Sie befinden sich hier:
Jan Reichow > Startseite > Texte > für das Radio > Musikpassagen: Traum, Kunst und Wirklichkeit

WDR3, Donnerstag, 9.Februar 2006,
15.05-17.00 Uhr
Musikpassagen
mit Jan Reichow

Traum, Kunst und Wirklichkeit

Wozu das ganze japanische Theater?
Und: warum weinte Mozart?

Gedanken zur Wirkung von Musik
mit Shakuhachi-Tönen, Minyô-Volksliedern und einem Nô-Spiel aus Japan,
mit dem Quartetto "Andrò ramingo e solo" aus Mozarts Idomeneo und Zitaten aus einem Essay von Wolfgang Hildesheimer




Pressetext

In der ausverkauften Kölner Philharmonie war es so still wie nie zuvor, obwohl auf der spartanisch-japanisch eingerichteten Bühne fast nichts geschah; vielleicht war mit Geisterhand die Zeit angehalten worden... Und auch der Auftritt eines imposanten Dämonen änderte nichts, zumal er eine volle Stunde dauerte.

In einem Brief an seinen Vater wagte es Mozart einmal, Shakespeare zu kritisieren: "Wäre im Hamlet die Rede des Geistes nicht zu lang, sie würde noch von besserer Wirkung seyn ..."
Doch die Handlung eines Nô-Spiels wäre schneller erzählt als der Inhalt dieser Rede, - also zwei Dinge, die man nicht miteinander vergleichen kann? Zumindest wir sind doch in beiden Fällen dieselben Zeitgenossen der Gegenwart?
Nun ging es Mozart vor allem darum, einer damals nicht mehr zeitgemäßen Theaterform musikalisch beizukommen: der Opera seria. Während man beim alt-japanischen Theater wohl von "zeitgemäß" gar nicht reden mag, erst recht nicht, wenn man dabei an die Shakespeare-Zeit denkt.

Aber vielleicht gibt es noch eine ganz andere Wirkungsebene der Musik, wenn man bedenkt, wann Joseph Haydn in Ohnmacht fiel: nicht als er den C-dur-Akkord zu den Worten "Und es ward Licht" niederschrieb, sondern als er ihn zum erstenmal real erklingen hörte.

Und warum weinte Mozart? Nur ein einziges Mal wird darüber berichtet, jedenfalls soweit es Musik betraf: im Haus seines Vaters, beim gemeinsamen Vortrag des Quartetts "Andrò ramingo e solo"aus dem Idomeneo. Er brach in Tränen aus, lief ins Nebenzimmer und war lange nicht zu trösten.
War es wirklich die Wirkung der eigenen Musik, die ihn überwältigte?


Redaktion: Bernd Hoffmann

Musikliste

  1. Shakuhachi Tr. 2 Shika No Tône (trad.) 4:00
    World Network 32.379 (LC 6759) Japan / Tajima Tadashi / Master of Shakuhachi

  2. Ouvertüre zu Idomeneo (Mozart) 5:08
    Mozartorchester des Opernhauses Zürich, Leitung: Nikolaus Harnoncourt
    Teldec 2292-42600-2 ZB (LC 3706)

  3. Sofia Sandén CD Courage Tr. 10 En älskelig vän (trad.) 2:00
    Westpark Music 87124 CD Courage

  4. Nô-Spiel Zwischen Traum und Wirklichkeit Izutsu CD 1 (trad.) 4:04
    Ausführende: Musiker des Ensembles Umewaka Kennôkai
    aus: WDR-Mitschnitt Kölner Philharmonie 28.10.05

  5. Sado-okesa (trad.) Minyô-Volkslieder mit YAMAMOTO Fumie 3:30
    WDR-Mitschnitt 27. Juli 2005 im Japanischen Kulturinstitut
    YAMAMOTO Fumie und Ensemble

  6. Deutsche Volkslieder mit YAMAMOTO Fumie
    Hänschen klein
    Kuckuck
    Ich weiß nicht, was soll es bedeuten (alles trad.)

  7. Komoriuta Medley Wiegenlieder (trad.) 7:27
    WDR-Mitschnitt 27. Juli 2005 im Japanischen Kulturinstitut

  8. Nô-Spiel Zwischen Traum und Wirklichkeit Izutzu 5:48 bis 7:40
    folgt: leise hörbarer Abgang bis 8:10 (8:15), dann Beifall Tr. 11 (trad.) 2:27
    Ausf.: Musiker des Ensembles Umewaka Kennôkai
    aus: WDR-Mitschnitt Kölner Philharmonie 28.10.05

  9. Nô-Spiel Zwischen Traum und Wirklichkeit Izutsu (trad.) 4:04
    wie Beispiel 4), jetzt mit Text synchronisiert!
    Ausf.: Musiker des Ensembles Umewaka Kennôkai
    aus: WDR-Mitschnitt Kölner Philharmonie 28.10.05

  10. Shakuhachi wie 1) Shika No Tône (trad.) 4:20
    World Network 32.379 (LC 6759) Japan / Tajima Tadashi / Master of Shakuhachi

  11. Idomeneo CD II Quartetto "Andrò ramingo e solo" Tr. 13 ab 2:42 bis 4:51
    Werner Hollweg, Trudeliese Schmitt, Rachel Yakar, Felicity Palmer
    Mozartorchester des Opernhauses Zürich, Leitung: Nikolaus Harnoncourt
    Teldec 2292-42600-2 ZB (LC 3706)

  12. Idomeneo CD II Quartetto "Andrò ramingo e solo" Tr. 13 ab 4:51 bis 5:59

  13. Idomeneo CD II Quartetto "Andrò ramingo e solo" Tr. 13 ab 5:59 bis 8:16

  14. Idomeneo CD II Quartetto "Andrò ramingo e solo" Tr. 13 ab 2:42 bis 8:16
    Werner Hollweg, Trudeliese Schmitt, Rachel Yakar, Felicity Palmer
    Mozartorchester des Opernhauses Zürich, Leitung: Nikolaus Harnoncourt
    Teldec 2292-42600-2 ZB (LC 3706)

