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SWR 2 Thema Musik
"Die größten Musiker, die unseren Planeten bewohnen..."
Olivier Messiaen deutet Vogelstimmen
12. Juli 2007, 15:05 bis 16:00 Uhr
Eine Sendung von Jan Reichow
Redaktion: Rainer Peters
Sprecher (Messiaen): Klaus Barner (KB),
Sprecherin (aller anderen Zitate): Eva Garg (EG)
Moderation: Jan Reichow (JR)




Am Ende dieses Skriptes folgt der ursprüngliche Pressetext
sowie einiges Material zur musikalischen Problematik des Vogelgesangs, das aus Zeitgründen in der Sendung nicht berücksichtigt werden konnte.


(JR) 3. April 1959. Olivier Messiaen erinnert sich:

(KB) "In meinen düsteren Stunden, wenn ich mir plötzlich meiner eigenen Nutzlosigkeit bewusst wurde, wenn mir jedes musikalische Idiom - klassisch, orientalisch, alt, modern und ultramodern - nur noch als ein bewundernswertes, mühseliges Experimentieren erschien, ohne jede letzte Legitimation (justification), was blieb mir übrig als dies: das wahre, verlorene Gesicht der Musik irgendwo draußen zu suchen, in den Wäldern, in den Feldern, in den Bergen oder an der Küste, unter den Vögeln."
(3. April 1959 zit. nach Johnson S.117, Übers. JR)

(JR) Mit diesen Worten schaut der französische Komponist zurück auf die Zeit, in der er allmählich begriffen hatte, dass nicht Debussy oder Strawinsky, sondern die dynamischen Äußerungen der Natur, allen voran die Vogelstimmen, ihm den Inbegriff von Musik offenbaren würden.

Was nicht hinderte, dass eine Vogelstimme zuweilen wie Debussy klingen konnte. Dies ist Messiaens "Rotkehlchen":

1) Rouge-gorge aus "Le Loriot" CD I Tr. 8 ab 0:54 0:06
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 1er Livre II. "Le Loriot"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537

...und dies ist der Beginn von Debussys Prélude "Voiles":

2) Debussy "Préludes" CD 1 Tr. 2 ab 0:02 0:08
Claude Debussy: Préludes pour piano / Premier Livre II. (...Voiles)
Evgeni Koroliov, Piano
TACET 131 LC 07033


(KB) "In der künstlerischen Hierarchie sind die Vögel wahrscheinlich die größten Musiker, die unseren Planeten bewohnen",
(JR) sagte Messiaen in den Gesprächen mit Claude Samuel, die 1967 veröffentlicht wurden.
Wie muss es die Darmstädter Avantgarde der 50er Jahre verdrossen haben, dass ein prägender Kopf der Moderne, Lehrer von Boulez und Stockhausen, zum bekennenden Ornithologen geworden war.
"Ihm fällt nichts mehr ein", soll Karl Heinrich Wörner gesagt haben, der mit der Szene vertraut war (laut Blarr Musik-Konzepte S.108).
3) Zilpzalp (original), VST CD 14 Tr. 65 ab 2:06 0:28
Die Vogelstimmen Europas, Nordafrikas und Vorderasiens (Andreas Schulze)
Edition AMPLE 17 CDs 329.490 LC 07125 / ISBN 3-935329-49-0

überblendet mit folgendem:

4) Pouillot véloce (Zilpzalp) aus "Le Loriot" CD I Tr.8 ab 5:10 0:23
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 1er Livre II. "Le Loriot"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537

(JR) Schon mit anderen hatte man sich schwer getan, die aber ließen sich letztlich - so zum Beispiel bei Adorno - als "exterritorial" (Philosophie der Neuen Musik) behandeln: Bartók mit seinem Volksmusik-Spleen, Janácek mit seiner monomanischen Untersuchung alltäglicher Sprechmelodien.
Messiaen aber - nach seinen radikalen Analysen zum "langage" der Rhythmen und melodischen Modi, mit seinen Multiplikations- und Divisionsreihen bzw. "nicht umkehrbaren Rhythmen", mit seinem Klavierstück "Mode de valeurs et d'intensités", das in den 50er Jahren zum Ausgangspunkt der seriellen Musik wurde, ihn konnte man nicht ignorieren, selbst wenn er mit klingenden Bekenntnissen zu Wiesenpiepern und Fliegenschnäppern daherkam.

5) Waldkonzert (Tilgner) Tr. 5 ab 9:37 bis 10:08, dann unter Text 0:31
The Sound of Nature: Waldkonzert / Hörbilder von Walter Tilgner "Sommer"
WERGO spectrum SM 9001-50 LC 0846
(KB) "Ich habe versucht, den Gesang eines Vogels, der typisch für eine Region ist, umgeben von benachbarten Vögeln seines Habitats, exakt zu kopieren... Ich bin persönlich sehr stolz auf die Genauigkeit meiner Arbeit; vielleicht irre ich mich, weil manche Leute, die wirklich vertraut mit Vogelstimmen sind, sie in meiner Musik nicht wiedererkennen... Offenbar bin ich es selbst, der [sie] hört und, ohne es zu wollen, etwas vom eigenen Stil hineinbringt, von meiner eigenen Art zu hören und die Vogelgesänge zu interpretieren."
(Claude Samuel, Entretiens avec Olivier Messiaen
(Pierre Belfond, 1967) Seite 111-112 (nach Johnson S. 117)
(JR) Heute kann man eine Vorstellung von der Genauigkeit eines scharfen Ohres bekommen, wenn man einen Vogelruf verlangsamt, und das ist inzwischen ja sogar möglich, ohne ihn dabei in tiefere Regionen zu transportieren. Hier ist ein Amselruf, wie ihn das analytische Ohr des ornithologisch motivierten Komponisten vielleicht zu hören versucht hat.

6) Amselruf allmählich verlangsamt 0:45
Studio Rheinklang, Köln

(JR) Allerdings hat es die reale Möglichkeit der analytischen Verlangsamung ohne Tonhöhenänderung zu Messiaens Zeiten noch nicht gegeben.
Seine Modifikationen beruhen auf den natürlichen Hörbedingungen:

(KB) "Der Vogel ... singt in extrem schnellen Tempi, die absolut unmöglich sind für unsere Instrumente; ich bin deshalb gezwungen den Gesang in ein langsameres Tempo zu übertragen. Zusätzlich ist diese Geschwindigkeit gebunden an eine extreme Schärfe, der Vogel vermag in außerordentlich hohen Registern zu singen, die für unsere Instrumente unerreichbar sind; ich transkribiere daher den Gesang, 1,2,3 oder sogar 4 Oktaven tiefer. Und das ist nicht alles: aus denselben Gründen bin ich gezwungen, die sehr kleinen Intervalle, die unsere Instrumente nicht spielen können, auszutauschen. Ich ersetze diese Intervalle der Größe von einem oder 2 Kommas durch den Halbton, aber ich respektiere die Skala der Werte zwischen den verschiedenen Intervallen; das heißt, wenn mehrere Kommas mit einem Halbton korrespondieren, dann wird der wirkliche Halbton korrespondieren mit einem Ganzton oder einer Terz."
(nach Johnson, Übers. JR)
(JR) Der Messiaen-Schüler und Komponist Robert Sherlaw Johnson sagt dazu:
(EG) "Es ist nicht überraschend, angesichts dieser Modifikationen, dass das Ohr eines Ornithologen, an den Vogelgesang gewöhnt und wahrscheinlich weniger musikalisch [geschult], nicht wiedererkennen kann, was ihm draußen im Gelände so vertraut ist. Genauigkeit ist nur relativ und obwohl es möglich ist, von Zeit zu Zeit Fehler in Messiaens Interpretation von Vogelgesang herauszupicken, ist ein Musiker doch in der Lage, viele davon auf ihre natürlichen Gegenstücke zu beziehen..."
(Johnson S. 117 f, Übers. JR )
(JR) Aber gerade unter Musikern sitzen die Zweifler, wie z.B. Clytus Gottwald:
(EG) "Die Fülle der Bilder, die er aufbietet, um das, was in seiner Musik sich zuträgt, synästhetisch zu verifizieren, leitet den Suchenden in einen Irrgarten. Bei Werken wie La Fauvette des Jardins [zu deutsch: die Gartengrasmücke] ist das Programm literarisch so ausgefeilt, daß es mit Sicherheit von der Musik ablenkt..."

