Sie befinden sich hier:
Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Musikpassagen: Elfenbeinturm

WDR 3 Musikpassagen
Wo geht's denn zum nächsten Elfenbeinturm?
Von Kunst, Kultur und Werturteilen
Musik- und Gedankensprünge zwischen klassischem Repertoire und anderen Kulturen
Sendung 20. Oktober 2004, 15:05 bis 17:00 Uhr
Skript der Sendung / Moderation: Jan Reichow

(Jingle)
Am Mikrofon begrüßt Sie Jan Reichow. Meine Damen und Herren, angesichts der rapiden Veränderungen in unserer Gesellschaft wird uns in WDR 3 bisweilen geraten, den Elfenbeinturm zu verlassen, selbst wir Traumtänzer sollten uns der Welt öffnen, - nein danke, ich tanze gar nicht, jedenfalls nicht aus Prinzip, - es ist eine alte Errungenschaft, auch außerhalb des Abendlandes, Kultur zu zeigen durch Stillsitzen. Weltweit wertet man das permanente Bewegen der Hüften beim Zuhören oder Diskutieren als wenig sachdienlich. Gerade in der interkulturellen Begegnung.
Nur die modische Multi-Kulti-Ideologie hat diesen entnervenden Tanzzwang entwickelt, eine motorische Tyrannei sondergleichen, - unschwer zu erraten, woher das kommt: Exotic-Halligalli-Romantic-Weekend, Party-Hype und Urlaubsspaß. Und an den realen Multikulti-Brennpunkten - brennt es.
Aber wo gibt es die Elfenbeintürme? Es wäre doch eine Ehre hineinzuklettern, stünde einer in Sichtweite: Ganze Kulturen wären darin zu finden, einschließlich unserer klassischen, Weltdeutungen und Weltentwürfe, wir würden auf illustre Geister stoßen, sogar auf den großen französischen Verfechter des Elfenbeinturmes, Gustave Flaubert! Ich weiß nicht, ob sich unsere Welt mit der des damaligen Paris messen kann, - war die nicht viel schöner, vornehmer, gebildeter?
Flaubert schrieb am 13. November 1872 an seinen russischen Freund, den Schriftsteller Ivan Turgenjev:

Sprecher:

"Ich fühle eine heillose Barbarei aus dem Boden aufsteigen.- Ich hoffe, krepiert zu sein, bevor sie alles mit sich gerissen hat. Aber einstweilen ist es nicht lustig. Nie haben geistige Interessen weniger gezählt. Nie waren der Haß auf alles Große, die Geringschätzung des Schönen, der Abscheu vor der Literatur so offenkundig.
Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben; aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern, genug um ihn zum Einsturz zu bringen. Es geht nicht um Politik, sondern um den geistigen Zustand [Frankreichs] des Landes."

Gustave Flaubert an Ivan Turgenjev.

Ich bin erschüttert. Ich dachte, im Elfenbeinturm dürfe man jederzeit Flaubert zitieren, aber - doch wohl nicht soo!

Sprecherin:
Irrtum Nr.1:
Kultur sei die Welt sensibler Herrschaften, die den Blick allein auf die höheren Dinge gerichtet halten und dabei unversehens in die Jauchegrube stürzen, zur Freude aller Banausen. Nein, Kultur ist etwas anderes.

1) Strawinsky "Sacre du printemps" Tr. 5 23:10 bis 25:13

Die Kultur entwirft ihre eigene Frühgeschichte, wild und fremd, in einem imaginären heidnischen Russland. Es ist auch die Zeit der afrikanischen Masken, ein spätbürgerlicher Blick auf die vermuteten und erhofften ethnischen Ursprünge. Andere entdecken ein eigenes, neues Lebensgefühl in der Wiedergeburt der Frühen Musik.
Durch die Erinnerung an den wirklichen Kirchenraum, der vor Jahrhunderten geeignet war, alle, die sich darin befanden, mit Visionen himmlischer Heerscharen zu überfluten, von deren Glanz bis heute noch die Knabenchöre, Pauken, Trompeten und dieses gigantische C-Dur zu zehren scheinen, 250 Jahre nach der Epoche der Aufklärung, 100 Jahre nach Strawinskys "Sacre".
"Plaudite Tympana" - "Schlagt drauf... auf die Pauken!!"
2) Missa Salisburgensis Tr. 6 "Plaudite Tympana" Anfang bis 1:33 (Nachhall!!)

Plaudite Tympana, schlagt die Pauken im Salzburger Dom. 1628! Hier und heute verfügbar. Wie auch alles andere: man könnte ja auch sagen: schlagt doch die Trommeln auf dem Festplatz! (Musik beginnt)
Und wir beobachten die perspektivische Verschiebung in unserem Kopf.
3) Senegal Tr. 13 "Djamil" Anfang bis ca. 4:40

Ein Zeichen unserer Epoche ist, dass solche Sprünge möglich sind, André Malraux' "Musée imaginaire", das imaginäre Museum aller Zeiten und Kulturen ist auch in der Musik greifbar geworden.
Aber es ist ganz unmöglich, von dem historischen und ethnischen Hintergrund abzusehen. Nach einem Augenblick des In-Beziehung-Setzens landen wir wohlbehalten im Senegal und wissen bereits, dass es sich nicht um bedrohliches oder wüstes Getrommel, sondern um einen höchst disziplinierten musikalischen Festakt handelt. Und wenn uns dort jemand an den Salzburger Dom erinnerte, würden wir sagen: die Welt ist größer geworden, es gibt Außenräume und Innenräume, Himmelsbetrachtung und Handarbeit, Vergangenheit und Gegenwart. Der Kontext der Kultur ist komplizierter geworden, seit man Kulturen auch im Plural kennt, das heißt gerade nicht, dass man pauschaler damit umgehen dürfte. Wenn die Arbeit am Detail eine Sache des Elfenbeinturmes ist, so braucht man ihn nach wie vor.

