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SWR 2 Beitrag in Musik aktuell
Buchbesprechung

Christoph Drösse
Hast du Töne?
- Warum wir alle musikalisch sind

Produktion 16.09.2009 WDR Köln
Sendung 23. Oktober 2009 15:05 bis 16:00 Uhr
Skript der Sendung / Moderation: Jan Reichow
Redaktion: Burkhard Egdorf


Um es gleich zu sagen: Dieses Buch kann man vorbehaltlos jedem empfehlen, der sich für Musik interessiert. Ein ideales Geschenk, mit dem man niemanden, der eine gute Tageszeitung lesen kann, überfordert, aber auch niemanden unterfordert, - nicht einmal einen Musikpädagogen der alten Schule.
Offenbar ist es aber so gemeint, dass in erster Linie junge Leute angesprochen sein sollen bzw. solche, die sich zur Pop-Generation zählen, ja, es ist durchweg ein populärer Schreibstil angestrebt, den man vom Verfasser der Rubrik "Stimmt's?" in der Wochenzeitung "DIE ZEIT" kennt. Er spart nicht mit Beispielen aus dem eigenen Leben, das Wort "ich" erscheint relativ häufig, auf die Gefahr hin, dass auch etwas Handgewebtes, Hausbackenes zum Vorschein kommt. Es mag die allzu Schüchternen ermutigen.

Wunderbar, dass man Musikbeispiele über eine Internet-Adresse anklicken und abspielen kann, was allerdings - soweit ich das von meinem Gerät her verallgemeinern kann - nicht immer problemlos gelingt. Und wenn es denn läuft, meldet sich angesichts der Klänge durchaus hier und da Widerspruch.

Z.B. mag man sich Mühe geben, die Intervalle einer Tonleiter relativ zum Grundton nach Konsonanz oder Dissonanz zu beurteilen: Womöglich hört man aber von A bis Z nur Dissonanzen, selbst bei der doch offensichlich konsonant gemeinten Quinte, einfach weil da eine nicht unbedingt akzeptable Vorentscheidung getroffen wurde betreffend Temperierung.
Um so mehr überrascht das Kapitel "Andere Länder, andere Skalen", indem das Problem der uns fremden Tonsysteme Indiens oder Indonesiens durchaus adäquat angedeutet wird. Erstaunlich, da der Verfasser z.B. Schwierigkeiten mit dem Stimm-Ideal unserer klassischen Musik hat und zur Vermutung Anlass sieht, dass die ausgefeilte Gesangstechnik der Opernsänger "mit einem technischen Handicap vergangener Zeiten zu tun" hat, als man sich - wegen fehlender Verstärkung - noch gegen ein ganzes Orchester durchsetzen musste. (S.136)

Andererseits gibt es soviel anregende und didaktisch hervorragend aufbereitete Fakten, dass man die kleinen Irrtümer des musikalischen Laien schnell ad acta legen kann: Im Zusammenhang mit dem Stichwort "Vogelmusik" lässt er sich von dem zweifelhaften Statement, dass "Der Zaunkönig ... sich ziemlich genau an die zwölftönige Skala" halte, zu der Folgerung verführen (Zitat): "Ein Zaunkönig mag im Lauf seines Lebens Tausende von Liedern erfinden" - tausendmal nein, das tut er nicht: er bleibt immer bei demselben, anders als die Schwarzdrossel; leicht zu erkennen, wenn man ihm nur mal genau zuhört. Mit einer zwölftönigen Skala hat er ebensowenig zu tun wie Amsel, Drossel, Fink und Star.
Und Mozart war es übrigens nicht, der das immer mal wieder gern zitierte "Musikalische Würfelspiel" entwickelt hat (S.216), man hat es ihm "sozusagen in die Handschuhe geschoben"; das wurde jedoch schon 1929 ans Licht gebracht und wäre heute ganz einfach nachzulesen im Lexikon MGG, Stichwort Würfelmusik.
Noch eins: wenn zweimal in Drössers Buch vom Dominantseptakkord die Rede ist, den der kleine Mozart nicht aufgelöst habe, um seinen kranken Vater zu necken, - nicht alles, was nach E-Musik klingt, muss Mozart sein. Manchmal ist es eben Bach, - in diesem Fall war's der kleine Philipp Emanuel, während der gute alte Sebastian, der bis dahin ruhig geschlafen hatte, aufschrak, zum Cembalo eilte, denselben Akkord anschlug und korrekt auflöste. (bezeugt durch Cramer, s. dtv Bach-Dokumente S.28).

