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Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Musikpassagen 16.März 2006 - Kulturgüter, Pop und Cultural Turns

16. März 2006 WDR 3 Musikpassagen
mit Jan Reichow
Kulturgüter, Pop und "Cultural Turns"
Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Roxy Music, Ladysmith Black Mambazo, Hossein Alizadeh und Vilayat Khan

Am Mikrofon begrüßt Sie J.R.; meine Damen und Herren, was kann man sagen, wenn uns jemand etwas von "Kulturgütern" erzählt, die unbedingt geschützt werden müssen?
Man könnte fragen: Meinen Sie die unserer Leitkultur oder die aller von uns geleiteten Kulturen?
Vielleicht zweifelt ja jemand, ob die überhaupt irgendwelche Kulturgüter mitbringen.
Die wollen hier doch nur Geld verdienen.
Unser Geld.

Aber angenommen, wir bekämen nun durch eine glückliche Fügung in Bahrein oder in Teheran einen Job, der uns für 10 Jahre ein Monatsgehalt von 10.000.- EUR garantierte? Wer würde da zögern?! Für so ein Geld kann man dann auch dreimal pro Jahr in Deutschland Urlaub machen und Leitkultur auftanken.
Aber nun wirklich - gesetzt den Fall! Was würden Sie denn an Kulturgütern in das fremde Land mitnehmen, was würden Sie dort unentbehrlich finden?
"Die kleine Nachtmusik"? "Werthers Leiden"? Einen Dürer-Bildband?
Ich glaube, ich könnte jede Menge Kulturgüter aufzählen, und Sie würden permanent den Kopf schütteln.

Ich übrigens auch. Ganz schnell sind wir in einer Diskussion, was denn eigentlich unsere Kultur ausmacht. Unsere Lebensweise? Unsere Art zu frühstücken?
Oder gilt nur die aktive Teilnahme an der sogenannten Hochkultur?
Wer nimmt denn aktiv teil?
Vielleicht genügt vielen schon das Bewusstsein, dass sie vorhanden ist; ein Umfrageergebnis besagt, dass sich z.B. ein Großteil der Menschen zwischen 20 und 40, die nie in ein Sinfoniekonzert gehen würden, doch eindeutig zum Fortbestand dieser Einrichtung bekennen. D.h. sie wissen, dass da etwas Wichtiges läuft, haben aber im Ernstfall für sich selbst immer eine Ausrede; ich vermute mal, mit gutem Grund: sie fürchten, dass ein solches Konzert an Ihnen vorbeiläuft, auch wenn sie hingehen.

Unsere Kultur besteht aber zweifellos auch aus dem, was wir nicht verwenden, von dem wir aber wissen, dass es existiert.
Und wenn das stimmt, können wir uns auch die Überzeugung leisten, dass die folgende Musik unabdingbar ... zu unserer Kultur ... gehört.

(Hossein Alizadeh beginnt)
Es ist doch ganz genau unsere vertraute Art, einem attraktiven Gedanken nachzuhängen, ihn zu umkreisen, von allen Seiten zu betrachten, verwandte Gedanken einzubeziehen und schließlich in ein Gleichgewicht mit unseren anderen Vorstellungen zu bringen; in der Musik würde an dieser Stelle vielleicht ein geordneter Rhythmus helfend einspringen. Vielleicht ist das auch hier so...

1) Hossein Alizadeh The Art of Improvisation 6:00
Improvisation in the Mode Râstpanjgah / Darâmad, Parvâneh, Nagmeh
Hossein Alizadeh, Tar; Madjid Khaladj, Tombak
Haus der Kulturen der Welt Berlin / WERGO 1998 Mainz / SM 1530-2 / 281530-2
LC 6356

Sehen Sie: es tut Ihnen schon leid, dass die schöne Musik verschwindet...
Wenn das so ist, könnte es sein, dass Sie die Schlüsselworte wirklich umgesetzt haben. Ihnen wurde keine große Kunst angekündigt, sondern gewissermaßen Ihre eigenen Gedankengänge, - eine Identifikation wurde Ihnen angeboten. Das ist kein falscher Trick, genau darum geht es nämlich: die Musik in uns selbst nachzubilden, sie neu entstehen zu lassen. Sie entsteht ja wirklich in unserer Anwesenheit, in jedem von uns!
Das ist kein Überfall wie bei Beethoven, der uns als chaotische Masse Mensch anspricht, die aus dem Ruder läuft, mit der Stimme von 12 Celli beschwört er uns, alles in Erinnerung rufend, was wir- mit ihm! dank ihm! - erlebt haben:

2) Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 9 Einleitung letzter Satz:
Rekapitulation der vorhergehenden Sätze 2:48
Chamber Orchestra of Europe, Leitung: Nikolaus Harnoncourt
Teldec 2292-46452-2
LC 3706

Er ruft alles in Erinnerung, was er bisher für uns aufgebaut hat, eine Welt, sei sie wie sie will, sie hat eine humanistische Bestimmung: gleich wird sich diese Vision ausbreiten und nicht nur uns, sondern potentiell die ganze Menschheit mit Begeisterung erfüllen: eine Welt der Freude und des Friedens. Was für eine Begeisterung!
Da kann der Iraner Hossein Alizadeh mit der eher privaten Stimme seiner Langhalslaute nicht dagegenhalten, nicht wahr?
Aber bedenken wir auch: Beethoven musste um 1820 die Freude bereits etwas forcieren. Er konnte doch die napoleonischen Kriege nicht vergessen haben und diesen merkwürdigen Wiener Kongress, der alles zudeckte.
Ist seine Neunte, deren Melodie der Freude bekanntlich Europahymne geworden ist, heute noch die große Botschaft, als die sie gemeint war?
Beethoven bedeutet einen einzigartigen Wendepunkt in der Musikgeschichte, begründet letztlich durch den Impetus der Aufklärung und der Französischen Revolution, Umwälzungen geistiger und politischer Art, die uns mehr als 2 Jahrhunderte später immer noch bewegen, obwohl es danach noch ganz andere Wendepunkte gegeben hat, die die ersten - mit ihrer unerschütterlichen humanistischen Hoffnung - zutiefst in Frage gestellt haben.
Wir sind bescheidener geworden; im Zeitalter der Globalisierung sehen wir uns weniger denn je als kompakt ansprechbare "Menschheit", wir sind vielleicht sogar empfindlich geworden für die zarten Stimmen des Anderen, die nicht vom "clash of civilizations" sprechen; eine Musik, die gerade nicht konfliktuös ist, - womit nichts gegen Beethovens Konfliktfreudigkeit gesagt sein soll, aber hier befinden wir uns in einem orientalischen Garten, der die Konfusion der Welt nicht eindringen lässt, stattdessen eigene energiespendende Zentren schafft. Hossein Alizadeh, Tar-Laute, und Madjid Khaladj, Tombak-Trommel.

