Sie befinden sich hier:
Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Jazz Vorgeschichte (Hendler) - SWR 2 Buchbesprechung

SWR2 Extra Die Macht der Musik
SWR2 Forum Buch / mit Wolfram Wessels
darin: Buchbesprechung (7:00) Vorgeschichte des Jazz
Vom Aufbruch der Portugiesen zu Jelly Roll Morton (Maximilian Hendler)
Sendung 21.12. 2008, 17.05 bis 18.00 Uhr
Skript des Beitrags / Moderation: Jan Reichow
Redaktion: Dr. Lotte Thaler ("Musik aktuell")


Das Buch kommt aus Graz, der lieblichen Stadt in der Steiermark, es stammt von einem sehr vorsichtigen und peniblen Wissenschaftler, und es müsste einschlagen wir eine Bombe. Jawohl, sofern wir die Vorgeschichte des Jazz für wirklich bedeutsam hielten, - da waren halt die schwarzen Sklaven, die ihr Los beklagten, indem sie Gesänge ihrer afrikanischen Heimat anstimmten, später nannte man es Blues, oder auch Negro Spiritual.

Alles falsch, obwohl es immer wieder auch von Jazzforschern so angedeutet wurde, - die schwarzen Wurzeln der afroamerikanischen Musik! Der Gedankengang ist einfach: Da die Schwarzen aus Afrika kommen, muss auch die afroamerikanische Musik zweifelsfrei mit Afrika zu tun haben. Fremd genug war doch das Ausdrucksgebaren der schwarzen Musiker wahrhaftig, - und was derart fremd ist, muss von weither kommen.
Eins hatte man jedoch übersehen: Die Musik in Schwarzafrika war vor allem eine Musik der Gemeinschaft, man machte Musik zu religiösen und sozialen Anlässen; "ein Privatleben im heutigen europäischen Sinn nahm bei den Afrikanern einen verschwindend geringen Teil ein", ebenso die bloße Unterhaltungsmusik.

In dem Augenblick, in dem die Strukturen der Gemeinschaft zerrissen werden, entfallen alle unmittelbaren Anlässe und Anreize für Musik. (S.63) Die millionenfache Entführung, die Sklaverei, "zerstörte alle diese Strukturen, und sie zerstörte sie selbst dort, wo die Angehörigen einer Ethnie [miteinander] in Kontakt blieben, was ohnedies eine seltene Ausnahme war. Die Gemeinwesen der Afrikaner in Amerika waren allesamt von Zufällen bestimmt", alle bisherigen Anlässe, Musik zu machen, waren eliminiert. "Die Trommelverbote, welche die weißen Herrschaften gelegentlich aussprachen, fallen demgegenüber nicht ins Gewicht."

"Da der alten afrikanischen Musik der Boden entzogen war, kamen die Sklaven zwangsläufig in den Einflußbereich der Musik ihrer weißen Herren. Dabei ist weniger an die Plantagensklaven zu denken" (...) als an die "Hausklaven, welche die Zeugen der Feste ihrer Herren wurden. Hier wurde der Keim für jene Musikformen gelegt, die seit dem 19. Jahrhundert Europa mit einem exotischen Flair versorgten und aus denen (dann) im 20. Jahrhundert der Jazz erwuchs, sagt Maximilian Hendler. Das 'Afrikanische' " an diesen Musikstilen ist allenfalls das Temperament, mit dem sie von den Afroamerikanern gespielt wurden. Und die von romantischen Träumen und wechselnden Moden bewegten Weißen empfanden diese Spielweisen "als etwas so unerhört Neues, daß sie keinen anderen Gedanken mehr fassen konnten als 'Africa!'" (S.64)
An die eigene, "weiße" Musik von ehedem hatten sie keinerlei Erinnerung mehr, zumal es sich um nichtnotierte Volksmusik oder auch um religiöse Musikpraktiken handelte, die sich im Laufe der Zeit von Grund auf wandelten. Nicht so bei den mehr traditionsbezogenen Schwarzen, dort spielte das einmal Erlernte weiterhin eine große Rolle, es hatte Prestige und bot Identität, es veränderte sich viel langsamer und zwar auf eigenen, unterprivilegierten, untergründigen, "schwarzen" Wegen.

