man alles drehen und wenden, wie man will, man hat immer recht, nur: diese Art rechtzuhaben, bedeutet nicht viel.
James Buswell sagte im Kölner Workshop: Vieles, was wir hier sagen, findet Ihr vielleicht nicht gut. Aber vieles,was wir sagen, findet Ihr richtig und glaubt es längst zu tun. Aber man hört es nicht!

Gewiß, das ist vielleicht der Grund, weshalb man den jungen Leuten die letzte Gedankenlosigkeit austreiben und auch solche Selbstverständlichkeiten sagen muß: daß sie über die Taktstriche hinausspielen sollen. Aber war es nicht dieser James Buswell, an den ich mich erinnere, - damals hieß er noch James Oliver Buswell, jung und förderungswürdig - wie er Anfang der 70er Jahre im Fernsehen mit schrecklich massiven Vivaldi-Interpretationen auftrat (vielleicht auch Bach)? Selbstverständlich ging er da mit Hochdruck über alle Taktstriche hinweg! Denn es galt ja die eiserne Regel romantischen Violinspiels (à la Galamian) umzusetzen: die letzte Note des Taktes zu crescendieren, damit sie zwingend in den nächsten Takt führt. Und selbstverständlich mußte die Spannung über mehrere Takte hinweg gehalten werden. Hochspannung selbst da, wo sanfteste Wellenbewegung gefragt war. Und heute liest man immerhin im New Grove Lexikon den vorsichtig formulierten Satz, daß James Oliver Buswells Persönlichkeit nicht immer mit den interpretatorischen Forderungen des weiten Repertoires, das er spielte, in Einklang stand.

Was für eine Revolution, als eine neue Bewegung der Aufführungspraxis alter Musik Einzeltakte mit ihrer Betonungshierarchie ins Recht setzte, ja einzelne Töne mit An- und Abschwellen, messa di voce, "isolierte", - das gab einen Aufruhr! Das Ende sinnvollen Musizierens schien erreicht!

Aber hat man nicht lediglich in einer ganz neuen Weise zu singen begonnen?

12) CD Portrait Vol.1 Tr.2 Pergolesi "Salve Regina" 4'30"

"Salve Regina" (spr.: Rädschina) von Giovanni Battista Pergolesi. Sie hörten Barbara Schlick, Sopran, und Fabio Biondi mit dem Ensemble Europa Galante.

Sobald man die alten Geigen konsequent in ihren originalen Zustand zurückgebaut, den Hals wieder anders angesetzt hatte, damit die Hochspannung der Saiten zurückgenommen werden konnte und nicht mehr zu forciertem Bogendruck zwingt; als man eine tiefere Stimmung und wieder Darmsaiten verwendete, wie sie noch bis 1910, 1920 üblich waren, - keine Darm-E-Saite erlaubt den Dauerdruck, den eine Stahl-E-Saite herausfordert - , dazu die alten, leichten Bögen gebrauchen lernte, - da kam man zu einem Klangbild, das zwar nicht objektiv schöner als das modernisierter Instrumente war, (Schönheit ist relativ!), es war aber nun einmal das Klangbild, das die Komponisten kannten und das aus ihrer Sicht ihre Musik am lebhaftesten zur Geltung brachte. Hätten sie die auf heutige Vorstellungen getrimmten Instrumente verwenden müssen, hätten sie eine andere Musik komponiert oder sich mit Entsetzen abgewandt.

All die kostbaren Stradivaris, Guarneris, Magginis usw., die man heute in den Konzertsälen hört, sind ja seit Anfang des 19. Jahrhunderts umgebaut, auf Volumen getrimmt, - nur diese haben das ausgehalten; Amati- und Stainergeigen und andere waren gänzlich ungeeignet. Das heißt nicht, daß die Alten auf einen Softie-Orchester-Klang eingeschworen gewesen wären: die Darmsaiten sind zu mancher Grobheit fähig, wenn sie der Wahrheitsfindung dient. Fabio Biondi spielt das Unwetter aus dem "Sommer" der Jahreszeiten von Antonio Vivaldi, den Schlußsatz, der durch folgende Zeilen charakterisiert wird:

"Ach, die Furcht ist nur allzu wahr, Donner und Blitze und Hagelschauer vernichten Lavendel und Getreide."