3) The Art of ImprovisationTr. 7 (Ausschnitt) 4:00
Improvisation in the Mode Râstpanjgah / Zarbi-é eraq, neyshâburak
Hossein Alizadeh, Tar; Madjid Khaladj, Tombak
Haus der Kulturen der Welt Berlin / WERGO 1998 Mainz / SM 1530-2 / 281530-2
LC 6356

Hossein Alizadeh, Tar, und Madjid Khaladj, Tombak.
Iranische Kunstmusik, eine Musik, die nur auf Melodie und Rhythmus gestellt ist, - also keiner Harmonien bedarf, d.h. durch Hinzufügung von Akkorden oder weiteren Stimmen nicht verschönert, sondern allenfalls verunklart würde.

Modale Musik, d.h. die Melodien sind nicht nach Dur oder Moll definierbar, sondern nach verschiedenen Skalen, die zugleich melodische Charaktere darstellen, einige sind mit arabischen verwandt, nach ihnen benannt, werden aber ganz anders, nämlich - iranisch entwickelt. Hossein Alizadeh ist ein großer Meister dieser modalen Improvisation und Komposition. Der von ihm hier gewählte Modus heißt Rastpanjgah; wir werden die weitere Entwicklung verfolgen.

Aber ein Thema werden wir ganz außer acht lassen, obwohl es manch einem vielleicht als erstes in den Sinn kommt, - den Iran ganz allgemein, als gesellschaftliches, religiöses oder politisches Gebilde. Denn selbst wenn wir hier "Das Musikalische Opfer" von Johann Sebastian Bach spielen würden, gäbe es nichts Interessanteres als die Musik, und niemand würde in diesem Zusammenhang über die Politik Friedrichs des Großen reden wollen, wobei ich nicht angedeutet haben will, dass Präsident Ahmadinedschab auch ein Großer sei. Das Gegenteil ist der Fall.

Meine Formel lautet: Politik kann zwar gefährlicher sein als Kunst, aber Kunst ist wichtiger. Man sieht das z.B. daran, dass der Name Friedrichs des Großen nicht einmal in Österreich einen aufregenden Klang behalten hat, während Bachs Musik für zahllose Menschen zur unentbehrlichen Kraftquelle geworden ist.
Und wir wissen, dass es für den Weltbürger von heute bei guter Kunst keinen Unterschied macht, ob sie nun aus Leipzig, Budapest oder Teheran kommt. Die wichtigsten Exempel und das Sensorium, sie wahrzunehmen, stehen jedem von uns zur Verfügung. Und es gibt sogar Leute, die meinen, dass es nach dem "cultural turn", der Kultur-Wende, von der wir noch sprechen wollen, sogar eine Verpflichtung sei, davon Gebrauch zu machen. Im Jahre 2006 liegt der Iran dank der Medien nicht weiter entfernt als Ungarn im Jahre 1824.

4) Franz Schubert: Divertissement à l'hongroise g-moll, D 818
3. Satz Allegretto Anfang bis 2:33
Yaara Tal & Andreas Groethuysen, Piano
Sony Classical S2K 58 955
LC 6868

Wahrscheinlich kommt es aus dem Tanz, dieses über einen gleichmäßigen Grund dahingleitende Melodienspiel; ein kluger Musikwissenschaftler hat dafür das Wort "Flußbett" geprägt und es ist gar nicht so abwegig, an die iranische Tombak-Trommel zu denken, die wir vorhin als Untergrund gehört haben.
Man erzählt: Franz Schubert kam von einem Spaziergang zurück, als er in der Küche des Grafen Esterházy eine ungarische Magd diese Melodie oder jedenfalls eine irgendwie ähnliche singen hörte; er lauschte mit Wohlgefallen und summte sie lange Zeit vor sich hin. Es ist fraglich, an welcher Stelle sie in dieses große Werk, genannt "Divertissement à l'hongroise", eingegangen ist, aber die dunkle Idee des Ungarischen hatte für Schubert ja überhaupt eine geheimnisvolle Anziehungskraft, und diese östliche Tönung muss gar keinen konkreten Anhaltspunkt haben; es könnte ewig so weiterfließen.
Wirklich ewig? Die Anfangsidee kehrt wieder, auch ganz am Schluss noch einmal, aber dadurch wird es kein gebautes Stück, keine Architektur, es ist ein "Divertissement", aber wir werden das Gefühl nicht los, dass dieser leichte Gang durch ferne Tonarten und Stimmungen nur von einer gespielten Sorglosigkeit erfüllt ist. Divertissement als Tarnung. Es ist eine Erinnerung, deren dunkler Hintergrund durch die "ungarische Idee" bestimmt ist und am Ende mit ihr von der Bildfläche verschwindet, so unprätentiös, dass man nicht weiß, ob man traurig oder heiter zurückbleibt.