Sprecherin:
Irrtum Nr.2
Kultur sei vor allem aktuelle Gegenwart: die Documenta, das neue Regie-Theater, der Nobelpreis an Elfriede Jelinek, die Bestsellerliste, die Charts... nein, Kultur ist Erinnerung, Bewahrung, Bildung, Einordnung, Geschichte, die Einschätzung von Kitsch und Provokation, von Ironie und Emphase, ein Netz von Anspielungen und Verweisen, ein Bezugssystem, Koordinaten in einer Seelenlandschaft, Bewusstsein von Körperlichkeit, Vergänglichkeit - und Überdauern.


Nehmen wir ein Beispiel, - was es bedeutet, wenn die Koordinaten sich im Weltmaßstab verschieben.
Sprecher:
"Dem wahren Komponisten enthüllt die Musik willig ihre Geheimnisse; er ergreift ihren Talisman und beherrscht damit die Phantasie des Zuhörers, so daß auf seinen Ruf diesem ein bestimmtes Bild aus dem Leben vor die Augen des Geistes tritt und er unwiderstehlich hineingezogen wird in das bunte Gewühl phantastischer Erscheinungen. (...) Es gibt [dagegen] gewisse Melodien, die zum Beispiel an Einsamkeit, an Landleben erinnern; ein gewisser Gebrauch der Flöten, Klarinetten, Hoboen, Fagotte wird das Gefühl bis zu hoher Lebendigkeit steigern. Ebenso wird man bei gewissen Melodien der Hörner augenblicklich in Wald und Hain versetzt, welches wohl tiefer als darin liegt, daß das Horn das Instrument der im Walde hausenden Jäger ist."
E.Th.A. Hoffmann (1812, Betrachtungen über Musik S. 140)

Ernst Theodor Amadeus Hoffmann in seinen Betrachtungen über Musik.
Gilt, was er sagt, auch beim Klang der Hörner in China? Heimat, deutsche Seele, deutscher Wald? Was ist der Wald, wenn es keinen Freischütz gibt? Gehört das "Heimatgefühl" untrennbar zur Kultur?

Sprecherin:
O Täler weit, o Höhen, / O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen / Andächt'ger Aufenthalt.
Da draußen, stets betrogen, / Saust die geschäft'ge Welt;
Schlag noch einmal die Bogen, / Um mich, du grünes Zelt.
Im Walde steht geschrieben / Ein stilles, ernstes Wort
Vom rechten Tun und Lieben / Und was der Menschen Hort.


Ist das womöglich ein Elfenbeinturm, - wenn auch aus Holz und Blätterwerk?
Da draußen "die geschäft'ge Welt", "um mich das grüne Zelt!?"

4) Hörnerquartett "O Täler weit, o Höhen" Tr. 25 1:18
5) Chinesischer Tenor: "Im schönsten Wiesengrunde" 1:08

Das Detmolder Hornquartett und ein Ausschnitt aus einem Konzert des chinesischen Volksmusikorchesters Peking in Düsseldorf, 1978. Kann man den Gedanken an "Heimat" schöner verfehlen, als mit einer bloß phonetisch erlernten, quälend fremdartigen Wörterfolge? Eigentlich gespenstisch, diese künstliche "Innigkeit", wenn sie nicht so gravitätisch-komisch daherkäme, "nicht ganz getroffen", aber "gut gemeint". Oder?
Ein Riesenbeifall war gesichert. Die Künstler signalisieren: "das machen wir doch spielend zu Eurer Zufriedenheit!", die Hörer: "wie nett sie sich an unserer Musik versuchen!" Und beide werden sagen, dass sie einander zutiefst respektieren.
Nun, es war eine Tournée, man wollte sich anderen zeigen, etwas demonstrieren. Wir haben das Lied jetzt gewissermaßen vor dem Hintergrund des rührend schlichten Hornsatzes gehört, dadurch verstärkte sich die pathetische Übertreibung, ein bisschen anders wäre die Wirkung schon gewesen, wenn Sie das ganze Konzert gehört hätten, im Rahmen von anderen, mehr oder minder ungewohnten Emotionen.
I n n e r h a l b einer Kultur aber werden die Unterscheidungen unglaublich fein, gerade was die Nuancen emotionalen Ausdrucks angeht. Und merkwürdigerweise ganz besonders, wenn es um die Zurücknahme der Emotion zugunsten des Einfachen, des durch bloße Schlichtheit Rührenden geht.
Vielleicht hören Sie jetzt gleich nur ein wunderschönes Thema von Beethoven und würden nicht spüren, dass es zickig gespielt ist, dass es sinnlos wackelt, dass die Interpretation respektlos gegenüber dem Notentext verfährt usw., vielleicht sind Sie noch jung, vielleicht hören Sie das Stück zum ersten Mal, vielleicht haben Sie noch keine Vergleichsinterpretation gehört. Vielleicht machen Sie mir auch schon Vorwürfe: Jetzt kann ich doch überhaupt nicht mehr unvoreingenommen zuhören. Das stimmt, so soll es auch sein. So sind wir alle einmal in bestimmte kulturelle Verhaltensmuster hineinmanövriert worden. Aber irgendwann können wir sie dann auch einer Prüfung unterziehen. Bei Beethovens Thema aus op. 109 müssen Sie nicht lange warten.
6) Beethoven op. 109 mit Olli Mustonen Tr. 3 Anfang bis 2:13