13) CD Portrait etc. Vol.1 Tr.1 Vivaldi "Tempo impetuoso..." 2'28"

Fabio Biondi, Barock-Violine, und das Ensemble Europa galante.
Es ist erstaunlich, in welchem Maße die Barockgeige dazu herausfordert, materialhaltige Töne zu produzieren, während der Ton der modernen Geige sich fatal dem Sinus-Ton genähert hat, was durch exzessiven Vibratoeinsatz kaschiert wird.

Materialhaltig ist vielleicht auch das richtige Wort für den arabischen Geigenton, dazu - wenn überhaupt - ein ausgesprochen langsames Vibrato, und natürlich exzessive Ornamentik, die alle Schattierungen des Modus, des Maqams, zur Geltung bringen kann. Bevor wir aber nach Ägypten abdriften und zwar mit einem der hinreißendsten arabischen Violin-Soli, das ich kenne, hier noch drei Sätze aus dem Concerto No. 12, F-dur, von Arcangelo Corelli, gespielt vom Ensemble Europa galante mit Fabio Biondi.

14) CD Corelli Concerto No.12 Tr. 31 (1'08"), Tr.32 (1'09") Tr.33 (2'13") = 4'30"
15) CD Abdu Dagir Tr. 2 "Layali zaman" ab 4'50" bis 10'32" = 5'42"

Vor der arabischen Improvisation haben Sie Arcangelo Corellis Concerto No. 12, F-dur, gehört; Fabio Biondi spielte mit dem Ensemble Europa galante. Der ägyptische Geiger Abdu Dagir, dessen Improvisation gerade zuendeging, wurde 1936 in Ägypten geboren. Er hat sich den Weg zur Geige regelrecht erkämpfen müssen, obwohl sein Vater selbst Geiger war und einige private Musikschulen betrieb, - der Sohn sollte Anwalt werden. Statt auf dieses Ziel hinzuarbeiten, übte der Junge heimlich auf seines Vaters Geige, und als alle Strafen nichts halfen, wurde er aus dem Haus gewiesen. Er war im Geigenspiel aber bereits so weit fortgeschritten, daß er seine Dienste als Musiker feilbieten konnte, zugleich lernte er auf seinen unsteten Wanderungen das gesamte Repertoire der Volksmusik kennen. In den Dörfern des Nildeltas war er bereits eine Berühmtheit, als er mit 20 Jahren nach Kairo ging, um sich dort einen Platz im Musikleben zu erobern.

Die Aufnahme, die Sie eben gehört haben, "Layali zamani" - "Nächte der Vergangenheit" - stammt von der ersten CD, die Abdu Dagir bereit war herauszubringen. Er hatte immer um die Lebendigkeit seiner Musik gefürchtet und erst der gelungene Live-Mitschnitt eines Konzertes in Nijmegen am 1. November 1992 überzeugte ihn.

Es ist leicht zu erklären, daß der Ton Abdu Dagirs sich nicht an Stradivari orientiert, sondern an dem Ton des traditionellen ägyptischen Streichinstruments Rabab; was man an der europäischen Geige schätzt, ist die Ermöglichung einer agilen Technik bei großem Tonumfang. Hier aber ist die Rabab, - ein Kokosnuß-Resonanzkörper, in dem eine Stab steckt, das Griffbrett, darüber zwei Saiten aus Pferdehaaren gedreht, - und sie hat den Klang der Wüste...