  15. Così fan tutte (Mozart) CD 1 Tr. 11 "Di scrivermi ogni giorno" 2:57
    Veronique Gens, Bernarda Fink, Werner Güra, Marcel Boone
    Concerto Köln Leitung: René Jacobs
    harmonia mundi HMC 951663.65 (LC 7045)

  16. Così fan tutte (Mozart) CD 1 Tr. 12 "Soave sia il vento" 3:34
    Veronique Gens, Bernarda Fink, Pietro Spagnoli
    Concerto Köln Leitung: René Jacobs
    harmonia mundi HMC 951663.65 (LC 7045)

  17. Mozart: Klarinettenkonzert KV 622 Tr. 5 ab 1:00 bis 2:06
    Ulf Rodenhäuser, Berliner Kammer-Akademie, Thomas Wilbrandt / Victor VDC-1331

  18. Mozart: Klavierkonzert KV 488 Tr. 5 ab 4:24 bis 6:20 (Ende)
    Linda Nicholson, Cappella Coloniensis, Nicholas Kraemer / Capriccio 10 804/2 (LC 8748)

  19. Sofia Sandén CD Courage Tr. 10 En älskelig vän (trad.) 2:00
    Westpark Music 87124 CD Courage

  20. Nô-Schauspieler aus Beispiel 4) 1:00
    Ausf.: Musiker des Ensembles Umewaka Kennôkai
    aus: WDR-Mitschnitt Kölner Philharmonie 28.10.05

  21. Sofia Sandén CD Courage Tr. 10 En älskelig vän (trad.) 2:00
    Westpark Music 87124 CD Courage




Zitierte Literatur:

  • Wolfgang Hildesheimer: Warum weinte Mozart ?
    in: Das Ende der Fiktionen / Reden aus fünfundzwanzig Jahren
    Suhrkamp / Frankfurt am Main 1984
    (Rede zur Eröffnung der Idomeneo-Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek München am 26.3.1981) S. 75 - 86

  • Bert Brecht: Der Rauch
    aus: Buckower Elegien (1953)
    zitiert nach: Der Neue Conrady / Das große deutsche Gedichtbuch / von den Anfängen bis zur Gegenwart / von Karl Otto Conrady
    Düsseldorf und Zürich 2000 / S. 707
    Erläuterung (S. 706): Brecht und Helene Weigel mieteten im Februar 1952 in der Märkischen Schweiz in Buckow (östlich von Berlin) ein Landhaus an einem kleinen See.
  • Harald Mauritz Stiller: Noo Tod Essen
    in: Klassische Theaterformen Japans: Einführung zu Noo, Bunraku und Kabuki /
    herausgegeben vom Japanischen Kulturinstitut Köln
    Köln Wien, 1983
    ISBN 3-412-07883-2

TEXT DER SENDUNG

WDR 3 Musikpassagen 09. Februar 2006 / 15:05 bis 17:00
Traum, Kunst und Wirklichkeit
mit Jan Reichow

Warum das ganze japanische Theater?
Und: warum weinte Mozart?
Redaktion: Bernd Hoffmann

Am Mikrofon begrüßt Sie J.R.,
meine Damen und Herren, interessieren Sie sich ernstlich für Musik und Kunst?

Dann kann es Ihnen leicht passieren, dass Sie von anderen Menschen als Traumtänzer bezeichnet werden, von Leuten, die sich gern auf "knallharte Fakten" berufen.
Und Sie, als WDR 3-Rezipienten, Sie stehen sowieso unter Verdacht, die sogenannte Realität nicht ganz ernst zu nehmen.
Sie haben ja auch manchmal dieses Glänzen in den Augen, das von der Realität nur sehr selten zugelassen wird: in Szenen des plötzlichen Durchblicks, des Wiedersehens, der Wiedererkennung, des Geständnisses, Bekenntnisses, der Entäußerung und des Abschieds, - manches davon wird in der heutigen Sendung durchscheinen, aber glauben Sie deshalb nur nicht, dass diese Träume einfach zu konsumieren sind; vielleicht werden sogar Sie zwischendurch ungeduldig fragen:
Warum denn das ganze japanische Theater? Was bringen uns diese künstlichen Träume?

Ich kann nur hoffen, dass sie was bringen.

Aber mit Mozart begeben wir uns noch mehr ins Abseits: wird er nicht neuerdings als Popstar gehandelt, und da kommen wir mit Wolfgang Hildesheimers Frage "Warum weinte Mozart?"
Einmal oder zweimal, das mag schon sein, aber die Musik beweist doch, dass er vorwiegend gut drauf war...

Meine Damen und Herren, jetzt bin ich aus der Rolle gefallen, soo spreche ich natürlich nicht in Ihrem Namen. Wir wissen, dass es um Kunst geht, die sich immer - wie das japanische Nô-Theater - irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit bewegt, die mit Gefühlen und Gedanken ein phantastisches Spiel treibt, zuweilen sogar ein unverhofftes Glück zulässt oder sogar verursacht.
Selbst Tränen - wir wissen nicht warum.
Wir wissen aber, dass auch abgebrühteste Realos Kunstkonsum nicht missen möchten, sie sprechen dann gern von Entspannung: und die lässt sich ja notfalls medizinisch begründen.

1. Shakuhachi Tr. 2 Shika No Tône (trad.) 4:00
World Network 32.379 (LC 6759) Japan / Tajima Tadashi / Master of Shakuhachi

Ist das Entspannung? Wollen Sie in dieser strengen Haltung auf der Tatami-Matte sitzen, schweigen, warten und meditieren, bis Ihnen unerwartet der Mann mit der Rute auf den Rücken schlägt, damit Sie den Aufenthalt im Hier und Jetzt nicht mit angenehmen Träumen verwechseln?

Von Erleuchtung oder Erlösung ganz zu schweigen! Tabula Rasa, nichts denken, nichts fühlen. Aber wenn Sie dann aufstehen, in die Stadt gehen, ins Konzert, ins Kino, - was denken Sie dann, was fühlen Sie dann? Sie werden kein neuer Mensch durch die Idee des Leermachens und Loslassens. Wo sollte der denn herkommen, der neue Mensch? Von innen, von außen?