Um nur eine Nuance zu benennen: Sie kennen sicher dieses von Beethoven bis Mahler häufig angewendete Crescendo, das auf ein Ziel, z.B. einen bestimmten Ton oder Akkord, zugeht, - diesen aber dann nicht im forte bringt, sondern in einem plötzlichen Piano, so als sei das Ziel zu kostbar, direkt berührt zu werden. Genau das ist die Situation am Ende der ersten Melodiezeile. Olli Mustonen, den Sie gerade gehört haben, macht das zwar auch, aber viel zu hastig, so dass die Wirkung ausbleibt.
Hören Sie nun die andere Interpretation. Sie ist - wie ich finde - schlicht vollkommen.
7) Beethoven op. 109 mit Michael Korstick Tr. 2 Anfang bis 2:28

Was glauben Sie, wer so spielt? Mauricio Pollini? Emil Gilels?
Nein, der Pianist heißt Michael Korstick.
Beethoven schreibt in einem Brief an die 19jährige Maximiliane von Brentano, der er diese Sonate op. 109 widmete - und es gibt durchaus Hinweise, dass dieses wunderschöne Thema ihr Kurzportrait ist - , er schreibt: "...es ist der Geist, der edle und bessere Menschen zusammenhält auf diesem Erdenrund und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht..."
Meine Damen und Herren, im Namen der klassischen Kultur, soviel Zeit muss sein, lassen Sie den Geist 10 Minuten lang zu uns sprechen: er wird aus diesem melodischen Kurzportrait gestaltenreiche Variationen entbinden, einen Kosmos menschlicher Emotionen, nicht ungefährdet, aber am Ende kehrt das Thema wieder, als sei nichts mit ihm geschehen, und doch enthält es in seiner Einfachheit all das, was an uns vorübergezogen ist.
Michael Korstick fährt fort:
8) Beethoven op. 109 mit Michael Korstick Tr. 2 ab 2:29 bis 13:45 (Ende)

Michael Korstick spielte die Variationen mit abschließendem Thema aus Beethovens Klaviersonate op. 109, E-dur.
Ludwig van Beethovens Wort vom "Geist, der edle und bessere Menschen zusammenhält auf diesem Erdenrund und den keine Zeit zerstören kann" ist ein großes idealistisches Wort, das die konkreten Trennungen und Differenzen ausspart. In der Tat machte er sich Notizen z.B. über die Inder und ihre Tonarten, er wird das 1802 veröffentlichte, Joseph Haydn gewidmete Buch von Dalberg "Über die Musik der Inder" in den Händen gehabt haben, aber was ihn "auf diesem Erdenrund" noch umtrieb, war das Problem der Bachschen Kontrapunktik, das er auch in einer der eben gehörten Variationen energisch anging; die nächste Sonate op. 110 wird er in zwei Fugen münden lassen.

Hundert Jahre später ließ der Musikschriftsteller August Halm die Probleme Beethovens revue passieren und ihm muss eigentlich bewusst gewesen sein, dass er eine bestimmte Phase deutscher Musikgeschichte unangemessen ins Globale überhöhte, wenn er seinem Buch über das Prinzip der Fuge bei Bach und der Sonate bei Beethoven den Titel gab: "Von zwei Kulturen der Musik".
In der Annahme, dass Worte wie "Form", "Stil", "Sprache" oder gar "Diktion" ungenügend seinen, sprach er von "zwei Kulturen". Keine besonders glückliche Entscheidung. Die Sonate ist ein Prinzip und auch eine Form; die Fuge ist keine Form, aber eine Technik, auch eine musikalische Denkweise, aber beide machen noch keine "Kultur" aus. Dieser Gebrauch des Wortes Kultur hat Schule gemacht.

Sprecherin:
Irrtum Nr. 3: Bei jedem gesellschaftlichen Phänomen, das man aufwerten oder auch nur benennen will, das Wort Kultur anzuhängen: Kneipenkultur, Skatkultur, Jugendkultur, Hiphop-, Rap- und Skaterkultur, Fussballkultur, Nacktkultur, Toilettenkultur, Putzkultur. Manches kann sogar Kult werden. Aber in den meisten Fällen genügt es, das Wort Szene anzuhängen, oder Milieu auch (-clique) (-wesen) (-bewegung) (-pflege) (-technik) oder (-hygiene).