16) Egypt: Musiciens du Nile Tr.1 "Aamedat el Karnak" ab 1'32" bis 3'11"

Die arabische Kunstmusik baut aus diesen kleinen Elementen der Volksmusik ihre großen improvisierten Phantasien, die das Gebäude eines Maqams entwerfen: einer Tonalität, die in all ihren Winkeln und auf allen Ebenen melodisch ausgelotet sein will.
Hier folgt Abdu Dagirs wunderbare Improvisation, ursprünglich eingefügt in eine Komposition, die er dem Nil gewidmet hat, in dessen Delta seine musikalische Heimat liegt.

17) CD Abdu Dagir Tr. 7 "Nil" ab 6'02" bis 11'52"(schnell weg)! (5'50")

Der ägyptische Geiger Abdu Dagir mit seinem Ensemble. Frage an den großen Geiger: was kann die Musik, was kann ein Instrument wie die Geige für einen Menschen bedeuten? Bleibt es ein Freund, kann man daraus auch im Alter noch Energie beziehen?

Absolut, ja. Wir sind heute sogar bessere Freunde denn je.
Das Wundervolle an Musik ist, daß die unterschiedlichen Möglichkeiten, wie man an eine lebendige Phrase rangeht, schier unerschöpflich sind. Und Musik ist eine lebendige Sache, deswegen kann Musik auch über hunderte von Jahren am Leben bleiben. Aber sie kann nur lebendig bleiben, wenn der Interpret auch lebendig bleibt.
Und wie ich schon 1000mal sagte: Musik hat nichts zu tun mit den Noten, mit den schwarzen kleinen Punkten auf weißem oder gelbem Papier. Musik ist das, was zwischen jeder Note passiert, wie man von einer Note zur nächsten kommt. Was ist Richtung? Was ist Spannung? Welches ist die harmonische Idee? Was ist der übergeordnete Bogen über dem Werk? Und jedes dieser kleinen Elemente hat seinen Platz. Und jedes Mal wenn man etwas spielt, was man 20, 30, 10. 5 Jahre zuvor gearbeitet hatte, sagt man: "mmmh - an das habe ich gar nicht gedacht - Idiot!"
Und das ist es, was Musik ausmacht: Wissen Sie, Sounds, Sounds können technisch von Maschinen viel akkurater und sauberer erzeugt werden, aber nur das menschliche Wesen kann mit Ideen und Gefühlen erzählen und sprechen.
Wenn ich spiele, also - wenn ich genau die Kontrolle habe, die ich möchte...was ich dann tue: ich singe jede Phrase im voraus in meinem Kopf. Und dann muß man genau sehen, woher man kommt und wohin man geht und wo man sich gerade befindet, alles zur gleichen Zeit.
Das ist es, was landläufig 'Interpret' genannt wird. So, worüber auch man nachdenkt, wenn man überlegen muß: 'Oh, wie mache ich jetzt das, wie, wo, warum...' zu spät!!!
(Isaac-Stern-Sendung 17.4.99 Ende Bd.1)

Meine Damen und Herren, was hat Ihnen Abdu Dagir denn hier erzählt? Natürlich - mit kleinen schwarzen Punkten auf weißem oder gelbem Papier, mit sogenannten 'Noten', hat er nichts zu tun, das glauben wir gern, die Erfindung der Notenschrift bedeutet dem Orientalen nichts, gar nichts, er will nur diese lebendige Sache, die Musik.
Meine Damen und Herren, jetzt gibt es aber ein kleines Problem.....ich habe Sie hinters Licht geführt...Sie müssen entschuldigen: das war gar nicht Abdu Dagir. Das war Isaac Stern.