Salman Rushdie, der es ja wissen muss, hat kürzlich darauf aufmerksam gemacht, wie wenig man von einer andern Kultur versteht, wenn man nicht die Grundbegriffe reflektiert hat:

"Das abendländisch-christliche Weltbild bewegt sich zwischen den Begriffen Schuld und Erlösung, ein Konzept, das im Orient völlig unwichtig ist, schon weil es keine Erbsünde und keinen Erlöser gibt. Dafür gibt es das große Gewicht der 'Ehre'."
Solche Konzepte werden selten reflektiert, viel häufiger als Marotte des jeweils anderen gesehen, auch wohlwollend übersehen, - bis der andere explodiert.
Da genügen ein paar Karikaturen!

Und unsereins hat sich unter Umständen nur deshalb einer anderen Weltanschauung zugewandt, weil man die lästigen Implikationen der eigenen abstreifen wollte, und die der anderen fand man nur deshalb weniger schwerwiegend, weil sie eben nicht aus dem eigenen Innern aufsteigen, also leichter ignorierbar sind.

Z.B. hätte eine gute Portion Sündengefühl manch einen fernöstlich orientierten Philosophen davor bewahren können, realpolitisch die größten Dummheiten für akzeptabel zu halten.

Ich habe in einer Sendung (Musikpassagen 25.01.06) Eugen Herrigels frühen Japan-Bestseller "Zen in der Kunst des Bogenschießens" erwähnt - ein Buch, das ich Ende der 50 Jahre mit Begeisterung verschlungen habe -, und prompt wurde ich durch einen freundlichen Anruf beim Hörertelefon daran erinnert, dass dieser deutsche Philosoph Herrigel seine buddhistischen Anschauungen in den 30er Jahren ohne weiteres mit der Nazi-Ideologie kompatibel fand.

In der Tat, das kann man nicht schönreden, wollte ich natürlich auch nicht!
Vielleicht hätte ich auch erwähnen sollen, dass die japanische Kampfkunst, überhaupt: der Samurai, sich größter Sympathie unter SS-Leuten erfreute,
dass die Nazis den Buddhismus und den Hinduismus für sich reklamierten, heilige Bücher wie die Bhagavadgita, schon weil deren Protagonist Arjuna ein Krieger war [ Anm.: vgl. den heutigen Missbrauch Ganeshas ], - es gibt jede Menge Material über die Nazi-Tibet-Connection, und die Stichwortfolge Hitler-Buddha-Krishna ergibt im Internet ein kleines Fass ohne Boden...

Aber vergessen Sie nicht, dass auch Beethoven und Nietzsche erfolgreich vor den ideologischen Karren gespannt wurden, - es ist kein Wunder: Jeder Idiot kann in der Geistesgeschichte eine Menge Vorläufer für sich reklamieren, und niemand von denen hätte sich prophylaktisch gegen irreführende Verlinkung wehren können.

Heutzutage hat man allerdings Gelegenheit, wirklich genau hinzuschauen und sich weder durch exotische noch durch akademische Respektabilität beirren zu lassen. Die Philosophie bleibt die Schule des Denkens, nicht ersetzbar durch Gutgläubigkeit, Räucherstäbchen oder Bogenschießen.

Seien Sie vorsichtig, selbst wenn jemand sagt, die MUSIK sei höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philoso...., Moment, ist das etwa von Beethoven?
Na gut, dann lassen Sie uns lieber unbeschwert Mozart hören!

Aber was meinen Sie, - wo genau setzt die Offenbarung ein? Oder sagen wir: ab wo wird es ein geniales Werk?
Der Dreiklang am Anfang kann es doch nicht sein.

2. Ouvertüre zu Idomeneo (Mozart) 5:08
Mozartorchester des Opernhauses Zürich Leitung: Nikolaus Harnoncourt
Teldec 2292-42600-2 ZB (LC 3706)
Na? Sollen wir die Frage auf sich beruhen lassen? Ich bin sicher, Sie haben genug entdeckt, aber bestimmt sind Sie nicht in Tränen ausgebrochen, vielleicht - weil die Musik so stolz ist, auch ahnungsvoll, aber nur in kleinen Wendungen dunklere Gefilde streift, fünf Minuten Mozart, "Idomeneo". Die Einstimmung in eine große Opera Seria. "E-Musik". Aber Tränen sind nicht per se ein Indiz großer Musik.

Es könnte dagegen sein, dass Sie von einem Stückchen Volksmusik in weniger als der Hälfte dieser Zeit zutiefst gerührt sind, eine unverhoffte Stimme trifft Sie, - zwei Minuten, die nichts mit Mozart zu tun haben, abgesehen davon, dass er uns richtig aufgeweckt hat. Ein Mädchen singt:

Draußen in der Welt habe ich einen Freund,
den ich aus tiefstem Herzen liebe.
Ich werde ihn nicht vergessen
bis man mich zu Grabe trägt.


Ein Herz trage und hüte ich in meiner Brust
ohne Verlogenheit und List.
So lange wie mein Blut dies Herz erwärmt,
wird es mir an Liebe nicht mangeln.


(Übersetzung: Patricia Schlemper)
3. Sofia Sandén CD Courage Tr. 10 En älskelig vän (trad.) 2:00
Westpark Music 87124 CD "Courage"
Eine Weise aus dem schwedischen Dalarna mit Sofia Sandén, auf der Mundharmonika begleitet von Pelle Lindström.
Der einzige Wermutstropfen darin ist für mich die Kürze: so etwas darf nicht nach 2 Minuten enden!
Also richten Sie sich drauf ein: was auch immer Ihnen in der heutigen Sendung zu Ohren kommt, - sie wird mit der Wiederholung dieses Liedes enden!