[Einschub J.R.]
...wieso eigentlich 'ablenkt'? - könnte man entgegenhalten- lenkt es nicht auch ebenso wieder zurück? Die Musik hat gegenüber den Bildern den klaren Vorteil realer Anwesenheit, sie klingt! Und ist man von Musik nicht Vielschichtigkeit gewohnt? geht denn nicht mehreres auf einmal? Kann nicht eins das andere ergänzen und bereichern?
Wie ist es, wenn ich das Speer-Motiv in Wagners "Ring" identifiziere: lenkt es mich von der Musik ab? Gehört denn nicht das Benennen, oder auch nur das Identifizieren und Erkennen von Themen und Motiven zu den selbstverständlichsten Aufgaben des Hörens???
Kann man sich wirklich darüber beschweren, wie einst Clytus Gottwald, dass das Programm literarisch so ausgefeilt sei...,

(EG) "ja, ...daß es mit Sicherheit von der Musik ablenkt; man lauert letztlich auf die kleinen Vogelszenen, die das Drehbuch minuziös voraussagt: 'Aber die Sonne ist zurückgekehrt. Und da ist eine andere Stimme, herrlich vergoldet, reich und harmonisch: ein Pirol, der auf dem Durchzug ein paar Kirschen verspeist.' Ist es wirklich ein Pirol, der sich aus dem hämmernden Klavierklang herausschält, oder ist es eine ornithologische Fiktion, monochrom zerzaust wie ein staubiger Federbalg? (...) Da spielt ein Pianist eine halbe Stunde lang eine arabeskenreiche Musik und man glaubt, einen schönen Sommertag mit den Vögeln verbracht zu haben. Als Messiaen mir seinen (französischen) Text zu La Fauvette des Jardins (also: Gartengrasmücke) zuschickte, legte er eine französisch-deutsche Liste der Vogelnamen bei aus Sorge, die Namen könnten falsch übersetzt werden. Unerträglich mußte ihm der Gedanke sein, im Publikum könne ein Kenner sitzen, der den zitierten Gesang im Programmheft einem falschen Vogel zugewiesen fand." (...)
(Clytus Gottwald: Musik-Konzepte S. 79 f)

(JR) Es war aber wohl nicht dieser einzelne Kenner, der Messiaen interessierte: sondern allein die korrekte Umsetzung aller Angaben, die untrennbar zu seiner Komposition gehören, gleichrangig mit Tempohinweisen oder Charakterbezeichnungen.
Allerdings möchte ich behaupten: niemand, der - um hier nur irgendein Beispiel zu nehmen - diesen fröhlichen Schwätzer namens Gartengrasmücke je wirklich in der Natur erlebt und liebgewonnen hat, wird künftig auf dessen lebendige Assoziation beim Klaviersolo verzichten wollen.

7) Gartengrasmücke VST CD 13 Tr. 40 ab 0:00 bis 1:11 darin 8) 0:49
Die Vogelstimmen Europas, Nordafrikas und Vorderasiens (Andreas Schulze)
Edition AMPLE 17 CDs 329.490 LC 07125 / ISBN 3-935329-49-0
dann in folgende Aufnahme gemischt:
8) Fauvette des jardins aus "Loriot" ab 3:12 bis 3:27 0:15 Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 1er Livre II. "Le Loriot" Håkan Austbø, Piano NAXOS 8.553532-34 LC 5537

(JR) In seiner frühen Zeit schreibt Messiaen noch recht vage in die Partitur "comme un oiseau", also: "wie ein Vogel", so in dem "Quatuor pour la Fin du Temps", das er 1941 im deutschen Kriegsgefangenenlager schrieb. Erster Satz: Liturgie de cristal. Im Vorwort präzisiert er:

(KB) "Zwischen 3 und 4 Uhr morgens, das Erwachen der Vögel: eine Amsel oder eine Nachtigall improvisiert solo, umringt von sonoren Stäubchen, einem Lichthof von verlorenen Trillern hoch in den Bäumen. Transponiert auf die religiöse Ebene: ihr habt die harmonische Stille des Himmels."

(JR) Hören wir doch einfach die Klarinette als Amsel, die Violine als Nachtigall, das Cello engelgleich mit Himmelstönen aus Flageolet...
Oder sind wir mit dieser Vorbemerkung schon zu weit von der Musik abgerückt? Sollten wir besser sagen: Lassen Sie uns vier Instrumente hören. Instrumente mit abstrakten melodischen Figuren?
Keinesfalls eine Amsel in der Klarinette, eine Nachtigall in der Violine oder gar Himmelstöne, engelgleich, in den Flageolettönen des Cellos...
Und auch nicht die sanfte Bodenhaftung des Klaviers mit seinem rhythmischen Ostinato.

9) "Liturgie de Cristal" aus dem "Quatuor" CD 2 Tr. 3 1:36 (3:00)
Olivier Messiaen: Quatuor pour la fin du temps I Liturgie de Cristal
Erich Gruenberg; Violine; Gervase de Peyer, Klarinette ; William Pleeth, Cello ; Michel Béroff, Piano.
EMI Classics 7243 5 86525 2 9 LC 06646

Um die Aufmerksamkeit für reine Musik zu schärfen, kann einem doch jedes Mittel recht sein, nicht wahr? "Abîme des oiseaux" heißt ein anderer Satz desselben Werkes, "Abgrund der Vögel".

(Musik 10 beginnt)


(KB) "Der Abgrund, das ist die Zeit, mit ihren Traurigkeiten, ihren Müdigkeiten. Die Vögel, das ist das Gegenteil der Zeit; das ist unser Wunsch nach Licht, Sternen, Regenbögen und jubilierenden Vokalisen!"
(JR) - sagt Messiaen.
Eine traurige Klarinettenmelodie, aus der ein Lichtstrahl hervorbricht, "ensoleillé, comme un oiseau". im Sonnenlicht strahlend, wie ein Vogel.