A propos: diese unseligerweise immer wieder in Frage gestellte, aber selten genau differenzierte Grenze zwischen E-Musik und U-Musik!

Ich zitiere: "die Trennung zwischen Unterhaltungsmusik und ernster Musik, sie existiert in Deutschland tatsächlich noch in vielen Köpfen", sagt Drösser. Und weiter: "Die Musikhochschulen werden noch immer von den Klassikern dominiert." (S.10) Jammerschade, nicht wahr? Sagen wir einmal so: wer sich mit Klassik schwerer tut, findet in diesem Buch emotionalen Rückhalt, sollte aber deshalb noch lange nicht die Klassik kleinreden, sondern ganz beherzt die allenthalben zweifellos vorhandenen Verständnisgrenzen überschreiten.

Und genau diese sind es, die mich in dem kenntnisreichen Buch stören:
Da ist trendgerecht von der "Suche nach dem universellen Chill" die Rede, von der "Biologie der Erwartung", vom "grammatischen Gehirn" vom "Soundtrack des Lebens", vom "Mozart-Effekt", von den entscheidenden 10000 Stunden des Übens, ohne die in der Musik nichts Großes läuft, zahllose glänzend erläuterte und belegte Fakten der musikalischen Wahrnehmung. Ja, am Ende glaubt man es wirklich, dass wir alle musikalisch sind, und man freut sich.
Aber wenn jemand wissen wollte, was die Schönheit eines Klavierstücks von Robert Schumann ausmacht, so wäre er arm dran. Dergleichen liegt völlig außerhalb des Horizontes. Wer als Chill-Faktor bei Bach nur den "Barrabam"-Schrei der Matthäus-Passion kennt, steht wirklich hinter einer fast schalldichten Grenze.

In der Musik läuft man leider Gefahr, die Notwendigkeiten der physikalischen Übermittlung und die Kenntnis der melodisch-harmonischen Grammatik für entscheidend zu halten, zumal man sie ja auch wirklich erlernen sollte - was übrigens auch für fast jedermann jederzeit möglich ist. Jedoch: all dies ist nur sehr, sehr wichtig, aber längst noch nicht das Wesentliche.
Es ist in manchem ähnlich wie in der Lyrik. Die deutsche Grammatik kennen wir, zumindest intuitiv, wir wenden sie täglich an, --- und dann verschwindet die ganze Grammatik vollständig hinter zwei, drei Gedichtzeilen, die ins Herz treffen. Nein, keinen "Chill" auslösen, sondern - was?
Ja, darüber hätte ich noch gern etwas erfahren: über einzigartige Musik - für die es sich lohnt, musikalisch zu sein. Keine Beschreibung, keine Analyse, vielleicht nur einen einzigen Hinweis, dass es da auch noch etwas ganz anderes gibt. Jenseits der Grenze.
Ansonsten - ein Buch, das man guten Gewissens empfehlen kann.
Falls Sie auch noch ins Internet schauen wollen: Hast-du-Toene.net
- Toene mit oe, net mit einem t.
Also: Hast minus du minus Toene dot net.

  • Christoph Drösser
    Hast du Töne? Warum wir alle musikalisch sind
    Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2009
    ISBN 978 3 498 01328 8
    www.hast-du-toene.net




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