5) Franz Schubert: Divertissement à l'hongroise g-moll, D 818
3. Satz Allegretto Forts. ab 2:33 bis 15:26= 12:53
Yaara Tal & Andreas Groethuysen, Piano
Sony Classical S2K 58 955
LC 6868

Yaara Tal und Andreas Grothuysen spielten den letzten Satz des Divertissements à l'hongroise g-moll von Franz Schubert. Ich hatte dieses wiederkehrende ungarische Thema mit dem Begriff "Flußbett" in Zusammenhang gebracht, den Peter Gülke für manche Rhythmusfelder bei Schubert geprägt hat.
Im Fall des Divertissements denkt man ja eher an die damals üblich Tanzmusik, zuweilen eben mit ungarischem Einschlag, und dann trifft man unverhofft auf die Schubertschen Fernwirkungen, wie aus dunkler Erinnerung auftauchend und vorüberziehend, - ungeachtet des Tempos - eher den Wolken gleich als tanzenden Paaren.
Aber ganz eigenartig wirkt das Schubertsche Flußbett erst, wenn es in anspruchsvoll gebauter, "großer" Musik, wie in einem Sonaten- oder Sinfoniesatz, auftaucht und gar nicht Tanz sein will, sondern einfach eine Fläche aus Gleichmaß. Das ist bei Schubert gar nicht so selten: es sind selbstvergessene Augenblicke, in denen weder gesungen noch gearbeitet wird, die Zeit steht still, inmitten quirligen Daseins, vielmehr: die Ansprüche an das Leben werden in den Wartestand versetzt- Wir befinden uns mitten im ersten Satz des "Forellenquintetts", Sie hören zunächst den Abschluss des vorangehenden Formteils, dann das "Flußbett" zu Beginn der Durchführung.

5) Franz Schubert: Quintett A-dur "Forellenquintett"
Tr.1 ab 8:14 bis 9:41 (Ausschnitt) 1:27
Elisabeth Leonskaja, Mitglieder des Alban Berg Quartetts + Georg Hörtnagel
EMI CDC 7 47448 2
LC 0542

Sehen Sie? Da geht es zurück in die musikalische Realität. Meine Damen und Herren, es ist schwer zu fassen, - in Schuberts Musik zu schwelgen ist allzu naheliegend, er hat es aber verdient, in jedem Punkt ernstgenommen zu werden, und gerade diese "Flußbetten", die es bei Beethoven ja noch nicht gibt, haben in seinen Werken eine ganz eigentümliche Funktion.
Zwei seiner größten Werke sind im nächsten WDR Sinfoniekonzert zu hören, zugleich zwei der Größten Werke des 19. Jahrhunderts, wenn nicht der abendländischen Musikgeschichte: das Streichquintett C-dur (mit Pinchas Zukerman und Solisten des Orchesters) und die große C-dur-Sinfonie unter der Leitung von Pinchas Zukerman. Kölner Philharmonie, 24. und 25. März.

(Näheres siehe unten!)
Es lohnt sich, einen dieser Abende zur großen Aufgabe des Hörens zu machen. Ich will mein Scherflein dazu beitragen und jeweils um 19 Uhr eine Einführung machen, die ein paar Themen und Vorgänge durchsichtig werden lässt. Das hoffe ich jedenfalls. Es geht darum, einen musikalischen Wachzustand zu erreichen, der merkwürdigerweise bei unseren bekanntesten und beliebtesten Meisterwerken sofort wenn sie anheben, abgeschaltet wird. Man erkennt alles wieder, alles, eins nach dem anderen, man schwelgt, - vielleicht -, man beurteilt die Interpretation, aber nichts geht einen mehr wirklich an.

Deshalb habe ich auch keine Skrupel, solche Einzelteile herauszunehmen und unter Beobachtung zu stellen. "Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht: Du musst dein Leben ändern!"
Nein, soweit würde ich niemals gehen, das ist Rilke, ich beschränke mich darauf zu sagen, also zu mir zu sagen: "Du musst dein Hören ändern!" - Verbessern nämlich, genauer auf die spezifische Musik einstellen. Ohne zu vergessen, dass die Menschen auch damals nicht mehr aus einem Guß waren, nicht einmal die Genies, die sogar am allerwenigsten. Wie Heinrich Heine später formulierte: "Teurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so klage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwei gerissen ist." (Arnfried Edler, Schumann S. 72)
Ein Wissenschaftler (Edler a.a.O. S. 102) hat es so zusammengefasst:
"Zum ersten Mal bemerkten breite Gesellschaftsschichten die Machtlosigkeit des menschlichen Individuums gegenüber der als Fortschritt etikettierten Eigendynamik eines immer riesiger und unüberschaubarer werdenden ökonomisch-technologischen Apparates, hinter dessen Belangen alle übrigen Lebensansprüche und Bedürfnisse zurückzustehen hatten."
"Der große Riss des Jahrhunderts" wurde damals (Griepenkerl 1838 Edler a.a.O. S. 110) auch sehr deutlich in Beethovens Neunter wahrgenommen, genau an der Stelle, die ich vorhin vorgeführt habe, "O Freunde, nicht diese Töne!" heißt es danach, wenn der utopische Entwurf einer versöhnten Menschheit folgen soll. Vielleicht sind auch die allzu perfekten Meisterwerke schon solche Utopien.
So perfekt, dass wir heute kaum noch aufhorchen.

6) Wolfgang Amadeus Mozart: Serenade Nr. 13 KV 525 G-dur Eine kleine Nachtmusik
Tr. 1 5:50
1. Satz Allegro
Collegium Aureum, Konzertmeister Franzjosef Maier
HIFI VISION 1987 (Klassik-CD 3) 60.102
LC 3706

(nach 1:40 Text drüber:)

"War die kleine Nachtmusik schon immer so berühmt?" fragte Anfang dieses Mozart-Jahres die Wochenzeitung DIE ZEIT, und fragte auch:

"Schadet es der Musik, wenn sie so oft gespielt wird wie die Kleine Nachtmusik?"
Die Antwort des Musikwissenschaftlers Ulrich Konrad auf diese zweite Frage lautete:
" Die medial hergestellte Unentrinnbarkeit erzeugt Gleichgültigkeit. Diese Musik perlt an uns ab. Wir sind nicht mehr in der Lage, sie wirklich zu hören. (...) Für das spezifische Gewürz dieser Musik - das nicht sehr scharf ist - sind unsere Trommelfelle nicht mehr bereit. Es fehlt auch an Vertrautheit mit den Regeln, nach denen Mozart spielt. Das Gegenstück zur Nachtmusik ist ja der Musikalische Spaß, in dem Mozart gegen alle Gesetze verstößt und der Kenner dauernd das Lachen unterdrücken muss. Fatal ist aber, dass der Spaß in den Ohren vieler heute ganz normal, ganz richtig klingt, weil sie die Feinheiten nicht verstehen. Ich habe das sogar bei angehenden Musikern erlebt. Andersherum hat das betont Richtige in der Nachtmusik einen intellektuellen Anspruch, der kaum noch wahrgenommen wird. Mozart sagte selbst: 'Ich liebe Zuhörer, die mitdenken.' Wenn Intelligenz klingen könnte, dann so wie in der Kleinen Nachtmusik. "
Soweit Ulrich Konrad. Da stehen wir also und sind fatalerweise unserer Intelligenz überlassen. Wenn wir ganz schlau sind, sagen wir, man müsste es mal in einem deutlich schnelleren Tempo versuchen. Und überhaupt. Sollen wir nicht lieber ein Klavierkonzert hören?