Wir reden immer wieder von Isaac Stern, weil er sich in Köln befindet. Er wird in Deutschland kein Konzert geben, diesen Eid hat er einmal abgelegt und er will ihn nicht brechen, das muß man respektieren, auch wenn man es nicht ganz versteht. Hier habe ich eine CD, auf der er die Bartók-Sonaten interpretiert, aber auch die 4 Stücke op.7 von Anton Webern..., ---- hat er denn nicht die Briefe studiert und erfahren, daß Webern ... bald nach 1933......??? Schluß mit solchen Spitzfindigkeiten!
Wir jedenfalls sind zu Dank verpflichtet: Isaac Stern hat mit drei - von ihm ausgewählten - Kollegen einen Kammermusikkurs gegeben. Vor allem Brahms und Beethoven. Morgen abend kann man in der Kölner Philharmonie ab 19.00 Uhr erleben, was dabei herausgekommen ist. Ich glaube, es wird interessant, und ich bin gespannt, ob auch das Quartett, das nur die schwarzen kleinen Punkte vom weißen und gelben Papier einfach so runterspielt, dabei sein wird. Kann es nicht wenigstens als schlechtes Beispiel....?
Nein, wir wollen an dieser Stelle nicht albern sein, es handelt sich hier letztlich um eine E-Musik-Sendung, eine ziemlich ernste, auch wenn wir uns stets bemühen, unser Publikum zeitgemäß zu unterhalten.

Hier ist ein hinreißender Satz aus Isaac Sterns Interpretation der 1. Sonate für Violine und Klavier von Béla Bartók.
Isaac Stern mit Alexander Zakin am Klavier.

18) CD Bartók Tr. 3 Finale Sonate No. 1 "Allegro molto" 9'09"

Musikpassagen auf WDR 3, heute mit J.R.
Isaac Stern spielte mit Alexander Zakin am Klavier das Finale der 1. Sonate für Violine und Klavier von Béla Bartók.
Béla Bartók hat - ohne den Begriff zu verwenden - sein Leben der Weltmusik gewidmet, - nicht im Sinne von Fusion Music, sondern von Weltliteratur, er hat sich der rumänischen Musik mit der gleichen Leidenschaft gewidmet wie der ungarischen, der slowakischen ebenso wie der türkischen oder der arabischen, die er in der Oase Biskra studierte. 1932 nahm er an der ersten arabischen Musikkonferenz in Kairo teil. Dort ist er höchstwahrscheinlich auch der großen ägyptischen Sängerin Oum Kalthoum begegnet, die später zum Musikmythos der arabischen Welt aufstieg. Aus zwei Gründen komme ich auf Oum Kalthoum zu sprechen: Erstens, es gibt jetzt eine deutsche Biographie dieser faszinierenden Frau; zweitens, Isaac Stern hat vorhin gesagt:

Nur das menschliche Wesen kann mit Ideen und Gefühlen erzählen und sprechen.
Wenn ich spiele, also - wenn ich genau die Kontrolle habe, die ich möchte...
was ich dann tue: ich singe jede Phrase im voraus in meinem Kopf.

Und dieser Zusammenhang von Singen und Musizieren, der vielen Instrumentalisten mühsam ins Gedächtnis gerufen werden muß, ist in der arabischen und allgemein orientalischen Musik noch selbstverständlich.
Ein wunderbares Violinsolo, das uns ein arabischer Geiger beim WDR-Violinfestival 1980 gespielt hat, ist vielleicht auch deshalb so gelungen, weil er Oum Kalthoums Stimme im Kopf hatte. Er war Konzertmeister in ihrem Orchester gewesen, "Anaf inte zarak" - "Ich warte auf dich", dies ist die Originalaufnahme aus den 50er Jahren. Wollen Sie versuchen, sich die wesentlichen Züge der Melodie einzuprägen?