Bei dieser Inflation der Kulturen wird es tatsächlich heikel, von Kultur im emphatischen Sinne zu sprechen. Ganz zu schweigen von der anderen Kultur.
Da wird gern zurückgefragt: meinst Du Hochkultur, Opa?
Neinnein, ganz normale Kultur, mit Kunst und so... könnten Sie mir vielleicht diese indische Ansprache in Szenedeutsch übersetzen? Vielleicht könnten wir den Interessentenkreis verdoppeln...
"Hey, Ihr seid doch von der Hiphopkultur, immer total gut drauf, da müsst ihr doch auch Gandhi kennen, der war wirklich voll friedlich. Und Shubhidu singt das echt geil."
Ich weiß, das muss nicht sein. Die Sängerin Shubha Mudgal macht selbst die Ansage, und zwar in jenem Elfenbein-Englisch, das Indien auszeichnet.
9) "Indien leuchtet" Shubha Mudgal spricht / II ab 13:18 bis 14:05
I would like to conclude this part of the recital with a Bhajan , a devotional piece, which asks for peace and harmony, are used the verses of the great poet, mystic poet, Kabir from India, and I have chosen it specially for this evening because today is also the birth anniversary of Mahatma Gandhi, who preached peace and harmony for all, for the whole world. It's interesting, that so many hundred years after Kabir wrote these verses they still remained relevant.I have selected a verse called "...." etc.
.
Die Aufnahme stammt vom 2. Oktober aus der Kölner Philharmonie:
Indien leuchtet. Haben Sie die Worte gehört: "who preached peace and harmony for all, for the whole world", das heißt ausdrücklich: "für alle, für die ganze Welt", und nicht nur "für alle Elfenbeinturmbewohner"!
"Indien leuchtet": zu dieser Veranstaltung kamen rund 1000 Leute in die Kölner Philharmonie, das ist viel für diese Musik, wenn auch nicht gerade ein Fußballstadion voll, - es war ja auch kein Fussballspiel, und deshalb dürfte man nicht die Macht der Masse, sondern die Intensität des Zuhörens messen.
Die Kraft der Kultur! Es geht auch nicht um Einschaltquote, sondern um die Lebhaftigkeit, Leibhaftigkeit, um die Lebendigkeit der Wahrnehmung. Wissen Sie, wie der ideale Zuhörer diese Musik wahrnimmt?
So wie der Spieler des Streichinstrumentes Sarangi: er hängt an den Lippen der Sängerin und folgt ihren Melismen, und wenn sie schweigt, tönen sie auf seinem Instrument wie in unserem Innern weiter.
"Indien leuchtet", und so leuchtet auch diese Stimme: Shubha Mudgal.
10) "Indien leuchtet" Shubha Mudgal "Bhajan" ab 14:05 bis 21:49 (+ Beifall) 8'

Shubha Mudgal, Gesang, Murat Ali, Sarangi, und Aneesh Pradhan, Tabla.
Auch Sie gehören dazu, meine Damen und Herren an den Lautsprechern!
Nicht anders als das im Konzert anwesende Publikum, - bei uns spricht man normalerweise nicht darüber, obwohl z.B. kein Pianist wirklich sicher sein kann, ob er verstanden wird oder nicht. Es gibt nur Schweigen und mehr oder minder starken Beifall.
Der indische Musiker aber spürt viele kleine Signale der Kommunikation, er braucht sie, und er reagiert darauf.
11) Purbayan spricht zum Publikum CD IV ab 0:08 bis 0:42 (+ Beifall)
"It is a total honour and a privilege for us to perform here in this wonderful hall in front of all you wonderful people and what really fascinates me is the fact that - just like when we perform in India - you are appreciating every turn of the music, which proves that the world is really a small place now and it gives me a lot of pleasure to perform for all of you in fact it gives all of us a lot of pleasure to perform for all of you. "(Beifall)
12) Sitar-Musik beginnt CD IV ab 6:00 starten (bei 6:10 folgenden Text drüber)

Der Sitarvirtuose Purbayan Chatterjee sagte zum Publikum in der Kölner Philharmonie: was mich wirklich fasziniert ist die Tatsache zu spüren, dass Sie - genau wie wenn wir in Indien auftreten - dass Sie jede Wendung unserer Musik erfassen! Das beweist, die Welt ist wirklich ein kleiner Ort geworden und es macht uns unheimlich Spass, für Sie alle zu spielen.

(Musik hoch, beenden bei ca.14:25)


"Indien leuchtet", das Konzert fand am 2. Oktober in der Kölner Philharmonie statt und wurde 3 Stunden live in WDR 3 übertragen; daher soll dieser Ausschnitt genügen. Purbayan Chatterjee, Sitar; Kala Ramnath, Violine; Mohammad Akram Khan, Tabla.
Meine Damen und Herren, so schön das ist, - Indien ist nur ein Beispiel, Sie können auch iranische Musik nehmen, Usbekistan, Japan, Bali. Wir haben überall Gelegenheit, die Erfahrung zu machen, die der amerikanische Sprachwissenschaftler Terry Eagleton beschreibt:
Sprecher:
Zunächst ist Kultur immer die Idee vom Anderen. Der Begriff Kultur beginnt demnach erst dann an Bedeutung, wenn sie selbst fragwürdig wird. Erst wenn die Struktur traditioneller Rollen die Gesellschaft nicht mehr zusammenzuhalten vermag, "springt Kultur im Sinne einer Gemeinsamkeit der Sprache, des Erbes, des Bildungssystems, der Werte und dergleichen ein".
Die Verwendung des Begriffs Kultur zeugt somit von einem Problembewusstsein, aufgeworfen entweder durch den Blick auf eine exotisch anmutende fremde Welt oder durch direkte Konfrontation mit einer anderen Gesellschaft oder Gruppe.
Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die erste Hochphase des Begriffs in die Zeit der Aufklärung fällt.
(Nach Terry Eagleton: "Was ist Kultur?" München 2001 ISBN 3 406 48099 3)
13) Mozart Zauberflöte Harnoncourt CD I Tr. 17 "Marcia" 2:52

Die Schönheit dieser Musik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mozarts Zauberflöte durchaus kein Dokument des aufgeklärten Humanismus ist (obwohl Sarastro ausdrücklich "im Namen der Menschheit" spricht), sondern ein widersprüchliches und oft genug patriarchalisch auftrumpfendes Werk, das ohne die Musik keinen Bestand gehabt hätte.
Doch auch die großen Philosophen der Aufklärung sprachen ja durchaus nicht im Namen der Menschheit: den Schwarzafrikanern haben sie "die Bösartigkeit der menschlichen Natur und die Abwesenheit einer jeden Feinheit der Bildung bescheinigt". Selbst dem großen Immanuel Kant unterlaufen schlimme rassistische Vorurteile, die auf dem damals üblichen Mangel an völkerkundlicher Aufklärung beruhen, indem er den 'Negern' eine sklavische Anlage zuschreibt und meint, der Neger sei 'nämlich stark, fleischig, gelenk, aber [...] faul, weiblich und tändelnd." (zit. von Ram Adhar Mall: S. 81).