Ja, aber warum wurde sie nun so berühmt, die Kleine Nachtmusik ?
Antwort:
"Richtig populär wurde sie [... erst] durch einen Spielfilm, eine deutsche Produktion von 1939 mit dem Titel: Eine kleine Nachtmusik"
Ein Mozart-Spielfilm - 1939, Mozart mit Frau auf der Reise nach Prag. Und zwischendurch eine Liebesnacht mit der Komtess Eugenie, ein Seitensprung zweifellos, aber o.k., dem jungen Meister fällt dabei das Ende des Don Giovanni ein. Wahrscheinlich das frohe Finale, nachdem der Held zur Hölle gefahren ist.
Und schon ist die Welt in Ordnung, die deutsche, auf dem Weg zur Hölle, im Jahre 1939....

(Musik hoch bis Ende)

Das Collegium Aureum unter der Leitung des Konzertmeisters Franzjosef Maier. Was sagt man heute einem Schüler - oder überhaupt einem jungen Menschen -, der Mozarts "Kleine Nachtmusik" beiseiteschiebt mit den Worten: Ich weiß wirklich nicht, was Ihr daran findet; für mich ist das eine Anhäufung von Allgemeinplätzen, und die Tatsache, dass Ihr das seit Eurer Schulzeit mitpfeifen könnt, besagt eigentlich das gleiche.
Was sagt man dann? Spricht man dann über das Verhältnis zwischen Konvention und Originalität, über Proportionen und Balance?
Bloß nicht.

Man empfiehlt einfach ein anderes Stück oder einen anderen Komponisten. Es wäre ganz falsch zu denken: Mozart ist was für junge Leute, er war selber jung, und ist ja sogar noch jung gestorben! Mozart, der Pop-Künstler? Quatsch! Tatsache ist: Man muss sehr viel von Mozart kennen, um überhaupt unterscheidungsfähig zu sein. Und wenn man nichts kennt, sollte man - um Gottes willen - nicht mit der Kleinen Nachtmusik beginnen. Legen Sie sie doch vorläufig ganz cool zu den "Kulturgütern".

Der Pianist Maurizio Pollini, der Mozart natürlich gut kennt, aber kaum öffentlich gespielt hat, sagte:
"Ich glaube, man kommt ihm mit zunehmendem Alter näher."
Und am Ende des Interviews meinte er, es gebe Wichtigeres als Fragen der aktuellen Mozart-Interpretation.

" Zum Beispiel, dass das Publikum endlich einen stärkeren Zugang zu Musik unserer Zeit findet. Es ist doch absurd - so großartig die Komponisten der Vergangenheit auch gewesen sein mögen -, dass wir heutzutage immer noch so wenig Musik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen, ganz zu schweigen von der Musik des 21. Jahrhunderts. "
Soweit Maurizio Pollini.
Was würde er sagen, wenn wir heftig zustimmen und ihm eine weitere Kostprobe guter Musik aus dem Jahre 1996 vorspielen?

7) Iran: The Art of Improvisation Tr. 12 - 14 ca. 5:20
Improvisation in the Mode Râstpanjgah / Odj, abou-atâ, Tchâharmezrâb, Forud
Hossein Alizadeh, Tar; Madjid Khaladj, Tombak
Haus der Kulturen der Welt Berlin / WERGO 1998 Mainz / SM 1530-2 / 281530-2
LC 6356

Noch sind alle Fragen offen in dieser Musik...
Ein weiterer Blick also in die Bilderwelt des iranischen Dastgah Rastpanjgah, es spielten: Hossein Alizadeh und Madjid Khaladj.

Meine Damen und Herren, es gehört zu den wichtigsten Wendepunkten des neueren Musikverständnisses, dass die anderen Kulturen nicht mehr außer Betracht bleiben. Die offizielle Musikwissenschaft hat lange gebraucht, um den "cultural turn"- eine epochale kulturelle Wendung - wahrzunehmen; der Begriff "New Musicology" bezieht sich auf diese neue Perspektive. Ich verwende die englischen Begriffe, weil die amerikanische Wissenschaft diesen Punkt nun einmal ins Bewusstsein gehoben und konsequent berücksichtigt hat. Es hat viele "turns" gegeben, - mit dem "linguistic turn" hatte es in der Philosophie begonnen, es gab auch einen "pictorial turn" - also auf bildende Kunst bezogen - und eben den "cultural turn", der von der Ethnologie ausging. Aber benannt und als Umbruchereignis bekannt wurde all dies erst im nachhinein, nämlich Mitte der sechziger Jahre durch den amerikanischen Philosophen Richard Rorty.

Man erinnert sich unwillkürlich an den von Heinrich Heine konstatierten Riss, der durch die Welt geht. Aber der entscheidende Punkt beim "linguistic turn" war der, dass man "die Sprachlichkeit des Weltverhältnisses in den Mittelpunkt" stellte (Konersmann S. 68). Wir erschließen die Welt ausschließlich über die Sprache, und alle unsere kulturellen Bezüge zur Welt laufen über die Sprache, Sprache im weitesten Sinne, auch die symbolischen Formen gehören zu diesem sprachbedingten Weltverhältnis, obwohl sie - wie wir aus der Musik wissen - durchaus auf verbale Sprache verzichten können.