10) "Abîme des oiseaux" CD II Tr. 5 hoch ab 1:50 0:58 Olivier Messiaen: Quatuor pour la fin du temps III Abîme des oiseaux Gervase de Peyer, Klarinette EMI Classics 7243 5 86525 2 9 LC 06646

Oder auch der aller Zeit enthobene Raum, der sechste Satz der Turangalila-Sinfonie, "Jardin du sommeil d'amour", in Messiaens surrealer Beschreibung:

(KB) "Die beiden Liebenden sind in den tiefen Schlaf der Liebe getaucht. (Musik beginnt) Eine Landschaft ist ihnen entströmt. Der Garten, der sie umgibt, heißt 'Tristan'; der Garten, der sie umgibt, heißt 'Isolde'. Dieser Garten ist voll von Licht und Schatten, von Pflanzen und neuen Blumen, von glänzend gefärbten, melodieseligen Vögeln. [...es sind Klavier-Vögel! J.R.] Die Zeit fließt weiter, vergessen, die Liebenden sind außerhalb der Zeit, lasst uns sie nicht wecken...">

11) Turangalila CD I Tr. 6 "Jardin du sommeil d'amour" (hoch bei 1:04) 2:13
Olivier Messiaen: Turangalîla-Symphonie VI Jardin du sommeil d'amour
Peter Donohoe, Piano; Tristan Murail, Ondes Martenot; City of Birmingham Symphony Orchestra, conducted by Sir Simon Rattle
EMI Classics 7243 5 86525 2 9 LC 06646
(JR) Aber die Vögel gehören nicht nur einer paradiesisch getönten Welt an; sie ist auch von wissenschaftlicher Klarheit. Es ist nicht nur die Stimme des Vogels, die Messiaen fasziniert und inspiriert: es ist das Federkleid, die Zusammensetzung der Farben, die Flugbahn, das Balzverhalten, die Vitalität, die Korrespondenz mit anderen Vögeln, die ganze Umgebung, das Habitat.
Vielleicht sind wir bereits allzu abgestumpft, all dies wichtig zu nehmen. Die Welt ist zu laut geworden, man hat festgestellt, dass unsere Vögel lauter singen als früher, was nicht unbedingt auch schöner heißt, und wir sind damit beschäftigt uns abzuschotten, falls wir nicht gerade selbst Lärm produzieren.
Mit größter Verwunderung hören wir von Singvögeln in unserer Nähe, die feinste Tongirlanden weben, mit einzeln hervorleuchtenden Perlentönen. Der Dompfaff, der nun merkwürdigerweise in Messiaens Catalogue überhaupt nicht vorkommt.
12) Gimpel VST CD 16 Tr. 88 ab 0:27 (0:15)
Die Vogelstimmen Europas, Nordafrikas und Vorderasiens (Andreas Schulze)
Edition AMPLE 17 CDs 329.490 LC 07125 / ISBN 3-935329-49-0

Das ist nicht weniger wunderbar als das, was der Flageoletzaunkönig im venezolanischen Amazonasgebiet hervorzaubert.

13) Flageoletzaunkönig (Cyphorinus arada) 0:40
Jean C. Roché Kassette "Die schönsten Vogelstimmen der Welt"
Kosmos Best. Nr. 3-440 05957 Stuttgart 1988
(Roché im Vorwort: "Meine Suche galt dem Vogelgesang mit jener geordneten musikalischen Perfektion, die ihn wie eine Komposition erscheinen lässt".)

(JR) Ganz zu schweigen von der seltsamsten Kunstflugübung mit "Handstandüberschlag" und Schnalzgeräusch, - so zur Balz veranstaltet vom Oropendula-Vogel im brasilianischen Urwald. Ein unglaubliches Ritual!

14) Montezuma Oropendula Tr. 6 ab 2:05 0:40
Douglas Quin: Oropendola - Music by and from Birds
Apollo Records ACD 049413.

(JR) Eine Art lebendes Uhrwerk. Aber wer möchte dem australischen Pied Butcher-Bird ein künstlerisches Reifezeugnis verweigern? Er liebt den reinen Dur-Dreiklang, aber er singt sein schönes Motiv nicht unverwandt, er pausiert und horcht, und dann platziert er sparsame Kontraste.

15) Australischer Singvogel aus "music from nature" Tr. 1 ab 0:24 0:57
Dawn Solo from Pied Butcherbirds of Spirey Creek aus: "Mutawinji"
Tall Poppies TP 091 (nach Terra Nova MIT Press CD David Rothenberg 1997)

(JR) Nach diesen tönenden Raritäten müssen wir den australischen Prachtleierschwanz nicht unbedingt persönlich kennen, um Messiaens Portrait zu verstehen, nicht wahr? Er nennt es "L'oiseau-lyre et la Ville-fiancée": "L'oiseau-lyre" ist der Leierschwanz, "La Ville-fiancée" ist die neue Stadt Jerusalem, "bereitet wie eine geschmückte Braut", gemäß Offenbarung des Johannes.

Messiaen beobachtete den realen Leierschwanz, so wird berichtet, 1988 in Australien: und zwar
(EG) "...in einem sonnenüberglänzten Wald riesiger Eukalyptus-
bäume... der Vogel richtet majestätisch seine Federn zu einer Leier auf, die doppelt so groß ist wie er selbst. Dieses Ritual beeindruckte ihn sehr und rief Gedanken an die Braut der Apokalypse wach, 'bereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Mann'."
(Peter Hill & Nigel Simeone,
zitiert nach Booklettext von Roger Nichols 2004)
(JR) Und so entstand der dritte Satz des 11sätzigen Orchesterwerks: "Eclairs sur l'Au-delá" - "Blitze über dem Jenseits", eins der letzten Werke von Olivier Messiaen.
16) "L'oiseau-lyre et la Ville-fiancée" CD Tr. 3 bis 2:01 (4:03)
Olivier Messiaen: Éclairs sur l'au-delá III L'Oiseau-Lyre et la Ville-Fiancée
Berliner Philharmoniker / Sir Simon Rattle
EMI Classics 7243 5 57788 2 6
(JR) Die ganze Farbigkeit solcher Bilder und Klänge auf ein Instrument wie das Klavier zu transponieren, - was für ein Unterfangen! Hat es nicht von allen Instrumenten die geringste Ähnlichkeit mit den geflöteten, gezogenen, glissierenden Lauten der Vögel?
Aber Messiaen interessiert sich ja nicht nur für die Melodieträger unter den Gefiederten, sondern ebenso für die, die nur kurzgefasster Rufe mächtig sind, wie Eulen oder Adler; und in jedem Fall spielt die Lebenswelt des Tieres eine entscheidende Rolle, der nächtliche Wald oder die Himmelsweite, und zwar durchaus nicht unbedingt aus der vermuteten tierischen Sicht, - Messiaen gibt sich keinerlei Mühe, den anthropomorphen, den vom menschlich präformierten Blick zu verschleiern:
17) Waldkauz (darüber:) VST CD 7/ 22 ab Anfang 1:10
Die Vogelstimmen Europas, Nordafrikas und Vorderasiens (Andreas Schulze)
Edition AMPLE 17 CDs 329.490 LC 07125 / ISBN 3-935329-49-0

(KB) "Der Waldkauz. (...) Ich habe ihn oft gehört, in tiefer Nacht (...): Dunkelheit, Angst, ein Herz, das zu schnell schlägt; bald schauerlich und schmerzerfüllt, bald vage und beunruhigend (mit einem fremdartigen Beben), bald im Entsetzen hervorgestoßen wie der Schrei eines ermordeten Kindes! Und Stille. Und Heulen von weither, wie eine Glocke aus der anderen Welt."