Entsprechend leicht ist es, den schwarzen Mann Monostatos samt Sklavenschar dem Zauber des Glockenspiels zu unterwerfen:
14) Mozart Zauberflöte Harnoncourt CD I Tr. 16 ab 15:28 bis 16:14

Nie haben sie so etwas gehört und gesehn, - ein bloßer Zauber, denn diese Oper ist ja voll von dem, was sie da grade hören und sehen, von schöner Musik, die sie aber naturgemäß nicht erkennen.
Was sie wollen, ist nur das E i n e. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis hat das neuerdings bestätigt.
(Monostatos:) (Alles wird so piano gesungen und gespielt, als wenn die Musik in weiter Entfernung wäre)
Frauenstimme:
Alles fühlt der Liebe Freuden, schnäbelt, tändelt, herzt und küsst -
und ich soll' die Liebe meiden, weil ein Schwarzer hässlich ist!
Ist mir denn kein Herz gegeben, bin ich nicht von Fleisch und Blut
Immer ohne Weibchen leben wäre wahrlich Höllenglut.
Drum so will ich, weil ich lebe, schnäbeln, küssen zärtlich sein!
Lieber guter Mond, vergebe, eine Weiße nahm mich ein!
Weiß ist schön - ich muss sie küssen,
Mond! verstecke dich dazu!
Sollt' es dich zu sehr verdrießen,
o so mach' die Augen zu.

In Wahrheit ist dies natürlich der Text des schwarzen Mannes, und es geht so schnell vorüber, - dass kaum Zeit ist, die Zeile "weil ein Schwarzer hässlich ist" wahrzunehmen; dabei sollte sie vielleicht sogar an das Mitgefühl des Publikums appellieren. Im übrigen steht in der Partitur: dies alles soll so piano gesungen und gespielt werden, "als wenn die Musik in weiter Entfernung wäre", - die weiße Pamina sitzt in der Nähe auf einer Bank und schläft. Vielleicht träumt sie? Und dieser schwarze Mann ist nur eine Projektion ihrer Phantasien?
15) Mozart Zauberflöte Harnoncourt CD II Tr. 6 Monostatos 1:14 mit dem in Tr. 7 folgenden Donnerschlag!

Sie hören WDR 3 Musikpassagen, heute mit Jan Reichow.
Von Kunst, Kultur und Werturteilen, - "Wo geht's denn zum nächsten Elfenbeinturm?"
Das Schwarzweiß-Spiel charakterisiert die ganze Welt der Zauberflöte, und es überrascht nicht, dass die Farben austauschbar scheinen, dass die Königin der Nacht am Anfang noch gut ist, Sarastro böse; und erst später, offenbar nach Beginn der Produktion des Werkes, schlägt alles um, - der gute Sarastro lebt in einem Palast gravitätischer Rituale, und wir erleben eine Singspielmärchenwelt mit wenigen Momenten wahrer Aufklärung. In Monostatos haben wir, meint Joachim Kaiser, "weder einen Buffoschreihals vor uns noch (...) einen schrecklich abgründigen Charakter, sondern eine menschenähnliche Figur dazwischen. Auch dieser Schwarze stellt eine Farbmischung dar."
(J.Kaiser: Who's who in Mozarts Meisteropern ISBN 3492039405 S. 187)
Es wäre aber völlig falsch, ausgerechnet an dieser Stelle die Keule zu erheben und den heutigen Kenntnisstand der Geschichte des Rassismus gegen Mozart und seinen Textbuchschreiber anzuwenden.
Man könnte Sarastros Palast durchaus als einen Elfenbeinturm im negativen Sinne betrachten. Neben einer gewissen Weisheit herrschen dort Selbstgerechtigkeit und Weltfremdheit.
Wir wissen inzwischen, dass unsere Schädel ebenso wie die der Schwarzen weniger aus Knochen als aus eben diesem Elfenbein gemacht sind, das durchaus nicht den berühmten Türmen vorbehalten ist, was nicht bedeutet, dass wir uns heute auf Anhieb besser verstehen.
Ich erinnere mich an die Musiker der ehemaligen Hofmusik aus Uganda, Leitung Evaristo Muyinda; sie gaben im Mai 1989 ein Konzert im Sendesaal der Deutschen Welle in Köln, der WDR beteiligte sich an dem Projekt mit einer Studioaufnahme am darauffolgenden Tage. Das Konzert erschien uns zweifelsfrei authentisch, aber doch in diffuser Weise verfehlt. Die Beschallung war weder zu laut noch zu leise, aber die Musik war nicht zu erkennen, - "tönend bewegte Formlosigkeit". Wir waren ratlos. Wozu dient ein solches Konzert, wenn es nicht zu "verstehen" ist?
Schließlich kamen wir zu der These:
Die eigentliche Musik existiert nur in den Köpfen der Musiker auf dem Podium; da gibt es gar nicht den Versuch, sie nach außen zu transportieren. Normalerweise sind ja alle innerhalb eines Kreises beteiligt, man projiziert nicht auf ein akustisches Ziel außerhalb, also nicht von der Bühne in Richtung Publikum. Ein Publikum, das obendrein in keiner Weise eingeweiht ist. Was gäbe es da schon zu verdeutlichen?
Wir versuchten bei der Studio-Aufnahme die Konsequenz zu ziehen: jedes Instrument, jeder Musiker, der in diesem Kreis mitwirkt, sollte in der Aufnahme wahrnehmbar sein, auch die weniger lautstarken sollten ihren Platz im Musik-Panorama haben. Zwischen Engalabi-Trommel und Endingidi-Fiedel wurde eine Plastik-Wand aufgestellt, sonst hätte die eine die andere ausgelöscht. Immer mehr Plastik-Wände wurden eingebaut, die Musiker konnten sich sehen und auch ausreichend hören, wir aber konnten sie aufnahmetechnisch voneinander trennen und gleichmäßig hörbar machen. Eine scheinbar völlig künstliche Situation, die jedoch für meine Begriffe ein perfektes Abbild dieser Musik ergab. Man kann eintauchen und mit dem Ohr umherwandern, immer gleich nah oder fern zum Zentrum.
Ich erinnere mich nicht, ob die Interpreten etwas dazu gesagt haben, sie waren nicht sonderlich an dem interessiert, was wir da in der Regie anstellten. Wahrscheinlich hätten sie diese Aufnahme gut gefunden, eine völlig andere aber genauso, - weil sie die Aufnahme in jedem Fall mit der Musik in ihrem Kopf kombiniert hätten.
16) Uganda Ensemble Evaristo Muyinda "Muwogola" (10:47)
(in die Musik sprechen:)
Hören Sie den Solosänger? Natürlich. Und neben ihm die Sängerinnen mit ihrem Händeklatschen; sie hören auch die 1-saitige Fiedel Endingidi ...., dann das Holm-Xylophon Amadinda....., auch die aus einem Rinderhorn hergestellte Quertrompete Eng'ombe...., und die beiden Kürbisrasseln Nsazi.... Schließlich die Klangfarben von vier verschiedenen Trommeln: die 3 verschiedenen Größen des Typs Embuutu , 2 davon werden mit den Händen, eine mit Stöcken geschlagen..., und dann noch die Engalabi-Trommel, eine Becher-Trommel mit hohem Fuß. Hören Sie das alles? Wird es Ihnen etwa langweilig, Ihre Ohren in diesem Gewölbe aus Klang hin- und herwandern zu lassen?
(Musik ca. 3' stehen lassen)