Szenenwechsel:

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem japanischen Nô-Theater-Spiel. Nicht in Japan, wo Sie in solchem Fall bereits soviel Befremdendes erlebt hätten, dass Sie sich über gar nichts mehr wundern, sondern hier bei uns, z.B. in der Kölner Philharmonie.
Sie sind ziemlich orientiert, Sie lesen den gut übersetzten Text, er erscheint in fortlaufender Schrift über der Bühne, Sie wissen, dass die Kostüme, die Masken, die Bewegungen, die Rhetorik, dass alles von erlesener Qualität ist; uralt und ehrwürdig, seit 600 Jahren nahezu unverändert überliefert, Sie haben sich vorgestellt, wie es wäre, wenn Shakespeare's Werke in dieser Authentizität auf einer englischen Bühne zu erleben wäre, oder gar ein altgriechisches Drama - genau so wie Sophokles oder Aristophanes es sich vorgestellt haben - original, mit einem Chor, singend deklamiert, in einem antiken Amphitheater.
Würden Sie nicht beinahe selbst ein anderer Mensch?
4. Nô-Spiel Zwischen Traum und Wirklichkeit "Izutsu" CD 1 (trad.) 4:04
Ausf.: Musiker des Ensembles Umewaka Kennôkai
aus: WDR-Archivnummer 5118 847 1 (28.10.05)
Das ist ein unglaublich differenziertes Klangbild, nicht wahr? Natürlich fehlt der optische Anteil des Gesamtkunstwerkes, auch die Übersetzung des Textes habe ich Ihnen vorenthalten. Und es gibt keinen mentalen Zauberschlüssel, mit dem sich diese melodisch hoch stilisierte Sprechweise schlagartig erschließen würde.

Vielleicht sagen wir: das ist ein fremde Welt, vergeblich jeder Versuch, sich da hineinzufühlen. Stimmt das wirklich? Vielleicht reicht nur das bloße Gefühl nicht aus? Diese ästhetische Keule der "Natürlichkeit"?

Ich glaube im folgenden Fall ist es gar nicht so schwer, die Kluft zu überspringen, es ist auch kein Nô-Theater, - ja,ja, singt der Chor, das Wasser war viel zu tief vor der Insel Sado.

"Sado liegt meilenweit entfernt auf den Wellen. Jaja, jaja.
Ja, Niigata versinkt im Schnee, und der Tag geht stürmisch zur Neige. Jaja.
Schläft alles schon in Sado? Es ist kein Licht zu sehen. Jaja.
Wie sehne ich mich nach den schwarzen Haaren des Mädchens auf der Insel.
Jaja, ich möchte wieder zur Insel Sado fahren."
5. Sado-okesa (trad.) Minyô-Volkslieder mit YAMAMOTO Fumie 3:30
WDR-Mitschnitt 27. Juli 2005 im Japanischen Kulturinstitut
YAMAMOTO Fumie und YAMAMOTO Isumi, Gesang, YAMAMOTO Eriko, Shamisen-Laute, YAMAGUCHI Hiroshi, Tsugarujamisen-Laute, YAMAMOTO Ryû, Shakuhachi-Bambusflöte, ITOHARA Masashi, Taiko-Trommel
Die Sängerin Fumie Yamamoto sang am 27. Juli vergangenen Jahres mit ihrem Ensemble Minyô - Volkslieder im Japanischen Kulturinstitut in Köln. Und sie kennt die Kluft, von der ich sprach, denn sie hat vor vielen Jahren einmal in Deutschland studiert.
Um so drolliger, wie sie mitten in diesem anrührenden und begeisternden Konzert plötzlich die Kluft, die ja dank ihres reizenden Gesangs kaum noch spürbar war, vollends zu überspringen suchte.
6. Deutsche Volkslieder mit YAMAMOTO Fumie 2:30
Hänschen klein / Kuckuck / Ich weiß nicht, was soll es bedeuten (mit Publikum)
So kann es einem gehen, wenn man einen japanischen Volkliederabend besucht! Da muss man selber ran. Später übrigens auch noch auf japanisch! Aber hier sind zur Erholung drei wunderschöne Wiegenlieder, deren zweites ich in der Übersetzung von Heinz-Dieter Reese wiedergebe:
Ich stamme aus einer alten Familie in Shimabara.
Wir besitzen nur einen Birnenbaum (dieses Wort "nashi" bedeutet auch "nicht").
Was ich 'nicht' besitze? Koketterie, ich kann nichts dafür,
Baby, schlaf schnell ein, weine nicht,
sonst kommt der Menschenhändler vom Teufelsteich, um dich zu holen.
Flackernde Lichter auf der hohen See verschwinden und flammen wieder auf,
Flöten und Trommel zum Christenfest klingen ab!
Schlaf schnell ein, weine bitte nicht!
7. Komoriuta Medley (trad.) 7:27
WDR-Mitschnitt 27. Juli 2005 im Japanischen Kulturinstitut
Die Sängerin Fumie Yamamoto und ihr Ensemble am 27. Juli 2005 im Japanischen Kulturinstitut in Köln.
Die Wiegenlieder sind schon einigermaßen in Bewegung, wenn wir es mit dem unerhört retardierten Grundtempo des Nô-Spiels vergleichen.
Und nicht nur dies schafft uns Probleme.
Zurück also in die Kölner Philharmonie!