(Waldkauz wieder hoch)
(JR) Wie der Schrei eines ermordeten Kindes!
18) Schluss von CD 2 Tr. 1 La chouette hulotte ab 6:04 0:12
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 3 Livre VI. "La chouette hulotte"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537

(JR) Auch Messiaens Freund, der Ornithologe Jacques Delamain hört ihn so ähnlich:

(EG) "den urhaften und wilden Klang des großen Waldkauzes, der manchmal wie ein menschlicher Schmerzensschrei verlautet". (S. 22)

(JR) Die Nacht ... die Angst ..... der Waldkauz ......
Aber wie auch immer dieser Ruf auf phantasievolle Menschen wirkt, - der Waldkauz leidet in der Nacht wahrscheinlich ebensowenig unter Ängsten wie der krähende Hahn auf dem Mist. Er wird sich nicht viel anders fühlen als eine Schleiereule, die in einem ihr bekannten Terrain "nach Gehör fliegen und sogar im Stockfinsteren noch millimetergenau ihre Lieblingsbeute, Mäuse, packen" kann. ("Mythos Vogel" S. 64)
Und sie wird sich mindestens ebenso seinsmächtig fühlen wie - sagen wir - der Mäusebussard, den Messiaen natürlich nicht mit nächtlichen Ängsten in Verbindung bringt, sondern mit der wunderbaren, lichtdurchfluteten Weite des Raumes, in der wir ihn schweben sehen. Aber auch er hat nur Mäuse im Kopf. Und ich glaube trotzdem, dass man Messiaen mit dieser nüchternen Vogelpsychologie nicht beikommen kann. Hören Sie nur: seine Signatur...

19) So singen unsere Vögel Folge 5 Tr. 20 Mäusebussard 0'26"
CD Sonia 77213 (LC 8367)

Genau genommen hat er noch einen anderen Schrei oder Ruf im Repertoire:

20) Vogelstimmen-Trainer Tr. 72 "Mäusebussard" ab 0'01" bis 0'07"
Edition AMPLE AMP Europe 410.175 LC 07125
21) Catalogue/Austbø CD 3 Tr. 2 "La buse variable" ab 0'00" bis 0'12"
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 7 Livre XI "La buse variable"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537
dann - ab ca. 0:20 - unter Text 0:26

(JR) Er entfernt sich. Und nun zieht er seine weiten Kreise, die Umlaufbahn seines Fluges erfasst die gesamte Landschaft. Das ist wunderbar prägnant dargestellt in weit ausgreifenden Figuren des Klaviers. ("Kreisen" beginnt) Am Ende - nach einer langen Pause - der kraftvolle Schlag eines Buchfinks, der lockende Gesang der Goldammer, der Ruf der Misteldrossel, noch einmal Goldammer, noch einmal Misteldrossel, und dann - der Schrei des Bussards. Sie werden die Tiere leibhaftig zum entsprechenden Klaviermotiv hören. Doch zunächst die letzten Kreise des Bussardfluges...

22) Catalogue/Austbø CD 3 Tr. 2 "La buse variable"ab 2:10 0:45
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 7 Livre XI "La buse variable"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537
ab 2'40" drübergelegt:
Buchfink (50) Goldammer (26 ) Misteldrossel(18)
Goldammer (26 ) Misteldrossel(18) Bussard (72)
(Zahlen beziehen sich auf Tracks des Vogelstimmen-Trainers,
nur Misteldrossel auf "So singen unsere Vögel" Folge 1)
a) Vogelstimmen-Trainer 50, 26, 72
Edition AMPLE AMP Europe 410.175 LC 07125 ca. 0:35
b) So singen unsere Vögel Folge 5 Tr. 20 Mäusebussard
CD Sonia 77213 (LC 8367) ca. 0:10

(JR) Der Schrei des Mäusebussards! Im folgenden sind dann - neben der schon genannten Besetzung - auch noch Stieglitz und Rauchschwalben zu hören, Rabenkrähen greifen den Bussard an, aber letztlich, - so wandeln wir uns von Ornithologen zu Musikern -, ist vielleicht nur interessant, wie sich aus der Kombination dieser Rufe und der allmählich heftigeren Bewegung eine Komposition aufbaut, bis zum Ende, das auf den Anfang zurückgreift: ja, - ist es nun eine Coda, die an die Introduktion erinnert? Oder ist es der Bussard, der allmählich aufsteigt und weiter seine Kreise zieht?

23) Catalogue/Austbø CD 3 Tr. 2 "La buse variable"ab 6:39 2:00
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 7. Livre XI "La buse variable"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537
(unter folgenden Text blenden)

La buse variable - Der Mäusebussard von Olivier Messiaen, hier entschwindet er in weiten Kreisen unseren Blicken... (erst unter folgendem Text Musik weg)
Meine Damen und Herren, die einzelnen Stücke des Catalogue d'Oiseaux von Olivier Messiaen haben jeweils zwischen 7 bis 30 Minuten Länge, und das, was wir hier gehört haben, kann nur eine Ahnung von der Formvorstellung des französischen Ornitho-Manen vermitteln.
Bevor sich Messiaen an die Komposition des 13-teiligen Catalogue d'oiseaux begab, hatte er bereits die großen Orchesterwerke "Reveil des Oiseaux" (Erwachen der Vögel) 1953 und "Oiseaux exotiques" (Exotische Vögel) 1956 geschrieben, und deren erstes trägt drei Widmungen:
Zunächst ist es dem Andenken des Ornithologen Jacques Delamain gewidmet, der gerade in diesem Jahr verstorben war; ihm verdankt Messiaen die engagierte Einführung in die Ornithologie. Die zweite Widmung gilt der Pianistin und künftigen Ehefrau des Komponisten, Yvonne Loriod, für die ohnehin alle Klavier-Soli gedacht waren. Und die dritte Widmung gilt - so wörtlich -

(KB) "den Schwarzdrosseln, Amseln, Nachtigallen, Pirolen, Rotkehlchen, Grasmücken und allen Vögeln unserer Wälder".

Schon 1928, lange vor der Begegnung Messiaens mit Delamain, war dessen Buch "Pourquoi les oiseaux chantent" erschienen; es wurde schnell populär und musste bis heute immer wieder neu aufgelegt werden. Ins Deutsche übertragen wurde es von Karl Wolfskehl: "Warum die Vögel singen". (S. 25)