Für mich ist das ein gelungenes Beispiel der interkulturellen Verständigung, allerdings einseitig und - wenn Sie so wollen - über die Köpfe der Anderen, der Partner, hinweg. Auch nicht ungefährlich, weil sich das falsche Gefühl eines überlegenen Verständigungsmanagements einstellen kann. Trotzdem akzeptabel, weil endlich die Freude an dieser Musik nachvollziehbar wurde. Von V e r s t e h e n kann keine Rede sein, aber man hört, dass da etwas ist, das zu verstehen sich lohnt. Authentische Musik. Was weiterhin fehlt, ist der Kontext, der Hintergrund, was verbinden die Afrikaner mit dieser Musik, was assoziieren sie, welche Rolle spielt der Einzelne im Ganzen, wie sind die Rhythmen der 4 Trommeln ineinander verzahnt? Das wäre die Verständnisebene, die uns bei Beethoven oder im Indischen Konzert vertraut ist. Das eigentliche "Verstehen" aber läge also noch einige Schichten tiefer.
Sprecherin:
"Die Polyphonie der frühen europäischen Musik ist im Prinzip dasselbe wie die Polyrhythmik vieler afrikanischer Musik; in beiden Fällen kommt es bei der Wiedergabe darauf an, daß eine Anzahl von Menschen separate Parts innerhalb eines Rahmens von metrischer Einheit aufrechterhält; das Prinzip wird jedoch auf Melodien in der Polyphonie 'vertikal' angewendet und auf rhythmische Figuren in Polyrhythmik 'horizontal'.
(John Blacking 1969 S.53, Übers.: J.R.)
17) Dufay O gemma lux Tr. 4 Apostolo glorioso 2:57
18) Famoudou Konate Guinea Polyrhythmen Tr. 2 ca. 2:00

(unter folgenden Text bis Magnificat, Trommel-Puls führt zu "Omnes generationes")
Sprecher:
"...wenn Du ihn sähest, sag ich, wie er [...] nicht etwa nur eine Melodie singt [...] und seinen eigenen Part hält, sondern auf alle zugleich achtet und von 30 oder gar 40 Musizierenden diesen durch ein Kopfnicken, den nächsten durch Aufstampfen mit dem Fuß, den dritten mit drohendem Finger zu Rhythmus und Takt anhält, dem einen in hoher, dem anderen in tiefer, dem dritten in mittlerer Lage seinen Ton angibt; wie er sich ganz allein mitten im lautesten Spiel der Musiker, obwohl er selbst den schwierigsten Part hat, doch sofort merkt, wenn irgendetwas nicht stimmt; wie er alle zusammenhält und überall abhilft und wenn es irgendwo schwankt, die Sicherheit wiederherstellt; wie er den Takt in allen Gliedern fühlt, die Harmonien alle mit scharfem Ohre prüft, allein alle Stimmen mit der eigenen begrenzten Kehle hervorbringt. [...]"
(J.M.Gesner, 1738, Fußnote zu M.F.Quintilian 'De Institutione Oratoria', Orig. lateinisch, zit. nach Johann Sebastian Bach, 1975, S.72 f)