Ein musikalisch und ethnologisch interessierter Freund, der die Aufführung des Ensembles der Umewaka Kennôkai Foundation in der Kölner Philharmonie am 28. Oktober 2005 miterlebt hatte, schrieb mir folgende Zeilen:
"Es war mit das FREMDESTE, was ich jemals gehört und gesehen habe - noch fremder als die Peking-Oper, die wir 1987 in Peking sahen und fast fremder noch als beispielsweise die Musik der YATMUL auf Papua-Neuguinea.
Und diese 'Fremdheit' zu spüren, ist geradezu ein Erlebnis !
Und fordert zum Nachdenken heraus: Was muß in einer Gesellschaft vorgegangen sein, daß sie dermaßen 'starre' Formen von Theater und Musik (in diesem speziellen Genre) hervorbringt, ein präzises Räder- und Regelwerk von Gesten, Schritten, Schlagwerk, Gesang, Kostümen und Bühne.
Was muß das für eine rigide, geschlossene Gesellschaft gewesen sein im 'japanischen Mittelalter' (wenn man es so bezeichnen darf). Wie weit war schon das griechische Theater in der Fragestellung Individuum/Gesellschaft, Schuld und Sühne, Tragödie/Komödie usw. usf.
"
Es ist außerordentlich hilfreich, solche Bedenken auszuformulieren.
Das wenigste versteht sich ja "von selbst", und gerade das Selbstverständlichste wird fraglich.
Da ist ein hölzerner Weg auf der Bühne, der nach hinten zu einem Pavillon führt, dort im rechten Winkel nach links abknickt und in einem anderen Häuschen endet. Wenn der Hauptdarsteller diesen Weg in den Bühnenhintergrund antritt, langsam, langsam, langsam, weiß man natürlich sofort, dass er irgendwann unweigerlich in dem zuletzt erwähnten Häuschen ankommen wird, und trotzdem verfolgt man mit angehaltenem Atem jeden einzelnen Schritt, den er tut, wie eine Offenbarung; ich glaube, der in jedem Detail voraussehbare Weg dauert 2 Minuten, nein, ein Ewigkeit. Die Zeit bleibt stehen.

Jetzt erst habe ich in einem Büchlein über "Japanische Theaterformen" den Absatz über das Gehen entdeckt: Wir sehen Leben vielleicht als einen Austausch von Geben und Nehmen. Aber man kann auch sagen: Gehen ist Leben! oder umgekehrt:

Leben als Gehen, wobei nichts anderes geschieht, als einen Weg, Wege gehen.
Gehen, nicht aber als begegnungsloses Gehen, nicht im Gegensatz zu Austausch, zu Geben und Nehmen. Wirklich verstandenes Gehen ist gerade intensivster Umgang mit dem Weg, nicht ein gezieltes Geben und Nehmen, sondern ein Genommenwerden und Erhalten. Fast in allen Noo-Spielen ist das Gehen ein wichtiger Bestandteil des Inhalts. Es gibt ganze Szenenabschnitte, die mit Michiyuki (übersetzt: Weg-Gehen) überschrieben sind und bspw. das Wandern eines Mönches, seine Erfahrung mit der Landschaft beschreiben.

Der gesamte Noo-Tanz, in seiner Form auch, ist eigentlich nichts anderes als Gehen in seinen Abwandlungen:
  • schlürfendes Gehen
  • stampfendes Gehen
  • Geraden gehen
  • Kurven gehen
  • innehaltendes Gehen
  • hervorschießendes Gehen
  • stehendes Gehen.
Das 'stehende Gehen' in der Noo-Sprache Hiraki (Öffnen) genannt, ist eine der zentralsten und interessantesten Bewegungen des Noo. (...)
[Es handelt sich] eigentlich um 'inneres Gehen'. [Der Meister] Kanze Hideo beschreibt diese Bewegung folgendermaßen: 'Eine der Grundbewegungen des Noo ist, konzentrierte Energie auf einen Punkt weit entfernt von der Bühne zu lenken und dann, nachdem ein Augenblick verstrichen ist, sich öffnen und diese Energie wieder in sich hineinzuziehen. Man hat dabei das Gefühl, als würde man sich Hunderte von Metern bewegen.' (...) Das Gehen im Noo hat also nicht so sehr die Aufgabe zu zeigen, dass einer da und dahin geht, sondern dass er geht, denn das Gehen in seinem Wesen ist Leben. Der verstehende Zuschauer, der Noo sieht, erfährt dann das Wunder des Gehens, wie der Säugling, der zum ersten Mal aufrecht einen Schritt macht.

'Das Anfangsherz nicht sterben lassen' mahnt [der Meister] Zeami seine Schauspieler, immer wieder das erstaunliche Leben anblicken. Wie abgebrüht sind wir doch schon durch das Leben, eben dies Leben, das uns Quelle immer neuen Staunens sein sollte. Wie langweilig sind die Wolken und der blaue Himmel, wie öde die tägliche Arbeit, die Stadt und die Menschen um uns herum. Sind wir nicht wirklich schon tot? (wie Artaud behauptet). 'Wem soll ich sie zeigen, die Pflaumenblüten?' fragt Zeami resigniert.

(Harald Mauritz Stiller; Noo-Tod in Essen / Klassische Theaterformen Japans /Köln Wien 1983 / S. 19 f)
Ob wir sie sehen???
Hören Sie das Ende des ersten Nô-Spiels in der Kölner Philharmonie, samt Abgang der Schauspieler.
Danach haben wir hier im Studio Heinz-Dieter Reese.
8. Nô-Spiel Zwischen Traum und Wirklichkeit Izutzu CD 1 Tr. 10 ab 5:48 bis 7:40
folgt: leise hörbarer Abgang bis 8:10 (8:15), dann Beifall Tr. 11
Ausf.: Musiker des Ensembles Umewaka Kennôkai
aus: WDR-Archivnummer 5118 847 1 (28.10.05)


GESPRÄCH MIT HEINZ-DIETER REESE über das Nô-Theater

Im Studio zu Gast war Heinz-Dieter Reese vom Japanischen Kulturinstitut in Köln. ich versuche jetzt nach seinen Vorgaben die Szene zu synchronisieren, die wir vorhin gehört haben.
Am Sonntag machen das natürlich: z.B. Gisela Claudius in der Rolle des Mädchens, dessen Text im Original allerdings vom Chor gesungen wird.
BP (Bodo Primus):
Nun wohlan! Erzählt doch von dem edlen Herrn Ariwara no Narihira!

MH (Matthias Haase):
Einst hat ein Generalleutnant
namens Ariwara Jahre lang
in Isonokami gewohnt -
hier in diesem alten Dorf,
unter den Kirschblüten im Frühling
und dem Mondlicht im Herbst.


GC (Gisela Claudius):
Zu jener Zeit hatten er und
des Ki no Aritsune's Tochter
sich ewige Treue geschworen,
und ihre Liebe war sehr tief.


MH:
Doch er hatte auch in der
Provinz Kôchi, im Dorf Takayasu,
eine Geliebte, und so pendelte er
heimlich hin und her.