(EG) [Die Schönheit des Vogelgesangs,] wahrhaftig, diese Schönheit ist nichts Urgegebenes. Durch den Archäopterix, das geflügelte echsenschwänzige Fossil, Abkömmlinge der Saurier, bewahren die Vögel, welche in der Silurperiode aus dem Schlamm der Sumpflande hervorgekrochen, anfänglich das feste Land gewonnen, dann sich in die Lüfte erhoben haben, in ihrem Stimmton noch die Spuren vom Gequake der Altvordern. Selbst bei den größten Künstlern gibt es Augenblicke, wo der atavistische Makel wieder durchschlägt. Die Nachtigall unterbricht ihre schönsten Strophen durch ein "karr", es könnte der Schlaffkehle eines Batrachiers (Reptils) entsprungen sein. Bei der Amsel erscheint ein Sprung im köstlichen Metall, jener Gutturallaut am Schluß der geflöteten Phrase: bei der Drossel schleicht er sich als harte und herbe Tonfolge zwischen die reinsten Kadenzen ein. Der Spottvogel pflegt seinen Sang mit drei rauhen Tönen zu beginnen. Der Lerche schallende Kaskaden, das heimliche und süße Lied des Dompfaffen oder das silberhelle des Hänflings - für kurze Augenblicke haftet an ihnen allen die Marke des Minderwerts.
In jedem Frühling, Jahr um Jahr, plagt sich der Vogel, seine Weise von der altväterlichen Gangart zu säubern. Je größer der Virtuos, um so härter die Arbeit. Wochenlang hindurch heißt es die Kehle schmeidigen, und mit jedem Tag kommen die Töne ein wenig reiner heraus. Im Januar, an den milden Abenden vor Sonnenuntergang, übt die Amsel; um dieselbe Zeit läßt die Lerche während kürzerer Aufschwünge ein paar Liedbrocken fallen. Wenn das Schwarzplättchen oder die Nachtigall im März und April ins Nestland wiederkehren, dann sind sie Lehrlinge, die nach den Volltönen des verflossenen Jahres suchen. Singt das junge Männchen zum erstenmal, dann muß es sich erst an die väterliche Stimme rückerinnern, der es im letzten Sommer, noch tief ins Nest geduckt, gelauscht hat. Im Streben nach der Vollendung zeigt sich das Einzeltemperament, das individuelle Können. Bei aller scheinbaren Gleichform der Phrasen, der Kadenzen, der Klangfarbe innerhalb einer Art ist nichts so ausdrucksverschieden wie Vogelgesang. Neben mittelmäßigen Sängern offenbaren sich ganz große Solisten. Die Umwelt hat oft einen entwertenden Einfluß. Die in der Nachbarschaft der Sümpfe großgewordenen Amseln oder Schwarzplättchen mischen unter ihre gewohnten Töne die rauhen und zerhackten der Rohrspatzen.

Anderwärts gründen sich Heimstätten einer schönen und reinen Überlieferung. Unzählige Arten erheben sich in ihrem Liede kaum über den Schrei. Wohl mildert die Liebe ab Januar das Krächzen der Krähe und verleiht dem knarrenden Geschwätz der Elster einen trauten Klang. Unter ihrem Einflusse bekommen die herben Laute des Raubvogels einen neuen Unterton. Das Kreischen des Turmfalken bei seinen Schwebekreisen im Februar oder der Schleiereule in ihrem weißschimmernden Dämmerflug wird beinahe melodisch. Um die ansteigende Entwicklung des Gesangs vom primitiven Schrei ab zu erfassen, muß man die Reihe der Aufenthalte des Vogels durch die Zeitalter hin verfolgen, muß vom Weltmeer, der Wiege allen Lebens, zum Schlamme der Mündungen, zum Süßwassersee, dann zum Pflanzenwuchs der Ebenen, schließlich zur Waldung übergehen. (...) (S.27)
24) a) Wasser-Wald-Atmo mit Nachtigallen Tilgner MS Tr. 3 ab 2:28
Natural Sound Meistersinger / Hörbilder von Walter Tilgner / Nachtigall
Wergo SM 9010 2 LC 00846)
b) Provence-Rossignol (mit Eule) Roché Tr. 9 2:00
Jean C. Roché: Rossignols / A Nocturne of Nightingales / En lisière d'un bois, en Provence, en Juin
Sitelle Réf. 43608 (1991)
(EG) Um die Phalanx der eigentlichen Sänger aufzufinden, muß man sich zum Bachufer begeben, zur Wiese, die in sanfter Wellung zum Hügel steigt, zum Hag, der das Kornfeld umsäumt, zum Hochwald. Dort leben, lieben und singen die Sperlingsvögel: Finken mit kegelförmigem Schnabel und Körnerfresser, Lerchen und braune Pieper, schlanke Bachstelzen, Grasmücken und Drosseln, schlichtgewandet, doch stimmbegabt, und andere mehr, die letztgeborenen Stämme der großen Familie des Flügelvolks, sie, die meistentwickelten und höchstbegabten, haben sie doch nicht allein den schönsten Sang, sondern auch das schönste Nest. (...) (S. 29)
Tilgner-Nachtigallen a) überblenden !!! in Provence b) "Rossignols" Tr.9
(EG) Die Kunst der Musik entspringt der Befriedung, die ein Wesen erfährt, wenn es sein Leben tönend überträgt. Brummt die Goldfliege, so liebt sie das Gebraus ihrer Flügel; die Grille vergißt in ihres Schwirrens Verzückung den Feind, der sie belauert. Der Vogel genießt den Ton, den seine eigene Kehle bildet. Dringt er aber, nur er, bis hinan zur Kunst, so geschieht dies, weil ihm, dem mit Schönheitssinn begabten, verliehen ward, unter seinen Noten die hellsten, die reinsten oder die vollsten auszuwählen, sie einander zu verbinden, den Rhythmus herauszuholen, den Satz zu reihen, die Töne zu transponieren, zur reinen Musik also zu gelangen und dem Schrei den Gesang entspringen zu lassen. Und eben das Suchen nach der Schönheit ist's, was uns bei der Kunst des Vogels rührt. Wir verstehen und wir deuten sein ästhetisches Bemühn; das Lied der Lerche wird für uns zum Ausdruck herzhafter und heller Heiterkeit; in den Strophen der Nachtigall finden wir einen Klang von Inbrunst. (...) (S. 30)
(Rossignols Tr. 9 kurz hoch, dann deutlich bleiben unter folgendem:)

(JR) Sie hörten Passagen aus dem Buch: "Warum die Vögel singen" von Jacques Delamain, Messiaens ornithologischem Mentor und Freund, dessen Bildersprache zweifellos auch den Komponisten angeregt hat.

(KB) "Mitternacht: über allem liegt die Nacht, ehrfurchtgebietend wie der Schlag einer großen Trommel. Die Nachtigall hebt an mit ihren bald geheimnisvollen, bald klirrend hellen Strophen." (VII Le Rousserolle Effarvette) "Gegensatz zwischen dem schneidenden Tremolo der Nachtigall und der geheimnisvollen Himmelstimme." (VI L'Alouette Lulu)

(JR) Dem schneidenden Tremolo der Nachtigall - wenn man es mit Messiaen so nennen will - kontrapunktiert in unserm Fall nicht die Himmelsstimme der Heidelerche, die er gehört und gedeutet hat, sondern der eintönige, gleichsam die Zeit messende Ruf der Waldohreule. Eine Rarität aus der Provence.

(Rossignol Tr. 9 noch einmal hoch)

(JR) Die Nachtigall und die Eule.
Wer aber ist dies?

25) Catalogue/Austbø CD 2 Tr. 2 L'alouette-lulu ab 6'25" bis Ende (7'28")
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 3. Livre VI "L'alouette-lulu"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537

gemischt mit folgendem echtem Gesang auf den Akkorden

26) Heidelerche (original) Tr. 29 ab 0:19 0:40
So singen unsere Vögel Aufnahme: Hans A. Traber Folge 1
SONIA CD 77055 LC 8367)

(JR) Das ist die Heidelerche:

(KB) "Vom Pass des Grand Bois nach Saint-Sauveur en Rue, im Forez. Rechts von der Straße Pinienwälder, zur Linken Weideland. Hoch oben, unsichtbar, lässt die Heidelerche ihre Koloraturen erklingen: chromatische, flüssige Läufe. Aus dem Gebüsch einer Waldlichtung antwortet eine Nachtigall. Gegensatz zwischen dem schneidenden Tremolo der Nachtigall und der geheimnisvollen Himmelsstimme. Ohne sich zu zeigen, kommt die Lerche bald näher, bald entfernt sie sich wieder. Felder und Bäume liegen friedlich im Dunkel der Nacht. Es ist Mitternacht."
(Messiaen zit. nach Booklet Martin Zehn)

(JR) Noch ein Ausschnitt aus "L'alouette Lulu" - "Die Heidelerche". Über den vier Akkorden, die sich durch das ganze Stück ziehen, steht: "la nuit" - die Nacht. Sofort danach beginnt die Heidelerche mit ihren chromatischen, flüssigen Läufen, während die Nachtigall jeweils kurz und heftig antwortet.