Wenn ich das so zusammenfasse, klingt es nach einem rein theoretischen Wendepunkt, tatsächlich steht aber dahinter die Erfahrung realer Katastrophen, die das ganze Gebäude des bisherigen Kulturbewusstseins zusammenstürzen ließen: die Katastrophe des Ersten Weltkrieges.
Der französische Schriftsteller Paul Valéry hat 1918 diese Erfahrung erschüttert zum Ausdruck gebracht:
"Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, daß wir sterblich sind. Wir hatten gehört von ganzen Welten, die verschwunden sind, von Reichen, plötzlich vom Abgrund verschlungen mit all ihren Menschen und all ihren Werkzeugen; hinabgesunken bis auf den unerforschbaren Grund der Jahrhunderte, samt ihren Göttern und Gesetzen... "
usw., schließlich der folgende Satz:
" Und wir sehen jetzt, daß der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle. Wir fühlen, daß eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben. Die Umstände, welche die Werke von Keats und Baudelaire vernichten könnten, gleich denen Menanders, sind nicht mehr ganz unfaßbar: sie sind Tagesgespräch. "
Die Einsicht griff um sich, dass hier keine zufällige äußere Katastrophe stattfand und stattgefunden hatte, sondern dass die vernichtenden Kräfte genau aus den Strukturen kamen, die das kulturelle Selbst- und Weltbild des Westens positiv, fortschrittsgläubig und im Prinzip human geprägt hatten. All dies brach zusammen, und die nachfolgenden Jahrzehnte sowie der zweite Weltkrieg verschärften die Krise des Bewusstseins: es ist ein unwiderruflicher Bruch, es gibt kein Zurück in die alten Ordnungen, auch keine Flucht zu überzeitlichen Kulturgütern.

Und dies ist nun auch der Musikwissenschaft zu Bewusstsein gekommen, wenn auch noch nicht überall. Eines Tages wird es selbstverständlich sein, dass auch ganz andere Musikkonzepte eine Rolle spielen, und niemand wird sich auf die zweifellos wertvollen Zeugnisse des Abendlandes versteifen, wenn es um die Kulturfähigkeit des Menschen überhaupt geht.

So wie wir uns immer aufs neue Schuberts Streichquintett C-dur erschließen müssen, damit es nicht zum Kulturdenkmal erstarrt, - ebenso werden wir uns immer wieder aufs neue dem Raga Marwa nähern, der nicht Indien allein gehört, auch nicht Vilayat Khan, der ihn unvergleichlich darlegt, sondern allen, die sich auf eine hintergründige, doppelbödige und nie durch Schlagworte simplifizierte Sicht der Musik einlassen. Sie hören es am ersten, von oben nach unten durchlaufenden Gesamtklang: das ist eine höchst prekäre Stimmungslage. Dafür muss man gerüstet sein.

8) Raga Marwa: Alap / Tr. 1 6:00
Ustad Vilayat Khan, Sitar; (Akram Khan, Tabla)

India Archive Music New York - IAM CD 1075
ohne LC-Nummer

(in die Musik gesprochen und gesungen:)

Dies ist der Grundton, nennen wir ihn c. Sie hören ihn immer wieder, aber Sie hören in meistens nicht allein, sondern in Begleitung seiner Unterterz: c - a, c - a, manchmal erklingt zu seiner Stärkung auch die tiefe Oktave. c, a, C, manchmal auch C, E, a. Wenn Sie sich das zunächst intensiv einprägen, ohne sich von der Melodie beunruhigen zu lassen! Sie behalten den Grundton im Auge oder im Ohr, hoch und tief, und auch die Unterterz, den Compagnon des Grundtons...

Aber da ist nun auch die Melodie, die den Grundton in einem Maße übergeht, ihn geradezu zwingend ausschaltet, ... also ... das muss man erst einmal realisieren: sie macht sozusagen mit der Unterterz gemeinsame Sache und etabliert geradezu einen anderen tonalen Zusammenhang... Je deutlicher es Ihnen bewusst wird, desto beunruhigender, und doch - dank der irritationsfreien Wiederkehr des Grundtons - zugleich faszinierend. Sie müssen sich gewissermaßen zweiteilen. Dies ist der Raga des Zwielichts.

(Musik Raga Marwa hoch, nach 4:00 dezent übergehend in Musik 9)

9) Franz Schubert: Streichquintett C-dur D 956
2. Satz Adagio 1. Teil 4:10
Auryn Quartet, Christian Poltéra, Violoncello
Tacet 110
LC 07033

Was ist das für eine Welt? Diesseits oder jenseits der erfahrbaren Realität? Wer diesen Schubert-Satz kennt, weiß, dass gleich ein ungeheurer Sturm der Verzweiflung losbrechen wird, aber wenn er vorüber ist, wird dieser ruhige Ausblick in die Ewigkeit wiederkehren, angereichert durch einige unschuldige Spielfiguren der ersten Violine.
Man könnte sagen, dass wir uns hier im Allerheiligsten der westlichen Musik befinden. Und doch kann das nicht heißen, dass wir die musikalischen Erfahrungen anderer Kulturen zurückweisen, als hätten wir mit Schubert bereits alles ausgelotet. Hier und dort werden wir als Menschen auf einen Weg gebracht, der sich durch nichts anderes als durch lebendige Musik erschließt, nicht durch sogenannte "Kulturgüter"; nur durch lebendige, verlebendigte Musik, durch ihre beständige aktive oder reflexive Anverwandlung.

10) Raga Marwa: Alap / Ustad Vilayat Khan, Sitar; (Akram Khan, Tabla)
Forts. bis Ende des Tracks 2:00
India Archive Music New York - IAM CD 1075
ohne LC-Nummer

Vilayat Khan, einer der größten Sitarmeister des 20. Jahrhunderts, aufgenommen im Jahre 1992.