GC:
"Sturmwind weht,
Weiß erheben sich die Wellen.
Über dem Drachenfeldberg...

MH:
Zieht um Mitternacht
Alleine mein Geliebter." (Gedicht)
So dachte sie -
unsicher wie auf wogenden
Wellen; und auf nächtlichen Wegen
ihm in Gedanken folgend,
erreichte ihre Liebe ihn,
und die Beziehung zur anderen
war für immer vorbei.


GC:
Wahrlich, von Mitgefühl weiß
das Gedicht - wie Schaum...


MH:
...auf den Wellen eine Sorge
zu offenbaren ist ja sein Wesen.


(Übersetzung: H.-D.Reese)
9. Nô-Spiel Zwischen Traum und Wirklichkeit Izutsu (trad.) 4:04
wie Beispiel 4. , jetzt mit Text synchronisiert!
Ausf.: Musiker des Ensembles Umewaka Kennôkai
aus: WDR-Archivnummer 5118 847 1 (28.10.05)
Das Nô-Spiel Izutzu, traditionelles Theateraus Japan. In voller Länge am
Sonntag, WDR 3, Bühne Radio, 20.05 bis 23.00 Uhr.
Es ist unglaublich, was man sich so alles denken kann und muss, wenn man Musik hört, auch die rein akustische Seite eines Dramas, für sich genommen. Und es gibt ja auch immer noch ein psychologisch separates Geschehen diesseits der Bühnenhandlung. Beim Rezipienten. In uns.

Selbst das meditative Solo der Bambusflöte Shakuhachi kann ein stilles Drama sein: Die Schreie zweier Hirsche, die in der Ferne aufeinander zustreben. Tajima Tadashi spielt.

10. Shakuhachi Tr. 2 Shika No Tône (trad.) 4:20
World Network 32.379 (LC 6759) Japan / Tajima Tadashi / Master of Shakuhachi
Nehmen wir statt eines Dramas ein Gedicht von Bert Brecht, ein fast japanisch anmutendes. 5 Zeilen nur: Der Rauch.

Das kleine Haus unter Bäumen am See.
Vom Dach steigt Rauch.
Fehlte er
Wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See.

Was uns da anrührt, ist schnell zu sagen:
der Rauch verweist auf einen bewohnten und erwärmten Innenraum.
Es ist nicht nur ein Haus, jemand ist dort "daheim"!
Aber die künstlerische Wirkung des Gedichts kommt aus der Tatsache, dass dies nicht ausgesprochen wird: wir werden in Bewegung gesetzt, durch die einzelnen Worte, deren Sinn sich ganz allmählich ausbreitet wie die Wärme.

Und nun stellen Sie sich vor: eine einsame alte Frau liest dies Gedicht, bricht in Tränen aus und sagt:
Ich erinnere mich. Er selbst hatte den Kamin angemacht, bevor wir spazierengingen. Und unterwegs fielen ihm diese Zeilen ein.

Die Wirkung liegt nun auf einer ganz anderen Ebene: auf der der physischen Realität.
Die Geschichte habe ich mir zwar ausgedacht, aber ich könnte mir denken, dass der Dichter auch bewusst alle Spuren solcher Realität tilgen würde, weil sie das kleine Kunstwerk flach machen, egal, wie tief die davon verursachten privaten Tränen sind.

Aber man kann und will sie nicht ausschließen: wissen Sie etwa, ob Sie eine Musik wirklich lieben oder nur auf Grund einer Erinnerung, mit der diese Musik untrennbar verbunden ist? Noch verzwickter wird die Sache, wenn man sie vom Standpunkt des Komponisten betrachtet: kann er seine eigene Musik hören, ohne die Erinnerung an die Zeit, in der er sie schrieb, zu evozieren?

Wolfgang Hildesheimer hat 1981, vier Jahre nach seinem Mozart-Buch, einen Essay (eine Rede!) geschrieben mit dem Titel: "Warum weinte Mozart?", und darin erzählt er folgendes:
"Es gibt (da) eine seltsame und einmalige Episode in Mozarts Leben. Als er sich im Jahre 1783 mit seiner Frau Constanze zu einem Besuch in Salzburg aufhielt, sang man eines Tages, vermutlich in kleinem Kreis, das Es-dur-Quartett aus dem dritten Akt Idomeneo: 'Andrò ramingo e solo'. Mozart sang Tenor, Constanze Sopran. Wer die anderen Beteiligten waren, weiß man nicht. Es kamen viele musikalische Freunde ins Haus des Vaters, von denen sehr wohl zwei die anderen Partien hätten singen können. Möglicherweise aber waren die anderen beiden der Vater selbst und die Schwester (...). Wie dem auch sei: während sie sangen, brach Mozart plötzlich in Tränen aus und stürzte aus dem Zimmer. Constanze eilte ihm nach, und es dauerte, wie sie berichtet, eine lange Zeit, bis sie ihn habe trösten können."
11. Idomeneo CD II Quartetto "Andrò ramingo e solo" Tr. 13 ab 2:42 bis 4:51
Werner Hollweg, Trudeliese Schmitt, Rachel Yakar, Felicity Palmer
Mozartorchester des Opernhauses Zürich Leitung: Nikolaus Harnoncourt
Teldec 2292-42600-2 ZB (LC 3706)
"Die [eben wiedergegebene] Episode hat Constanze Mozart im Jahr 1828 dem englischen Ehepaar Vincent und Mary Novello erzählt. Damals lag sie fünfundvierzig Jahre zurück. Constanze war sechsundsechzig,
so berichtet Hildesheimer, und legt dar, weshalb ihre Erinnerung sie nicht getrogen haben kann und weshalb man die Wahrheit dieser Geschichte kaum anzweifeln kann. Er beklagt nur, dass die Novellos nicht nachgefragt haben, wie sich Constanze denn diesen Ausbruch erkläre oder ähnliches. Wenn sie Mozart getröstet hat, muss sie ihn doch gefragt haben, was eigentlich geschehen sei, - oder sie muss es gewusst haben! Nichts dergleichen.