19) CD OUM KALTHOUM Ana Fe Entezarak ab 2'24' bis 5'20"

Am Anfang der heutigen Sendung habe ich den afrikanischen Trommler zitiert, der sagte: Wir spielen unsere Djembe-Trommel nicht um zu weinen, sondern um glücklich zu sein. In andern Kulturen singt man um zu weinen und dabei glücklich zu werden! In dem schönen Buch von Stefanie Gsell über die ägyptische Sängerin 'Umm Kulthum' lese ich über Taswir al-ma'na,

- "die Erfassung, Gestaltung und Erhöhung der Bedeutung eines Textes. Nach der Meinung vieler arabischer Musikkritiker entsteht durch die Verbindung von Wort und Musik der Tarab (Freude, Ekstase), den die Araber als die Essenz von Musik empfinden.
Taswir al-ma'na hat große Bedeutung für die Koranrezitation und schließt dort ein weiteres Element ein, das den arabischen Gesang prägt: Huzn (Traurigkeit). Nicht nur ein emotionaler Zustand wird darunter verstanden, sondern eine vokale Technik, die Verbindung von Huzn und Rikka (Feinheit, Zartheit). (...) Durch Huzn wird die effektivste Koranrezitation erreicht, nämlich eine, die das Herz des Zuhörers aufwühlt. Oft verbindet man heute Huzn mit musikalischer Kunstfertigkeit. Huzn ist ein ästhetischer Stimulus, der Weinen (Buka) erzeugen soll, denn Huzn und Buka gelten als die Reaktion auf Wahrheit und Schönheit. Musik und Dichtung können den Zuhörer zu Tränen rühren. Umm Kulthum wurde verehrt für ihre Fähigleit, ihr Publikum zum Weinen zu bringen."
(Stefanie Gsell "Umm Kulthum" Verlag DAS ARABISCHE BUCH 1998 Berlin, ISBN 3-86093-184-9, S.144)

Meine Damen und Herren, fassen Sie sich! Hier kommt Oum Kalthoums Gesang "Ich warte auf dich", transponiert auf die Violine. Ihr Konzertmeister Ahmed Mohammed El Hefnawi spielt, er wird auf der Req-Rahmentrommel begleitet von Ahmed Sobi Mohammed Metwally.

20) West-östliche Violine 1980 (ohne Ansage, also:) bei 0'32" beginnen, bis 10'30" Beifall ca. 20 sec.)

"Anaf inte zarak" - "Ich warte auf dich", die Violinfassung eines Stücks, das durch die Sängerin Oum Kalthoum berühmt geworden ist: es wurde von ihrem Konzertmeister Ahmed Mohammed El Hefnawi gespielt, auf der Req-Rahmentrommel begleitet von Ahmed Sobi Mohammed Metwally. Aufgenommen im WDR-Funkhaus beim Ersten Kölner Geigenfestival am 17.5.1980.
Die Bezugsquelle des erwähnten Buches über die große ägyptische Sängerin erfahren Sie über unser Hörertelephon: 0180 - 5678 333.

Die Araber sind die Melodiker schlechthin, ihr Leben steckt in diesem melodischen Linienspiel, aber eine für uns schöne Melodie wie die folgende käme ihnen gewiß nicht in den Sinn: auch nicht dieser Ausdruck des betont Schlichten, den Isaac Stern ja auch nur wählt, weil er weiß, welches Espressivo die Melodie ihm später erlauben wird.

21) CD 2 von: s. 3) Tr. 5 aus dem Poème von Chausson von 2'10" bis 3'05"

Ein arabischer Musiker würde dieses zarte Gebilde mit Fiorituren umwinden, mit ornamentalen Gewändern bedecken, am Ende auf einem Rhythmus davon-schweben lassen. Was tut der spätromantische europäische Komponist? Er sucht die Melodie durch Orchesterharmonien zu erlösen, und weiß, daß sie um so wirkungsvoller sind, je harmloser sich die Melodie vorher gegeben hat, je spröder die einsame Geige sich mit Mehrstimmigkeit abmühen mußte.