Die neue Musikwissenschaft, von der ich sprach, wurde in den USA nicht zuletzt durch einen deutschen Wissenschaftler geprägt, der 1985 an die Harvard-Universität berufen wurde und Gelegenheit bekam, sich als Fünfzigjähriger sozusagen eine neue Welt zu erschließen. Im Jahre 2001 wurde Reinhold Brinkmann, von dem hier die Rede ist, der Ernst von Siemens Musikpreis verliehen, und er hielt bei diesem Anlass eine Rede, die ich mir als Hintergrund eines jeglichen Musikstudiums wünschen würde:
Da sagte er zum Beispiel:

" Ich habe erstens die Vision einer neuen Musikwissenschaft, deren Gegenstand ist: die westliche Kunstmusik und ihr Kontext vom Mittelalter bis heute, ein Gegenstand unter vielen anderen, grundsätzlich gleichberechtigten. Bildlich gesprochen: Im großen Haus der Kulturen der Welt lebt die westliche Tradition in einer Wohnung neben anderen Musiken aus allen Erdteilen; ohne besondere Privilegien zu haben und ohne Modell zu sein. Das bedeutet das Ende jeglichen Eurozentrismus als eines ideologisierten Umgehens mit anderen Musikkulturen. (Bereits der Begriff "außereuropäische Musik" hat einen kolonialistischen Klang.)
Dies könnte institutionell ein Plädoyer für den Ausbau einer kompetenten Musikethnologie bedeuten. Nötiger Nachsatz: Unter dem hier letztlich vermiedenen Begriff "Weltmusik", der gegenwärtig Hochkonjunktur hat, möchte ich diejenige Musik verstehen, die "auf der Welt ist", also alle originalen Musiken der Kulturen der Welt, die von der Wissenschaft in ihren jeweils eigenständigen Erscheinungen gleichberechtigt und aus sich selbst zu untersuchen sind; "Weltmusik" ist für mich nicht jenes fabrizierte Konstrukt, das sich aus Marketinggründen so nennt und eigens für die Propagierung dieser Idee hergestellt wird. "
Das ist nur der erste von 6 Punkten, die Reinhold Brinkmann programmatisch benennt.
Er sprach natürlich auch von der Krise unserer klassischen Musikkultur, deren Ursachen benennbar sind, und er sprach von seiner unbeirrbaren Überzeugung,
dass der Bereich der klassischen Musik, vom Mittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart und unter Einschluss des Jazz, ein unerschöpftes Potenzial an Menschlichkeit, Selbstbestimmung, Toleranz und Glück bereitstellt, Modelle für ein humanes Zusammenleben, für die Lösung von Konflikten präsentiert, so dass es wert ist, sich mit allen Fasern seines Denkens und Fühlens für ein Weiterleben dieser Kultur einzusetzen. Wegen dieses Potenzials, zutiefst betroffen von seiner Geistigkeit und Vitalität, bin ich Musikwissenschaftler geworden.
Reinhold Brinkmann nannte an dieser Stelle nur den Jazz, aber insgesamt war deutlich, dass jegliche Musik von kultureller und gesellschaftlicher Relevanz gemeint ist, sofern sie das Nachdenken lohnt. Und weder der Jazz noch andere Musikkulturen noch Bereiche der Popmusik können da ausgeschlossen werden.
Und ich weiß, dass sich manch einem Klassikfreund der Magen umdreht, wenn ich die folgende Musik zu bedenken bitte und anschließend auch noch eine ganz widersinnige Betrachtungsweise zum Besten gebe. Es handelt sich um einen merkwürdig ereignislosen Titel von Roxy Music aus dem Jahre 1973. Achtung: nach rund 4 Minuten scheint er zuende zu sein, aber dann geht es wider Erwarten noch eine Minute weiter. Der Text dreht sich um eine Gummipuppe, die sich ein Vereinsamter als Partnerin zugelegt hat. "In Every Dream Home A Heartache." Also etwa: "in jedem Traumhaus ein Herzschmerz".

11) Roxy Music "In Every Dream Home A Heartache"
Musik/Text: B.Ferry SZ Album 1973 Tr. 29 5:24
Published by BMG Music Publishing Ltd.
(p) 1973 Virgin Records Ltd.
ISRC: GBAA 7300048
EMI Music

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht eine fortlaufende historische Diskothek der Popmusik von 1955 bis 2004, für jedes Jahr ein Album, im Fall 1973 mit 20 Titeln. Ich wurde aufmerksam, als ich im SZ-Magazin einen hochgestochenen Kommentar zu diesem Titel von Roxy Music las. Es beginnt mit dem Hinweis auf das Buch Die Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer - korrekt zitiert hieße es ohne Artikel: "Dialektik der Aufklärung" -, jedenfalls: darin gebe es einen Riesenfehler!
Ich zitiere:
" Pop und Jazz sind nämlich keineswegs bloße Verdummungs-instrumente der Kulturindustrie. Nicht nur, dass Pop mitunter dieselbe höhere Wahrheit erreicht, die bürgerliche Musikliebhaber allein in Bachs Fugen und Beethovens Streichquartetten finden; auch das Störpotenzial, das Adorno Arnold Schönbergs Zwölftonmusik zuschreibt, lässt sich ohne weiteres im Pop lokalisieren - zum Beispiel im Roxy Music-Stück In Every Home ... , das von der spirituellen Leere einer vom Konsum geprägten Existenz handelt. "

Eine aufblasbare Gummipuppe symbolisiert, so heißt es, "Liebe im Zeichen der Gefühlsindustrie." Und dann wörtlich:

" Fast will es scheinen, als hätte der Komponist Bryan Ferry vor der Niederschrift des Liedes bei Adorno nachgeschaut, so präzise vertont er hier kulturkritische Lehrsätze. Spätestens wenn im Herzen des Erzählers ein diffuser Schmerz auftaucht, das 'heartache' des Titels, weiß man: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. "
Zitatende.

Das ist die aufgeblasene Sprache der Popexperten, die versuchen, mit schlechten Klassikexperten gleichzuziehen. Auch ohne Adorno hätte man gewusst, dass es mit der Gummipuppe kein richtiges Leben gibt, selbst wenn das Leben da draußen kein falsches wäre. Und es kann auch wohl nicht ernst gemeint sein, dass der Sänger Bryan Ferry wirklich kulturkritische Lehrsätze vertont hat, allenfalls könnte er sie bei der Vertonung beherzigt haben, gemeint ist aber: bei der Textniederschrift.

Und völliger Quatsch ist es, den bürgerlichen Musikliebhabern zu unterstellen, dass sie in Bachs Fugen oder Beethovens Streichquartetten nach höherer Wahrheit suchen, und womöglich derselben, die auch in manchen Popstücken zu finden ist.

Das ist großmäuliges, verdinglichtes Gerede, das gleiche, das auch auf hohe Kulturgüter pocht, die womöglich von einer Leitkultur gehütet werden.

Man hört Musik, man beschäftigt sich mit Musik, man setzt sich ihren Wirkungen aus, man lebt mit ihr, aber man geht am Ende nicht mit einer höheren Wahrheit nach Hause. Sondern ... von Musik erfüllt.