Aber in anderem Zusammenhang erkundigten sie sich, welche seiner Kompositionen Mozart am meisten geschätzt habe.
"Wohlgemerkt (sagt Hildesheimer): sie fragten nicht, welche Opern! Constanze antwortete, er habe viel von Don Giovanni und von Figaro gehalten, doch habe er vielleicht den Idomeneo am meisten geliebt, da ihm diese Oper Assoziationen mit einer unvergleichlichen Lebensperiode heraufbeschworen habe. Vincent Novello gebraucht hier in der Tat das Wort 'associations'. An anderer Stelle erzählt Constanze sogar ungefragt, daß Mozart in München (wo er den Idomeneo auraufführte) sehr glücklich gewesen sei; vielleicht sei dies der Grund gewesen, daß er den Idomeneo so geschätzt habe." (S. 79)
12. Idomeneo CD II Quartetto "Andrò ramingo e solo" Tr. 13 ab 4:51 bis 5:59
"Demnach wissen wir;," (so fährt Hildesheimer fort,) "daß Idomeneo im Leben Mozarts einen besonderen Platz einnimmt, und dies vielleicht noch nicht einmal aufgrund der absoluten Qualität, sondern der Assoziationen mit seiner Entstehungszeit. Daß ihm daher jede Beschäftigung mit dem Werk Einzelheiten dieser Entstehung vor Augen führen mußte, ist selbstverständlich. Es liegt nahe, anzunehmen, daß der Tränenausbruch beim Singen zweieinhalb Jahre später durch schmerzliche Erinnerungen an jene glückliche Periode ausgelöst wurde, der das Werk entstammt."
Und dann kommt Hildesheimer zu interessanten psychologischen Einsichten:
"Reines ungetrübtes Glück ist in jedem Leben selten. Kaum einer erfährt es bewußt; feststellbar bleibt es vor allem in der Retrospektion, als ein Moment des 'damals'. Im Leben des genial Überbegabten - (...) - kommt es nicht vor. Sein unbewußter aber omnipräsenter Wille zur Selbstverwirklichung kollidiert mit dem Treiben seiner Mitwelt. Er paßt sich nicht an und ordnet sich höchstens scheinbar ein. Sofern er nicht arbeitet, arbeitet es in ihm. Er mag sich durch den artifiziellen Glücksrausch zeitweilig betäuben, aber dieser befriedigt nur seine vegetative Seite; das Ziel seines Geistes, nämlich künstlerische Erfüllung, und damit Erlösung aus allem Streben, läßt sich nur in kurzen Momenten aus seinem Bewußtsein verdrängen. Es liegt im Wesen des kreativen Genies, daß es subjektiv diese Erfüllung nie erreicht. Darin war Mozart keine Ausnahme."
All dies sind Wolfgang Hildesheimers Worte. Und er kommt von Mozart auf uns alle als Musikhörer:
"Musik als die einzige der Künste, die primär kein Objekt hat, die also jeder nach seiner eigenen seelischen Veranlagung empfinden und deuten kann, ist daher diejenige Kunst, die den wunderbarsten Rausch, den seligen Schauer am unmittelbarsten herbeiführen kann. Im Idealfall, also bei Mozart, ist sie von einer Suggestionskraft, die uns jene sublime Erfüllung vortäuscht, wie sie sich uns im Leben entzieht. Sie löst eine Katharsis aus, aus der geläutert und erneuert hervorzugehen wir uns wünschen, während wir bereits wissen, daß wir nach dem Ende der Musik - wenn nicht gar nach dem Verstreichen der sogenannten 'schönen Stelle' - wieder die alten sein werden. Dieses Erleben löst, wie man weiß, bei manchem Hörer Tränen aus. Denn niemals kann die sinnliche Hör-Erfahrung als die Erfahrung reinen Glücks auf uns kommen: unser Verstand bleibt eingeschaltet und löst jenes Interpretationsgeschehen aus, das nicht nur dem Objekt - also der Musik - gilt, sondern auch dem Subjekt - also uns selbst und unserem eigenen Erleben dieser scheinbaren Metamorphose, die uns jedoch wieder der Wirklichkeit zuführt und uns mit der Empfindung eines schmerzlichen Verlustes zurückläßt." (S. 80 f)
"Soffrir più non si può."
Zu schwer ist dieses Leid. Größere Pein litt niemand.
Niemand.
Nissun ... nissun.
13. Idomeneo CD II Quartetto "Andrò ramingo e solo" Tr. 13 ab 5:59 bis 8:16
Hildesheimer spricht also von entschwundenem Glück.
"Ich glaube nämlich," (so sagt er,) "daß Mozarts vier Münchener Monate die relativ glücklichste Zeit seines Lebens waren, zeitweise genährt von der Hoffnung, hier immer bleiben zu dürfen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sein eigener Herr..." (S. 83)
"Von der Münchener Zeit an beginnt - (...) - ein Leben der Bindungen und der daraus sich ergebenden Verstrickungen, zunächst nur latent, aber allzubald bis zum Gehetztsein akut. Sie haben ihn veranlaßt, eine Art Doppelleben zu führen, geteilt in alltägliche Mühsal und Freiwerden bei der Arbeit, die allmählich Fluchtcharakter annahm. (...)
Gewiß, als er 1783 mit Constanze und zwei anderen das Quartett sang, wußte er das noch nicht. Doch einen endgültigen Verlust hatte er erahnt, als er München verließ. Die wehmütige Einsicht des 'nevermore', also die Bewußtmachung des Unwiederbringlichen, ist ein machtvolles Agens der Seele, das sich alsbald festsetzt und sie kontrapunktisch zu beherrschen beginnt. (...)
Wahrscheinlich hat Mozart ein wirkliches Glück nicht gekannt, doch ebenso wahrscheinlich hat er darüber niemals nachgedacht. Das Mißliche, Nichtsversprechende schob er meist von sich, auch das wissen wir aus seinen Briefen. Aber es hat Momente gegeben, in denen es als eine jähe Eruption aus seinem Unbewußten hervorbrach, und das Quartettsingen in Salzburg war ein solcher Moment, dieses Unsagbare unmittelbar zu erleben, ohne sich darüber klar zu sein. Schließlich war es ihm an seinem Ende noch nicht einmal vergönnt, sich letzte Klarheit darüber zu verschaffen, wer er in Wirklichkeit gewesen war." (S.85-86)
Mit diesen Worten endet Wolfgang Hildesheimer Essay "Warum weinte Mozart?" Wunderbare Gedanken, auch wenn die heutige Forschung vielleicht anderer Meinung ist und selbst wir zögern: wem ist es schon vergönnt, sich letzte Klarheit darüber zu verschaffen, wer man in Wirklichkeit ist oder gar - gewesen war.
Wir hätten aber vielleicht allen Grund, bei den Worten "Andrò ramingo e solo" - Ich geh ins tiefste Elend - mit Mozart in Tränen auszubrechen, zumal seine Musik soviel mehr vom verlorenen Glück als vom bevorstehenden Elend weiß.
14. Idomeneo CD II Quartetto "Andrò ramingo e solo" Tr. 13 ab 2:42 bis 8:16
Werner Hollweg, Trudeliese Schmitt, Rachel Yakar, Felicity Palmer
Mozartorchester des Opernhauses Zürich Leitung: Nikolaus Harnoncourt
Teldec 2292-42600-2 ZB (LC 3706)
Wolfgang Amadeus Mozart: Idomeneo, III. Akt, 3. Szene.
Wir haben uns hier nicht mit der Situation innerhalb des Dramas beschäftigt, es ist vor allem ein Abschied schlechthin.
Allerdings sind zwiespältige Empfindungen hineingemischt, Abschiede sind häufig zwiespältig, und eine Person dieser Runde singt "für sich" nur einen Satz - "Wann wird die Rache mein?" Wie im Alltag, wenn sich in den Abschied hier und da das Vorgefühl mischt: "Endlich wieder allein."
Oder nehmen wir doch die noch zwiespältigere Abschiedsrunde in Così fan tutte, in der die Musik allerdings den Zwiespalt vollkommen ausblendet.
15. Così fan tutte (Mozart) CD 1 Tr. 11 Di scrivermi ogni giorno 2:57
Veronique Gens, Bernarda Fink, Werner Güra, Marcel Boone Concerto Köln Leitung: René Jacobs harmonia mundi HMC 951663.65 (LC 7045)
Man nimmt es kaum wahr, dass der Ränkeschmied Don Alfonso den Satz singt: "Ich platze, wenn ich nicht lache".
Und wenig später schauen die nichtsahnenden beiden Frauen gemeinsam mit ihm ihren abreisenden Verlobten nach, die übers Meer entschwinden, um heimlich wiederzukehren und die Liebsten böse aufs Glatteis zu führen.
Und doch: Eine Szene unerhörten Glücks, vollkommener Erfüllung, obwohl sie nur einer trügerischen Hoffnung Ausdruck gibt:
"Sanft sei der Wind, ruhig sei die Welle, und jedes Element erfülle gütig unsere Wünsche."
16. Così fan tutte (Mozart) CD 1 Tr. 12 Soave sia il vento 3:34
Veronique Gens, Bernarda Fink, Pietro Spagnoli Concerto Köln Leitung: René Jacobs harmonia mundi HMC 951663.65 (LC 7045)
Und dann gibt es die Abschiede, die man ganz allein durchlebt: etwa im Klarinettenkonzert oder im Klavierkonzert KV 488, und die ganze Welt - das Orchester - hat vollkommen die Farbe der empfindenden Seele.
17) Mozart: Klarinettenkonzert KV 622 Tr. 5 ab 1:00 bis 2:06
Ulf Rodenhäuser, Berliner Kammer-Akademie, Thomas Wilbrandt / Victor VDC-1331