27) Catalogue/Austbø CD 2 Tr. 2 "L'alouette-lulu" ab 3:54 2:00
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 3. Livre VI "L'alouette-lulu"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537

(JR) Wenn Olivier Messiaen die von Vogelgesang überglänzten Naturszenen verbal entwirft, so ist in seine Sprache wohl nicht nur die des väterlichen Freundes Delamain eingegangen, sondern auch die seiner Mutter , die als Autorin surrealer Gedichte bekannt wurde und ihren Sohn in einem Klima von Poesie und Märchen aufzog. Es sind geradezu Prosagedichte, die er seinen Kompositionen voranstellt: Höchst suggestiv, wie er z.B. vom fließenden, goldenen Gesang des Pirols spricht, der dem Lachen eines fremdländischen Prinzen gleicht, wie er Bilder eines unbekannten Planeten heraufbeschwört, - der vielleicht schon in der Tiefe unseres Gartens oder eines nahgelegenen Waldes beginnt.
Man muss nur lauschen können, - in aller Bescheidenheit, aber doch ebenso liebevoll wie Olivier Messiaen. Und auch, wenn das akustische Leben des Waldes dezenter anmutet als in diesem Waldstück am Neusiedler See.

28) CD Meistersinger Tr. 8 Pirol Golden Oriole 2'
Natural Sound Meistersinger / Hörbilder von Walter Tilgner / Pirol
Wergo SM 9010 2 LC 00846)
mit eingelegten Klavier-Pirol-Rufen (Messiaen)
(KB) "Les Maremberts (Loir et Cher) in der Mittagssonne. Der Pirol, der schöne goldgelbe Vogel mit den schwarzen Flügeln, pfeift in den Eichen. Sein fließender, goldener Gesang, wie das Lachen eines fremdländischen Prinzen, beschwört Bilder von Afrika und Asien oder von einem unbekannten Planeten herauf, umspannt von Regenbögen und durchflutet von Licht und vom geheimnisvollen Lächeln einer Mona Lisa. In den Gärten, in den Wäldern weitere Vögel:
die rasche energische Strophe des Zaunkönigs,
die schmeichelnde Liebkosung des Rotkehlchens,
das Brio der Amsel,
der Versrhythmus des Rotschwänzchens mit schwarzer Kehle,
die eindringlichen Wiederholungen der Singdrossel.
Unablässig verströmen die Gartengrasmücken ihre sanfte Virtuosität.
Der Zilpzalp stimmt mit seinen perlenden Wassertropfen ein. Verträumter Blick zurück, Anklänge an Gold und Regenbogen:
die Sonne erscheint wie der zu Gold gewordene Gesang des Pirols..."
(wieder hoch: alle Pirole wie 28 + Klavier-Einwürfe)

(JR) Nicht ganz so, wie es Messiaen erlebt hat: in seiner Landschaft war es ein Prinz, in unserer hat es von Pirolen gewimmelt.

Meine Damen und Herren, dergleichen in ein Klavierstück zu verwandeln, ist das nun Musik - oder Malerei? Sie erinnern sich an Beethovens Überschrift zum ersten Satz der Pastorale. Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei. Heutzutage könnte man fragen: warum ist es eigentlich besser, etwas zu empfinden als etwas zu malen? Natürlich: die Empfindung gilt als die Sache selbst, das Malen als Sache aus zweiter Hand. Aber so sicher ist das ja nicht: Auch das gemalte Mittagessen kann ästhetisch sehr befriedigend sein, und wenn ich allzu hungrig bin, hilft mir auch das schönste Konzert nicht weiter. Das Äußere und das Innere sieht man heute in einer anderen Relation als zu Beethovens Zeit. Auch der Geist ist Körper!

Nehmen wir eine sehr allgemeine Kategorie: die Vogelstimmen in Wald- und Garten bilden ein Zeichensystem, jede einzelne Stimme ist ein Zeichen, eine Signatur. Einige Vögel verwenden immer gleiche Signaturen, für sie selbst macht es vielleicht Unterschiede, ob sie sie von diesem oder von jenem Zweig schmettern, für uns weniger. Andere Vögel aber, bestimmte Singvögel z.B., sitzen still auf ihrem Zweig, verwandeln und entwickeln die erlernten Signaturen und schicken ihre eigenen Motivkombinationen weit in den Raum hinein.
Wenn ich nun vermute: auch die Musik besteht aus einem Zeichensystem; und es ist hilfreich, wenn ich es als solches wahrnehme. Was bedeutet es dann, wenn ich die Ähnlichkeit einzelner Signaturen oder Motive mit denen bestimmter Vögel assoziiere und die ganze Musik wie eine Landschaft betrachte? Vielleicht ist es notwendig, vielleicht auch nicht, - aber wenn es hilft, die Lebendigkeit der Musik zu erleben und nicht nur eine beliebige Menge Klaviertönen...fühlen wir uns nicht ausreichend beschenkt?

Ob die Vögel nun die großen Musiker sind, als die Messiaen sie rühmt, während Philosophen wie Adorno oder Peter Kivy es vehement verneinen, - das soll für heute eine offene Frage bleiben.
Eine weniger offene Frage hier, zum Abschluss, in Gestalt wunderbarer Musik: "Le Loriot", der Pirol, in seiner Landschaft, umgeben von Singvögeln aller Art, zunächst jeweils durch lebensechte Zitate ergänzt, später aber vollständig absorbiert, hineingezaubert in Messiaens verwunschene Klavierlandschaft und - in unsere Phantasie.

30) Le Loriot CD 1 Tr. 8 (8:56)
Olivier Messiaen: Catalogue d'oiseaux 1.Livre II "Le loriot"
Håkan Austbø, Piano
NAXOS 8.553532-34 LC 5537

Reihenfolge der einzufügenden Vogelstimmen
(auf diese Einfügungen haben wir bei der Produktion verzichtet):

Pirol, Rotschwänzchen9 11/20 (ab 1:10!),
Zaunkönig 10/9 (ab 1:01 bis 1:07),
Rotkehlchen10 11/3 (ab 0:04 bis 0:10),
Schwarzdrossel 10/50 ("Meister" ! Tr. 7 / 0:51 bis 1:07), bei Mess. 1:15 bis 1:24
Rotschwänzchen9 11/20,
Zaunkönig 10/9, Singdrossel 10/65 (Roché 22 !) ,
Rotkehlchen10 11/3, Gartengrasmücke11(nur bis 0:49) 13/40
Zilpzalp12 14/65
bis hierher: 5:00 (vor Pirol)

Anschließend übertönen allmählich die echten Pirole aus Bsp. 28 das Klavier
Natural Sound / Meistersinger / Hörbilder von Walter Tilgner / Pirol
Wergo SM 9010 2 LC 00846)