Und was nun dieses Pop-Stück aus dem Jahr 1973 angeht: ich finde es in Ordnung, dass wir's gehört haben, aber ich bedauere nicht, dass es mir im Jahre 1973 völlig entgangen ist, weil ich damals ständig mit Bachs Solosonaten beschäftigt war, gerade mit den Fugen, in g-moll, a-moll und C-dur; ich habe sie auch analysiert und versucht, rhetorische Aussagen herauszulesen, aber nach "höherer Wahrheit" habe ich nicht gesucht, weil die Musik so schön war.

A propos - "höhere Wahrheit": wollen Sie vielleicht mal danach suchen? Das Thema der C-dur-Fuge soll ja etwas mit der Anfangszeile eines Pfingst-Chorals zu tun haben: "Du heilige Brunst, süßer Trost". Soviel verrate ich.

Aber die Wahrheit dieser Sendung, an dieser Stelle, gleich nach der Musik ist doch viel härter als Sie vielleicht denken.

12) Johann Sebastian Bach: Sonata Nr. 3 BWV 1005 C-dur
2.Satz Fuga ab 8:04 bis Ende 1:54
Christian Tetzlaff, Violine
Virgin Classics 7243 5 45089 2
LC 7873

Christian Tetzlaff spielte.
Aber, meine Damen und Herren, Sie waren gewarnt!
Die Wahrheit ist nämlich: das war gar nicht die Fuge der C-dur-Solosonate von Bach, es war nur ein Fünftel davon, nämlich nur die Wiederkehr des ersten Teiles am Schluss; es handelt sich um eine der wenigen Da-Capo-Fugen von Bach. Und es ist ein Riesengebäude von 10 Minuten Länge, die längste Fuge von Bach überhaupt.

Im Wohltemperierten Clavier gibt es eine Fuge, die einmal eine Fughette war, sie ging zuende - sagen wir - genau in Takt 50, und nun will Bach sie ins Wohltemperierte Clavier setzen, findet sie aber wohl etwas schwach auf den Beinen: da öffnet er ihren Schlussakkord und schreibt weiter: sie wird doppelt so lang, extreme Modulationen, ein grandios kumulierender Schluss. Alles wie aus einem Guss. Man möchte es nicht glauben, dass das einmal eine sehr nette Fughette von halber Länge war.

Warum ich das erzähle? Damit Sie sich nicht grämen, wenn Sie eben schon mit Bachs Fünftel-Wahrheit zufrieden waren. Manchmal ist das gerade die Dosis, die wir vertragen und geistig verarbeiten können.
Und wir können sie noch ein wenig komprimieren, auf wahrhaft wunderbare Weise: es ist der vorhin erwähnte Choral, der mit dem Fugen-Thema zu tun haben könnte, - hier ist er: "Du heilige Brunst, süßer Trost", Schlusschoral der Motette "Der Geist hilft unserer Schwachheit auf", - und zwar hilft er uns, wie ich finde, tatsächlich im rechten Moment!

13) Johann Sebastian Bach: "Motets" Du heilige Brunst, süßer Trost
Schlusschoral aus der Motette "Der Geist hilft unser Schwachheit auf" BWV 226 1:47
RIAS Kammerchor, Leitung René Jacobs
Harmonia Mundi France 901589
(LC 07045)

14) The Best of Ladysmith Black Mambazo "The Star and the Wiseman"
"Siligugu Isiphambano" (Joseph Shabalala) 3:00
Polygramm 5652982 (1988 Gallo Music)
LC 7341

Nach dem Bach-Choral mit dem RIAS-Kammerchor unter René Jacobs hörten Sie den südafrikanischen Chor Ladysmith Black Mambazo mit Joseph Shabalala.
Der WDR war es, der diesen Chor 1981 zum erstenmal über Afrikas Grenzen hinausbewegt hat, zum Zulu-Festival nach Köln.

Was diese Musik für eine Genese haben gehabt haben musste, war uns ganz klar. In einem Buch zur Geschichte des Kolonialismus gab es ein einzigartiges altes Foto: Fünf junge schwarze Männer hinter einem Harmonium, an dem ein weißer Prediger saß, ein Bure in Südafrika: mit stocksteifem Rückgrat und erhobener rechter Hand vermittelte er - kein Zweifel - die Grundlagen des Choralgesangs der Buren.
Und nun unsere Folgerung: die Schwarzen machten sich damals die einfachsten Harmoniefolgen zueigen und - afrikanisierten sie, durch Wiederholung und Swing.
Aber da hätte noch etwas dazugehört, und das wird jetzt in einem fabelhaften Buch von Maximilian Hendler über den Jazz und die lateinamerikanische Musik nachgetragen; er wirft darin auch einen Blick auf die Jazz-Rezeption in Südafrika und schreibt:
" US-amerikanischer Einfluß wurde um 1900 durch die Tourneen von Spiritualchören wirksam, die eine Art von Chormusik mitbrachten, auf die die Südafrikaner beider Hautfarben durch den Kirchengesang der Niederländischen Reformierten Kirche vorbereitet waren. Bei der schwarzen Bevölkerung führte dieser Anstoß zur Bildung des sogenannten Mbube, eine Amalgamierung westlich-amerikanischer und autochthoner (also bereits "ansässiger") Chortraditionen. " (Hendler S. 116)
Dies ist nur ein kleines erhellendes Beispiel dafür, dass die musikalischen Verflechtungen rund um die Welt verwickelter sind, als wir im allgemeinen glauben. Hendlers Buch dürfte überhaupt den in der Jazz-Wissenschaft sich anbahnenden turn beschleunigen: nämlich die im Kern rassistische Idee von der durch und durch "schwarzen" Musik namens Jazz ad absurdum zu führen durch die zahlreichen Nachweise "weißer" Grundlagen. Wobei "schwarz" und quot;weiß" sich schließlich als völlig irrelevant erweisen, während die soziale Stellung in der Gesellschaftsschichtung eine entscheidende Rolle spielt.
Und die Wurzeln des Jazz sind offenbar - eigentlich erwartungsgemäß - ganz, ganz unten. "Jazz"..., das war halt so'n "Scheiß".