Ein Ohren- und Augenzeuge über Johann Sebastian Bach in polyrhythmischer Bewegung.
19) J.S.Bach Magnificat (John E. Gardiner) "Omnes generationes" 1:10

"Omnes generationes" aus Johann Sebastian Bachs "Magnificat". Das polyphone Werk vorhin stammte aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die Motette "Apostolo glorioso" von Guilleaume Dufay, das anschließende polyrythmische Stück kam aus Guinea, Famoudou Konaté spielte mit seinem Trommelensemble.
Woran liegt es, dass uns die folgenden Beispiele soviel leichter erfassbar scheinen, als manche polyphonen oder polyrhythmischen Werke? Es ist wahrscheinlich die Möglichkeit, unsere Wahrnehmung auf einen Aspekt oder höchstens zwei zu beschränken und damit bereits zufriedengestellt zu sein.
Das erste kanalisiert eine enorme rhythmische Energie, ohne sie aufzuspalten, dazu eine einfache Melodie mit scheinbar verderbter Intonation, die wir als "dirty", als Reiz also, genießen können. Das nächste bietet eine vertraute Harmonik, die aber durch Borduntöne "stillgelegt", gewissermaßen gefesselt ist, aufgeheizt durch schrankenlos sentimentales Instrumentalspiel (böse Zungen könnten - wie bei Brahms - von "Melancholie des Unvermögens" sprechen). Und als weiteres Beispiel folgt dann ein rhythmischer Wort-Zauber, der uns vielleicht besonders fasziniert, weil wir uns nach einfachen Riten sehnen, aber nur Pop und Rap bekommen. Und dann...- na, Sie werden sehen.

20) Iraq: Farida Tr. 1 "Maqam Saba" Anfang bis 1:55 (kein Gesang)
21) Armenien: Douduk "Horovel" Tr. 6 Anfang bis 1:47
22) Süd-Äthiopien: "Nyobole" Tr. 14 ab 17:46 (bzw.später) bis 20:56
23) György Kurtág: "Stele" ab 11:28 bis 12:58 (Ende)

Was haben Sie gehört? Ein Ensemble der Sängerin Farida aus dem Iraq, das Douduk-Ensemble Armen Grigoryan aus Armenien und die Männer der Hamar in Süd-Äthiopien.
Und ganz zum Schluss? Den letzten Satz der Komposition "Stele" von György Kurtág.
Trauermusik. Sie wird so beschrieben: "Die stetige Wiederholung desselben Klangs zeitigt eine magische Wirkung. Sie leugnet das Entwicklungs- und Veränderungspotential der Zeit und hebt diese auf in einem ästhetischen Erfahrungsraum." (Hermann Danuser)
Man könnte zu der Theorie kommen, dass es Universalien gibt, die alle Menschen verbindet, - letztlich funktioniert das aber nur in einer solchen Zitat-Manipulation.
Im irakischen Stück haben wir vor dem Einsatz der Sängerin ausgeblendet, denn die Toleranz gegenüber der fremden Stimme ist weit geringer als gegenüber virtuosen Rhythmen, zumal wenn sie leicht fasslich sind. Aber die Aufnahme dauert in Wahrheit 12 Minuten, die CD 65 Minuten!!
Kein Wunder, dass die Multi-Kulti-Musik sich auf Zitate beschränkt, oft collagenartig aus verschiedenen Kulturen zusammengemixt, und zwar fast ausschließlich über Rhythmen, die dem gegenwärtigen westlichen Mode-Standard entsprechen.
In unserer Beispielfolge fehlte also der Kontext, und es gibt nichts Wichtigeres als den Kontext i n n e r h a l b des Werkes, ebenso wie den des Werkes innerhalb seiner Lebenswelt oder innerhalb eines ganzen Netzes von Gedanken und Theorien.
Theorien?
Soso, - das führt uns ja wohl aus blühenden musikalischen Gärten schnurstracks hinein in den Elfenbeinturm, ist das denn nicht eine Schande!?

(Frauenstimme:)
Irrtum! Die blühenden Gärten der Musik sind nicht weniger Kunst als der künstlichste Elfenbeinturm. Der französische Kritiker Sainte-Beuve gebrauchte diesen Begriff erstmalig 1835, und zwar positiv bezogen auf den Kollegen Alfred de Vigny. Die Jungfrau Maria wird in der lauretanischen Litanei als "turris eburnea" - also als "Elfenbeinturm" - angerufen, und auch die poetische Wirkung im Hohenlied Salomos macht uns keine Schande:
(Männerstimme:)
"Wie schön ist dein Gang in den Schuhen, du Fürstentochter!
Deine Lenden stehen gleich aneinander wie zwei Spangen, die des Meisters Hand gemacht hat.
Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt.
Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Rosen.
Deine zwei Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge .
Dein Hals ist wie ein elfenbeinerner Turm."
(Altes Testament: Das Hohelied Salomos Kap.7)
24) Claude Debussy: Syrinx / tacet Tr. 15 (unter Text) 2:30