22) CD 2 (wie vor) Tr. 5 Chausson von 4'32" bis 5'25" (schneller Ausstieg)

Natürlich habe ich den Inhalt des Stückes nicht annähernd angedeutet, es ist ein Poème, das Sie sich selbst dichten dürfen: die einsame Geige erzählt, ich vermute es ist wieder dieses eine Thema, das Hauptthema seit Erschaffung des zweiten Menschen; diesmal eingetaucht in die Atmosphäre des Fin de siècle, eines anderen Jahrhunderts. Ernest Chausson schrieb sein Poème für den Geiger Eugène Ysaye im Jahre 1896.
Hier hören Sie Isaac Stern mit dem Orchestre de Paris unter Daniel Barenboim.

23) CD 2 (wie vor) Tr. 5 Chausson: "Poème" op.25 17'44"

Isaac Stern, Violine, und das Orchestre de Paris unter Daniel Barenboim spielten das Poème op. 25 von Ernest Chausson. Zweifellos eine Musik, die zu uns spricht, - wenn auch nicht zu jedem Menschen. Dem arabischen Musiker sagt sie nichts, dem indischen Musiker, der mit unendlich geduldigen Steigerungswellen zu tun hat, sagt dies konvulsivische Auf und Ab auch sehr wenig, dem Freak der prächtigen Barock-Oper ist es purer Fin-de-Siècle-Kitsch. Und wie ist es mit indischer Musik? Spricht sie wirklich zu uns??? Manchmal hört sie gar nicht wieder auf zu reden.

24) CD BANGALORE Charlie Mariano Tr. 8 "Konversation" (R.A.Ramamani) 5'18"

Vielleicht haben Sie gesagt: das ist ja gar keine Musik, das ist Trommelsprache, das sind Rhythmusformeln, die in diesem Fall zu einer Ensemblekomposition zusammengefügt wurden. Ja, genau, und die stammt von der Sängerin Ramamani und wird vom Karnataka College of Percussion ausgeführt, es ist das Finale der neuen CD des Saxophonisten Charlie Mariano. Es ist schon Musik, aber die ganz richtige karnatische Musik - das ist die aus dem Süden Indiens, aus Karnataka -, folgt jetzt erst.

Die Violine hat man dort schon Anfang des 19. Jahrhunderts von den Engländern übernommen, von englischen Militärmusikern, und so wundert es nicht, daß die Südinder, als sie sich das Instrument erst einmal zueigen gemacht hatten, der Ansicht waren, daß sie viel besser damit umzugehen wüßten. Sie wurden wahre Virtuosen der Gesangsbegleitung; der Geiger saß neben der Sängerin oder dem Sänger, und spielte, um Sekundenbruchteile versetzt, genau das nach, was der Gesang vorgab. Diese enorme Flexibilität hat merkwürdigerweise erst in unserem Jahrhundert zu einer Emanzipation der Geige geführt. Inzwischen sieht man den Violinsolisten oft an der Stelle des Sängers sitzen.

Die Haltung ist interessant: die Beine werden gekreuzt, die Violine wird vom Brustkorb aus auf die rechte Ferse gestützt, so daß die linke Hand von der Geigenhaltung befreit ist und ungehindert ihre permanenten Gleitbewegungen von Ton zu Ton ausführen kann.
Der Raga Mohanam, der jetzt gleich von einem der berühmtesten südindischen Geiger, von L.Subramaniam, interpretiert wird, ist eine pentatonischer Raga, daher erinnert seine Skala etwas an chinesische oder irische Melodien, auch an den Waldvogel aus Richard Wagners "Siegfried". Hören Sie nur dieses schöne Motiv, das in der Einleitung, dem Alapana, immer wieder auftaucht:

25) "Waldvogel"-Motiv aus Raga Mohanam

Wenn nach dieser ausgedehnten freien Improvisation die Rhythmusinstrumente dazukommen, spielt die Geige eine echte mehrteilige Komposition, später eine andere, und jedesmal wechselt der Rhythmus; wenn man einen langen Atem hat, spürt man den allmählich anwachsenden Drive auf das Ende hin. Zu den Rhythmusinstrumente gehört übrigens auch die feine Stimme der Maultrommel, deren sirrender Klang nur an manchen Stellen hervortritt.