18) Mozart: Klavierkonzert KV 488 Tr. 5 ab 4:24 bis 6:20 (Ende)
Linda Nicholson, Cappella Coloniensis, Nicholas Kraemer / Capriccio 10 804/2 (LC 8748)
So viele Abschiede. Aber vergessen Sie nicht - in beiden Fällen wartet noch ein hinreißendes Finale. Das Gesetz der klassischen Musik. Da will ich nicht zögern, mich zu verabschieden.

Ich bedanke mich bei unserm Japan-Fachmann Heinz-Dieter Reese für seine Aufklärung in Sachen Nô-Theater. Ich hoffe, die flapsige Titelfrage: "Wozu das ganze japanische Theater?" ist beantwortet: Damit wir es gründlich reflektieren!!!

Bühne Radio, 12. Februar, 20.05 bis 23.00 Uhr mit Heinz-Dieter Reese.
Für eine zuverlässige Technik dieser Musikpassagen sorgte Timo Becker.
Für Nachfragen, Lob, Kritik, Literaturhinweise steht wie immer das freundliche Hörer-Telefon bereit: 0180 - 5678 333. Auch eine Musikliste liegt vor, besonders erwähnenswert die Mozart-Aufnahmen unter Nikolaus Harnoncourt und René Jacobs.
Die Redaktion dieser Sendung hatte Bernd Hoffmann.

Am Mikrofon verabschiedet sich Jan Reichow, und zwar - Sie ahnen es - nicht mit einem Abschiedslied. Sofia Sandén versichert uns:
"Draußen in der Welt habe ich einen Freund" - tja, den gönne ich ihr von Herzen, sogar einen japanischen Schauspieler, wenn sie will ...
19. Sofia Sandén CD Courage Tr. 10 En älskelig vän (trad.) 2:00
Westpark Music 87124 CD Courage
20. Nô-Schauspieler aus Beispiel 4.    1:00
Ausf.: Musiker des Ensembles Umewaka Kennôkai
aus: WDR-Archivnummer 5118 847 1 (28.10.05)
21. Sofia Sandén CD Courage Tr. 10 En älskelig vän (trad.) 2:00
Westpark Music 87124 CD Courage

© Dr. Jan Reichow 2006



© Dr. Jan Reichow 2006Sie befinden sich hier:
Jan Reichow < Startseite < Texte < für das Radio < Musikpassagen: Traum, Kunst und Wirklichkeit