Schwarz?
Wenn man diese Wege tatsächlich so präzise zurückverfolgt wie Maximilian Hendler, so kann es passieren, dass in der Struktur des Ragtime die französische Quadrille zum Vorschein kommt, im Gospelgesang die Hymnenbücher der protestantischen Fundamentalisten, im ekstatischen "Sermonizing" der Schwarzen die theatralischen und ekstatischen Bußpredigten der weißen Erweckungsbewegung, des "Great Awakening".

Man kann "die Bedeutung der irisch-schottischen Basis für die Entstehung der im engeren Sinn US-amerikanischen Musiktraditionen" gar nicht hoch genug einschätzen, und die Europäer bzw. Euroamerikaner sind vor allem für die "Isometrie", sagen wir: für den gleichmäßigen Schritt, die Viererzählung des Rhythmus verantwortlich.
Aber um es wenigstens einmal deutlich zusagen: diese Fragen haben nichts mit latent-rassistischen Vorurteilen zu tun, - hier wird den Schwarzen nichts abgesprochen, was ihnen gehört, ihr praktischer Riesenbeitrag zur Jazzgeschichte ist unbestritten, - es geht um pure Wissenschaft, um die Beseitigung von dumpfen Mutmaßungen, um die Aufdeckung von realen Machtverhältnissen.
Vom eigenen Temperament, von der eigenen Psychologie der Schwarzen kann gerade aus diesen Gründen nicht gesprochen werden, - es gibt keine Dokumente.

Nur einen Faktor gibt es, in dem sich unmissverständlich eine nicht-weiße Tendenz offenbart, ein Faszinosum, das oft genug mystifiziert worden ist: der Swing, die elegante Vorwegnahme von Zählzeiten, die dem Tänzer sozusagen ein Luftkissen unter die Füße legt, technisch gesprochen: das Off-Setting, das wohl zu allererst in schwarzen Ensembles aufgetaucht ist, beim Ragtime. Bemerkenswert, wie er von weißen Bandleadern aufgefasst wurde: als "Marsch mit übertriebenen Synkopen" (S.242). Ich gestehe: dieses Kapitel habe ich mindestens 4 Mal - nicht gelesen, sondern Wort für Wort studiert: "Von den Claves zum Beat", hier zwei Sätze daraus: "Offsetting-Tendenzen, die offenbar überall dort entstehen, wo taktfundierte Rhythmik 'westlicher' Prägung in schwarze Hände gerät." (S.241) Und: "Es ist zu vermuten, daß das Offsetting der letzte Rest ist, auf den sich die afrikanische Neigung zur Polyrhythmik im nordamerikanischen Milieu zurückgezogen hat." (S.242)

Dies bedeutet nicht, dass es nun auch möglich sei, die Entstehung eines solchen Rhythmusverhaltens unmittelbar mit afrikanischer Traditionsmusik in Verbindung zu setzen: denn es ist eindeutig "ein Produkt der Auseinandersetzung mit europäischer Melodik und europäischen Tanzrhythmen."
Bedenklich allerdings, was aus diesem wunderbaren Produkt geworden ist: der Beat der Beatles und Rolling Stones hat den Swing bereits vergessen. Und der Jazz? Zumindest im zeitgenössischen Jazz sucht man den Swing weitgehend vergebens, ja, selbst der Begriff Jazz könnte schon bald nichts mehr taugen. (s.S.245)

Ich habe an dieser Stelle noch nicht die erhellenden Exkurse erwähnt, die Maximilian Hendler in die Musik Lateinamerikas, der Karibik, der Bahamas, der Antillen, Madagaskars, Indonesiens und in die Klezmermusik unternimmt.
Im Schlusskapitel "Was spielten die 'ersten' Jazzmusiker?" hält er noch eine besondere Überraschung bereit:
Sie spielten neben Scott Joplin und anderen Ragtimekomponisten jede Menge Tagesschlager, - dazu etwa die Humoreske von Dvorak, Franz von Suppés Ouvertüre zu "Dichter und Bauer" oder Flotows "Martha".
Musik aktuell - USA, um 1900.


Cover Vorgeschichte des Jazz (Hendler)


Maximilian Hendler: Vorgeschichte des Jazz Vom Aufbruch der Portugiesen zu Jelly Roll Morton
Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz 2008
ISBN 978-3201-01900-2
333 Seiten

Herausgeber:
Institut für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst
in Graz und Internationale Gesellschaft für Jazzforschung (IGJ),
beide Leonhardstraße 15, A-8010 Graz, Austria




© Dr. Jan Reichow 2009Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < fürs Radio <
Jazz Vorgeschichte (Hendler) - SWR 2 Buchbesprechung