Zitierte Literatur


  • Oskar Gottlieb Blarr: "Oiseaux exotiques"
    in: Musik-Konzepte 28 Olivier Messiaen S.108 - 122
    München 1982

  • Jacques Delamain: Warum die Vögel singen
    Eingeleitet von Jérôme und Jean Tharaud
    Aus dem Französischen von Karl Wolfskehl /
    Leipzig o.J. (Französ. Ausgabe 1928)

  • Clytus Gottwald: Fragment über Messiaen
    in: Musik-Konzepte 28 Olivier Messiaen S.78 - 91
    München 1982

  • Robert Sherlaw Johnson: Messiaen
    London 1975 ISBN 0 460 04198 3

  • Stefan Keym: Messiaen, Olivier
    in: MGG Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil 12
    Stuttgart 2004

  • Claus-Peter Lieckfeld / Veronika Straaß: Mythos Vogel / Geschichte, Legenden, 40 Vogelporträts
    München 2002 ISBN 3-405-16108-8

  • Olivier Messiaen: Technique de mon Langage Musical / Paris 1966

  • Olivier Messiaen: Catalogue d'Oiseaux pour Piano
    Chants d'oiseaux des provinces de France.
    Chaque soliste est presenté dans son habitat, entouré de son paysage et des chants des autres oiseaux qui affectionnent la même région. (...l'auteur...) L'oeuvre est par lui dédiée deux fois: à ses modèles ailés, à la pianiste Yvonne LORIOD.
    Paris 1956 - 1958

  • Olivier Messiaen: Préface / Sujet de l'oeuvre et commentaire de chaque mouvement
    zu: Quatuor pour la Fin du Temps
    Paris 1942

  • Martin Zehn: Booklet zu Messiaens Catalogue d'Oiseaux
    Arte Nova - BMG Deutschland - 743217212223


Pressetext (Jan Reichow)

Es gibt die Theorie, dass die Musik der Menschen und die der Vögel einen gemeinsamen physiologischen Ursprung haben.
Die Philosophie dagegen bestreitet vehement, dass man den Gesang der Vögel überhaupt als Musik bezeichnen dürfe, da ihm die eigentlich ästhetische Intention fehle. Vor allem verfüge er über keine syntaktischen Eigenschaften; es sei der Mensch, der sie in die Welt der Gefiederten projiziere. Messiaen war strikt anderer Ansicht: sie komponieren!
Zweifellos kommunizieren sie miteinander und zwar nicht nur, um Reviergrenzen zu klären; das Weibchen im Nest zumindest hört mit "Sachverstand" die Vielfalt der Strophen, die Energie, die Klangfarbe.
Messiaen liefert in seinem "Catalogue d'oiseaux" aber dann doch mehr als die Aneinanderreihung von akribisch notierten Stimmen der Vögel. Die Farben ihres Gefieders, das Temperament der Bewegungen, ihr Flugstil und der Charakter der Landschaft, in der die Tiere leben, schließlich der Blick des Komponisten und selbst wir, die von ihm erwarteten, sympathisierenden Hörer, all dies ist darin enthalten. Und - es ist ein so vielgestaltiges und so gestaltbares Material, dass man ebensogut sagen könnte: da ist Raum genug für rein musikalische Prinzipien geblieben. Was aber sind "rein" musikalische Prinzipien?
Eines ist sicher: wenn man diese Fragen naiv und ernst beim Worte nimmt, hört man Messians 13-Punkte-Catalogue mit anderen Ohren und ebenso - wenn man hinausgeht - den ganz großen Katalog, den man früher einmal als "Buch der Natur" bezeichnete.




Material zur musikalischen Problematik des Vogelgesangs


Peter Kivy in "Music alone" S.24 f über Vogelgesang

Gewiß können wir zuzeiten die Geräusche, die von Vögeln gemacht werden, als Musik hören - als wenn sie Musik seien. Aber wenn das der Fall ist, hören wir sie , als hätten sie gewisse syntaktische Eigenarten: wir hören sie als "Melodien", was "harmonische" Struktur einschließt; mit "Kadenzen" und "Richtung"; wie "Auflösung [implicit] von Disonanzen" und dergleichen. Und das ist auch ganz in Ordnung, gerade so lange, wie wir innerhalb des "als ob"-Modus verbleiben. Denn zu sagen, daß wir Vogelgesang hören, als habe er syntaktische Eigenschaften heißt nicht, ihm syntaktische Eigenschaften zuschreiben, ebensowenig wie wir ein Monster beschreiben, wenn wir von jemand sagen, es sei, als ob er Augen auf der Rückseite seines Kopfes habe.

Sobald wir jedoch aus der Fähigkeit, Vogelgeräusche als Musik zu hören, folgern, daß sie deshalb Musik seien , behaupten wir, daß sie buchstäblich syntaktische Eigenschaften haben; und das ist eine begriffliche Unmöglichkeit. Ein natürliches Objekt kann nicht, gemäß der Sache der Logik, syntaktische Eigenschaften haben, ob es sich nun um Vogel-"Gesang" oder irgendetwas anderes handelt (sofern man nicht menschliche Sprache und menschliches Denken auch in den Bestand "natürlicher Objekte" einschließt). Die Winde und die Gezeiten mögen zufällig am Strand ein Arrangement von Kieselsteinen produzieren, das aussieht wie Buchstaben, die einen wohlgeformten, grammatisch korrekten englischen Satz ergeben. Aber es kann keiner sein: es kann nicht die syntaktischen und semantischen Eigenschaften besitzen, die englische Sätze besitzen. Nur Sprachbenutzer können, unter geeigneten Umständen, in "Objekte" reale syntaktische und semantische Eigenschaften hineinlegen.

Viele Vogel-"Gesänge" können zwar wie Musik klingen, aber sie können nicht Musik sein, es sei denn, wir schreiben den Vögeln ein mentales Leben zu, das unserm eigenen vergleichbar ist, was wenige von uns zu tun wünschen. Dies mag nach Philosophen-Pedanterie klingen. Aber wie wir später Gelegenheit haben zu sehen, hat es, ganz im Gegenteil, die tiefste Bedeutung für unser Musikverständnis.

(Übersetzung: J.R.)

(Peter Kivy: Music alone / Philosophical Reflections in the Purely Musical Experience / Ithaca and London 1990

Peter Kivy und Jan Reichow, Genf 1998 - Photo © Elisabeth Reichow (Peter Kivy und Jan Reichow, Genf 1998)