15) The Best of Ladysmith Black Mambazo "The Star and the Wiseman"
"Diamonds on the soles of her shoes" (Paul Simon) bis 0:54
Polygramm 5652982 (1986 WEA)
LC 7341

Rich girl, poor boy...
Der arme Junge mit leeren Taschen - das reiche Mädchen mit Diamanten an den Schuhsohlen. Ein Stoff zum Träumen. Paul Simon mit Ladysmith Black Mambazo.
Meine Damen und Herren, selbst wenn Sie sich fragen, woher der "Ragtime" kommt, der in den 20 Jahren des vorigen Jahrhunderts in Europa einen ersten Eindruck von "Negermusik" gab, so machen Sie die erstaunliche Entdeckung, dass Sie sich mit der mitteleuropäischen Quadrille und dem Contredanse des 17., 18. Jahrhunderts befassen müssen.

Uninteressanter wird der Jazz dadurch keineswegs!
Und die Entmystifizierung des "schwarzen" Anteils ist ein Abschied vom Biologismus und auch eine Angelegenheit des Respekts gegenüber allen Menschen und Kulturen.
Auf diesem Wege ist das Buch von Maximilian Hendler ein Meilenstein, weit über das hinausweisend, was der Titel sagt: "Cubana Be Cubana Bop. Der Jazz und die lateinamerikanische Musik".

Wie war das noch mit der "höheren Wahrheit" nach dem cultural turn, der Umwendung unseres Denkens? Die Kulturphilosophie geht aus von der Erkenntnis, wonach der Mensch seiner selbst nur in den Zeugnissen seiner Produktivität und Weltgestaltung ansichtig wird. (Ralf Konersmann S. 128)
Das sieht nach einem Umweg aus, und in der Tat deutet man Kultur heute als ein Umwegphänomen. Diese neue Sicht hört auf,
" die Weltexistenz zu trivialisieren, wie die idealistische Wesensschau es verlangt hatte, und deren Wahrheit 'hinter' den Dingen zu suchen. Statt die Erwartung zu schüren, das philosophische Denken werde jenseits des Universums symbolischer Formen und seiner Empirie [also: der sinnlichen und mittelbaren Erfahrung oder Erfahrbarkeit] auf ein Zugrundeliegendes stoßen, auf ein Reich des Unmittelbaren, des Ursprungs oder des Absoluten, richtet sich ihr Augenmerk auf die Phänomene dieses Universums selbst, auf seine Gestaltgebungen und Gegenstände. " (Konersmann S. 132)

Ich habe aus dem Buch "Kulturphilosophie", eine Einführung von Ralf Konersmann, zitiert. Ich glaube, ein neues Zeitalter der Bescheidenheit ist angebrochen, - vielleicht sogar eine Morgenröte der Humanität?

Da hätten wir ja heute in den Musikpassagen einen tollen Weg genommen, einen riesigen Umweg. Einzelheiten zu Büchern und Musik weiß unser Hörertelefon, das auch Anregungen, Lob und Kritik entgegennimmt: 0180 - 5678 333.

Für die Technik dieser Sendung sorgte Alexander Hardt, unsere Produktionsassistentin Eva Habegger arbeitet bereits an einer detaillierten Lizenzliste, und die Redaktion hatte Bernd Hoffmann.
Ich bedanke mich fürs Zuhören und schließe - im Sinne der eben erwähnten Bescheidenheit - mit einer Art Gebet von Johann Sebastian Bach, "devotional music" würde Vilayat Khan sagen, der sich unmittelbar anschließt.

Am Mikrofon verabschiedet sich Jan Reichow.

16) Johann Sebastian Bach: Sonata Nr.2 BWV 1003 a-moll 3.Satz Andante 5:07
Christian Tetzlaff, Violine Virgin Classics 7243 5 45089 2
LC 7873

17) "SHRINGAR" Ustad Vilayat Khan, Sitar
Schluss des Alaps 1:26
Raga Bihag: Alap
Navras Records Ltd. NRCD 0181
LC 3207

Zitierte Literatur
  • Reinhold Brinkmann:

  • Peter Gülke
    Franz Schubert und seine Zeit

    Laaber-Verlag 1991
    ISBN 3-89007-266-6

  • Arnfried Edler
    Robert Schumann und seine Zeit

    Laaber-Verlag 1982
    ISBN 3-9215 1871-7

  • Ralf Konersmann
    Kulturphilosophie / zur Einführung

    Junius Verlag Hamburg 2003
    ISBN 3-88506-382-4

  • Maximilian Hendler
    CUBANA BE CUBANA BOP

    Der Jazz und die lateinamerikanische Musik
    Akademische Druck- u. Verlagsanstalt Graz/Austria Graz 2005
    ISBN 3-201-01864-3

  • Paul Valéry
    Die Krise des Geistes
    / Drei Essays (1924)
    Insel-Verlag Frankfurt a.M. 1956

  • DIE ZEIT Nr. 2 / 5. Januar 2006-03-14

    • MOZART S. 39
      Warum ist die "Kleine Nachtmusik" so berühmt?
      Acht Fragen an den Mozart-Experten Ulrich Konrad zu einem Stück, das jeder kennt.

    • MOZART S. 43
      "Ich glaube, man kommt ihm mit zunehmendem Alter näher"
      Was braucht man, um Mozart spielen zu können? Wie revolutionär war er? Und wie wichtig ist die historische Aufführungspraxis?
      Fragen an den italienischen Pianisten Maurizio Pollini (Claus Spahn)

  • Süddeutsche Zeitung / Diskothek
    1973 / Ein Jahr und seine 20 Songs
    München 2005
    ISBN 3-86615-075-X

  • Süddeutsche Zeitung SZ Magazin No. 34 (2005) S. 26:
    1973 / Ein Jahr und seine Songs
    "In Every Dream Home A Heartache" von Roxy Music
    Kommentar von Johannes Waechter




Konzerthinweis
24. und 25. März jeweils 20:00, Kölner Philharmonie
Konzerte des WDR Sinfonieorchesters Köln
Leitung: Pinchas Zukerman
mit Schuberts Quintett C-dur D 956 und der großen C-dur-Sinfonie D 944.
Beginn der Einführung um 19:00




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