So virtuos die indische Violine gehandhabt wird, - nicht jeder ist davon so begeistert wie die Südinder: einer der größten nordindischen Künstler, der Sitarspieler Vilayat Khan, reagierte auf meine begeisterten Äußerungen zum südindischen Geigenspiel folgendermaßen: er erzählte, wie er einmal in einem Londoner Hotel dem großen Jascha Heifetz begegnet ist; sie kamen ins Gespräch und Heifetz packte seine kostbare Geige aus, um zu erklären, welche Haltung er annimmt, aufrecht, den Kopf leicht seitlich gewendet, und so, daß die Geige gut balanciert ist; wie er die Beine ausrichtet, damit die Bewegung des Bogenarms gut austariert ist usw., "alles muß im Gleichgewicht sein". "Und was tun unsere indischen Kollegen?" sagt Vilayat Khan, "sie nehmen das Instrument, hocken sich nieder, kauern sich auf den Boden, und klemmen die Geige zwischen Brust und Fuß. I cannot accept that".
Ich glaube aber, da war ein nord-süd-indisches Sympathie-Gefälle beteiligt.

Meine Damen und Herren, wir können es uns leisten, beide Spielarten zu lieben, und die südindische ganz besonders, wenn eine so zauberhafte Musik dabei entsteht wie die, die uns jetzt erwartet. 30 Minuten Raga Mohanam mit L. Subramaniam und seinem Ensemble, aufgenommen bei einer WDR3-Nachtmusik im WDR-Funkhaus am Wallrafplatz am 8. Januar 1994.

26) Band Raga Mohanam (L.Subramaniam) ca. 28' (endet mit Beifall)

Der südindische Raga Mohanam mit dem Violinisten L. Subramaniam und seinem Ensemble, am 8. Januar 1994 aufgenommen bei einer WDR3-Nachtmusik im Funkhaus am Wallrafplatz.


Die Musikpassagen auf WDR 3 neigen sich ganz allmählich dem Ende zu.
Ich hoffe, die indische Musik hat Sie angesprochen und Sie sogar leicht und froh gestimmt. Wenn ja, lassen Sie es uns wissen. Unser Hörertelephon hat die Nr. 0180-5678 333.
Letztes Mal hat sich ein Hörer drastisch über einen bestimmten koreanischen Gesang in den Musikpassagen beklagt und den Kommentar oberlehrerhaft genannt. Von der koreanischen Botschaft kam gleichzeitig ein sehr netter Dankesbrief. Wie dem auch sei: Beide Meinungen interessieren uns und werden diskutiert.
Noch einmal der Hinweis für Kammermusikfreunde und Verehrer Isaac Sterns: Morgen um 19 Uhr wird er das Ergebnis seines Kammermusik-Workshops in der Kölner Philharmonie vorstellen. Isaac Stern in Köln, das ist ein außergewöhnliches Ereignis, ich habe in dieser Sendung nur ein paar subjektive Eindrücke von einem vielleicht nicht ganz geglückten Nachmittag abgearbeit. Besseres können Sie in den größeren Zeitungen nachlesen, in der ZEIT z.B. oder in der Süddeutschen von vorgestern.
Die Welt der Violine ist weit, das haben wir gesehen und gehört, wir alle haben sie hier gemeinsam beleuchtet: an erster Stelle Sie, wenn Sie mit Interesse zugehört haben, dann Elgin Ferdinand in der Technik, Christoph Prasser als Produktionsassistent, Jan Reichow am Mikrophon, - aber unser Ehrengast Isaac Stern soll den letzten Ton haben ...
27) CD LALO, SAINT-SAENS Tr. 3 "Introduction e rondo capr." (8'49")




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Musikpassagen 21.April 1999 - Die Welt der Violine