Claude Debussys berühmtes Flötensolo, gespielt von Inge Kocher.
Es ist ein Unterschied, ob ein Stück Improvisation heißt oder Arabeske oder - wie dieses - "Syrinx". Nach der Nymphe, die auf der Flucht vor Pan in ein Röhricht verwandelt wurde, aus dem sich der trauernde Pan eine Flöte schnitzte.
Selbst wenn ein Künstler erklärt, dass sein Werk nichts bedeute, sondern nur sei, ich zitiere den Philosophen Arthur C. Danto, so "behauptet er damit zwar dessen Identität mit dem materiellen Gegenstand, gibt aber gerade dadurch seinem Werk eine künstlerische Aussage, die es bereits über die bloße Gegenständlichkeit hinaushebt. (...) Kunst ist eine Sache, deren Existenz von Theorien abhängig ist." So dezidiert sagt es Danto, der sich auf bildende Kunst bezieht, aber seine Ästhetik ist leicht auf Musik übertragbar.
(nach Michael Hauskeller: Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto / München 1998 /6. 2002 / ISBN 3 406 45999 4 / S.102)
Sprecher:
"Für die Einschätzung eines Werkes ist es von entscheidender Bedeutung, wann und wo es entstanden sei, in welcher Situation, unter welchen historischen Umständen. Wäre Rembrandts Nachtwache nicht 1642, sondern 1934 gemalt worden, müsste sie auf andere Weise interpretiert werden und wäre infolgedessen auch ein ganz anderes Werk. Ein Gemälde von 1934 kann einfach nicht über das gleiche sein wie eines von 1642, egal wie es aussieht. Ebenso macht es einen Unterschied, ob eine blau bemalte Krawatte von Picasso oder einem Kind stammt, weil Picassos Arbeit im Wissen um die bisherige Entwicklung der Kunst entstanden wäre, die des Kindes hingegen nicht." (Hauskeller a.a.O. S. 103)
(Musik endet)
25) Musik Debussy "Syrinx" wie 24) noch einmal, ohne Text

In der sogenannten Weltmusik ist es nicht immer einfach, die Theorie eines künstlerischen Produktes zu erschließen: Sehe ich auf dem Cover der CD eine meditierende Asiatin mit halbentblößtem Oberkörper, lese ich den Titel "naked spirit" und höre ich
d i e s e n Klang, "featuring Djivan Gasparyan", das ist der Star der armenischen Klage-Oboe Duduk, - wie gesagt: mit d i e s e m Waberklang ist dann die Theorie schnell fertig: So klingt es nie und nimmer im Elfenbeinturm einer ernstzunehmenden Theorie!
26) Sainkho "naked spirit" Tr. 1 ab 1:50 hoch bis max. 3:15

Meine Damen und Herren, immer häufiger erlebt man heute, dass die anderen Kulturen als Werbeträger ihrer selbst auftreten. Da sollte man sich die folgenden Sätze zu Herzen nehmen, die der Ethnologe Martin Fuchs in etwas anderem Zusammenhang gesagt hat.
(Martin Fuchs. Universalität der Kultur. Reflexion, Interaktion und das Identitätsdenken - eine ethnologische Perspektive / in: Ethno-Zentrismus / Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs / Herausgegeben von Manfred Brocker und Heino Heinrich Nau / Darmstadt 1997).

"Wir begegnen nicht Kulturen, sondern Menschen, die Positionen oder Stellungnahmen vertreten. Wir reden über jemanden, der selbst über sich und Andere reden und Welt 'entwerfen' kann." (S. 147)
"Ihre Aussagen sind nicht Aussagen der betreffenden Kultur, sondern Ausdruck der Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer (kulturellen) Wirklichkeit." (S.146)

Dies bewahrt uns vor dem Schrecken, der einen Rezensenten der Süddeutschen Zeitung seit der Lektüre eines Buches mit dem Titel "The Culture Cult" erfasst, sooft er Sätze hört, die mit den Worten beginnen "in unserer Kultur".
(Thomas Steinfeld in SZ 23.08.02 über: The Culture Cult: Designer Tribalism & Other Essays by Roger Sandall ISBN 0-8133-3863)

Ich möchte mit einer Aufnahme enden, die nicht einmal technisch ganz perfekt ist und doch so unglaublich ausdrucksstark.
Man soll sie im Elfenbeinturm aufbewahren für alle Zeit und nur über WDR 3 nach außen senden. Und wenn da draußen mal wieder untersucht wird, ob alle richtig aufgestellt sind, genießen wir die psychischen Synergieeffekte dieser traurigen Musik.
Das waren die heutigen Musikpassagen, es ging um Kunst, Kultur und Werturteile.
Es sprachen: Ilona Polaschek und Rainer Hagedorn.
Ich nenne Ihnen gern die Bücher, die ich zitiert habe oder noch hätte zitieren müssen. Eine genaue Musikliste wird gerade von unserem Produktionsassistenten Carsten Krey erstellt, für sorgfältige Technik danke ich Alexander Hardt. Für Fragen, Hinweise, Lob und Tadel ist unser kostenpflichtiges, aber immer freundliches Hörertelefon offen, am Mikrofon verabschiedet sich J.R., - und zwar mit diesem Lied, das zweifellos für diesen schönen Nachmittag zu traurig ist, aber das Geheimnis der katalanischen Sängerin Mayte Martin liegt darin, dass wir trotzdem am Ende auf jeden Fall wunschlos glücklich sind.
27) Mayte Martín: "Vidalitá" aus CD Querencia Tr. 2 5:07

Literatur

  • Terry Eagleton: Was ist Kultur? Eine Einführung
    München 2001 ISBN 3 406 48099 3
  • Michael Hauskeller: Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto
    München 1998 /6. 2002 / ISBN 3 406 45999 4

  • Manfred Brocker und Heino Heinrich Nau (Herausgeber): Ethno-Zentrismus / Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs
    Darmstadt 1997



© Dr. Jan Reichow 2009Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < fürs Radio <
Musikpassagen: Elfenbeinturm