(Jan Reichow:)
Wieso spricht Peter Kivy von "Geräuschen" ("noises") ? Der Unterschied zwischen Geräusch und Ton liegt auf der Hand; viele Vögel aber produzieren eindeutig Töne, und zwar solche, die sich von denen, die in der menschlichen Musik vorkommen, nicht grundsätzlich unterscheiden. Zwischen Geräuschen und Menschenmusik liegt ein weites Feld, und es ist unfair, die Töne der Vögel ohne Federlesens mit dem menschlich verstandenen Begriff von Musik zu konfrontieren, obwohl der schon unter Menschen schwierig genug zu definieren ist.
Entsprechend voreilig scheint mir der Schluss, dass jemand, der den Vögeln z.B. eine Art spielerischer ("musikalischer"?) Tonbehandlung (der man den Namen Musik eigentlich nicht von vornherein verweigern muss) zugesteht, ihnen zugleich auch ein mentales Leben unterstellt, das unserm eigenen vergleichbar ist.
Wenn Vögel mit Tönen operieren, Signale geben, Kontakt aufnehmen, dialogisieren, bestimmte Töne bevorzugen, Motive bilden und abwandeln, so kann man darin nichts grundsätzlich anderes erkennen als wenn ein Mensch dies tut. Man muss beides nicht unbedingt als Musik bezeichnen, aber das eine wie das andere kann auf - sagen wir - musikalischen Antrieben beruhen. Oder emotionalen. Oder triebhaften. Was liegt an diesen Worten, nur eines steht fest: in den Tönen wirkt offenbar kein Zufallsgenerator.
Und man bedenke, dass die Evolution den Lebewesen einen sinnvollen Umgang mit Licht auf mehreren Wegen ermöglicht hat; das Auge wurde mehrfach erfunden, und der Mensch kann sein Sehvermögen durchaus nicht automatisch als wirklichkeitsbezogener ansehen als das Facettenauge der Libelle oder das empfindliche Organ des Tintenfisches, das sogar die Schwingungsrichtung polarisierten Lichtes wahrnehmen kann.
Entsprechend könnte auch das evolutionäre Spiel mit den Schallwellen zu Geräuschen und sehr bald auch zu Tönen geführt haben, d.h. zu Phänomenen, die dann bei verschiedensten Lebewesen zu verschiedensten Experimenten geführt haben, manchmal sogar zu solchen, die am Ende ihrer Entwicklung wieder miteinander vergleichbar schienen. In jedem Fall ist aber die Rede von Lebewesen, die vielerlei miteinander gemeinsam haben, vielleicht auch hinsichtlich ihrer Beziehung zu Tönen, ohne dass diese Ähnlichkeit einen Rückschluss zuließe auf ein vergleichbares mentales Vermögen oder gar auf eine vergleichbare Nutzung syntaktischer und semantischer Eigenarten.
Der Vergleich mit den zufällig vom Wind gebildeten Sandbuchstaben führt also vollständig in die Irre und wird nur scherzhaft gemeint sein. Es mag am Strand Verwehungen geben, in die man einen Buchstaben oder sogar eine Buchstabenkombination hineinlesen kann, aber beim besten Willen werden sich nirgendwo sinnvolle Sätze finden lassen, nicht einmal eine einfache Ritterburg mit Zinnen wird der Wind zustandebringen. Während Vögel nachweisbar fliegen können, komplizierte Nester bauen, bei der Balz unglaubliche Kunststücke ausführen. Und eben singen. Sie sind Lebewesen wie wir.

"Der Ton ist unter den vielfältigen eigentümlichen Erfahrungen unserer Sinne die einzige, die an Leben gebunden ist. Licht und Farbe, Geräusch, Geruch, Geschmack, das Feste, Flüssige, Luftige, das Rauhe und das Glatte, Heißes und Kaltes, das alles gibt es auch in der unbelebten Natur. Eine Lebensregung allein aber vermag Töne hervorzubringen. Den Ton fügen Lebewesen zu der sinnlichen Welt, die sie vorfinden, von sich aus hinzu; er ist sozusagen das Geschenk des Lebens an die unbelebte Natur. Ein Forscher, der zuerst einen anderen Planeten beträte, nicht wissend, ob er organisches Leben dort vorfinden würde, brauchte nur einen Ton zu hören, und seine Frage wäre beantwortet."
(Victor Zuckerkandl: Die Wirklichkeit der Musik / Zürich 1963 S. 7)

Peter Kivy in "Music alone" S.71 über Vogelgesang

Kant schreibt dort (in der dritten Kritik) über die Schönheit der Vogelgesänge:

"Höchst wahrscheinlich wird unsere Sympathie für die Fröhlichkeit einer lieben kleinen Kreatur vermischt mit der Schönheit ihres Gesangs, denn wenn dieser imitiert würde von einem Menschen (wie es mit den Tönen der Nachtigall manchmal geschehen ist), würde es unser Ohr als gänzlich ohne Geschmack berühren." (Kritik der Urteilskraft S.89)
Kants Punkt ist, daß wir uns nicht über die Schönheit der Klänge freuen, die der Vogel produziert, sondern über die Vorstellung von des Vogels glücklicher Verfassung (oder etwas dieser Art), weil dieselben Klänge, wenn wir sie von einem menschlichen Wesen produziert wissen, aufhören uns schön zu erscheinen. Aber eine andere Konstruktion könnte gut auf dieses Beispiel angewendet werden, und zwar, daß ich mich in der Freude am Vogelgesang tatsächlich an der Schönheit der Klänge erfreue, aber unter einer bestimmten Kennzeichnung: "Klänge eines Vogels". Und diese selben Klänge würden unter der Kennzeichnung "Klänge eines menschlichen Vogelimitators" nicht dieselbe (oder überhaupt eine) Freude erzeugen. Jetzt behaupte ich nicht, daß wir in den zwei Fällen "unterschiedliche" Klänge hören, weil ich im einen Fall an ihnen Freude habe und im andern nicht (oder nicht so viel). Ich behaupte nicht, daß die gehörte Qualität der Klänge unterschiedlich sein muss, wenn die Klänge unter der Kennzeichnung "Vogelgesang" gehört werden oder unter der Kennzeichnung "Klänge eines Vogelstimmenimitators".

Ich weiß nicht, wie man sagen soll, ob das wahr ist oder nicht, ich bin nicht einmal sicher, ob ich weiß, was es bedeutet. An den einzig "objektiven" Test vermag ich zu denken, den, dass man den Freude-Faktor herausfiltert - durch Ablesen an einem Oszillographen (oder irgend solch ein Instrument) - die Klänge sind "dieselben" in beiden Beispielen.

Was ich behaupte ist, daß die Freude am Vogelgesang ein Fall ist, sich Vergnügen zu verschaffen durch physische Stimulation. Klänge sind, nach allem, ein physischer Stimulus. Aber die Art von Freude ist völlig verschieden von dem reinen Stimulus-Vergnügen, das wir uns vorstellen müssen, was (sagen wir) eine Katze bekommt, indem sie sich an unserm Bein reibt oder an einem Stuhlbein - es macht für die Katze keinen Unterschied, und dies ist ein Hinweis auf den Unterschied zwischen dem puren Stimulus-Vergnügen der Katze und meinem Vergnügen am Vogelgesang. Denn ich habe Vergnügen an diesen Klängen als von einem Vogel produzierten Klängen; ich freue mich an den Klängen unter der Kennzeichnung, die für alle Arten von Widerhall in meinem Meinungssystem und im kulturellen Leben, das ich führe, gilt. Mein Vergnügen ist "voll von Geist", einer komplexen Funktion von Konzepten, Meinungen, Emotionen; und es bedeutet den größten Unterschied der Welt für mein Vergnügen, ob ich glaube, diese Klänge, an denen ich mich erfreue, seien von einer Nachtigall erzeugt oder von einem indianischen Pfadfinder, selbst wenn es auf dem Oszillographen keinen Unterschied macht.

In der Tat würde ich so weit gehen zu mutmaßen, dass solche kognitiven Elemente in jedem Vergnügen gegenwärtig sind, das erwachsene menschliche Wesen aus physischer Stimulation beziehen, gleichgültig, wie einfach und primitiv.

(Peter Kivy: Music alone / Philosophical Reflections in the Purely Musical Experience / Ithaca and London 1990)

(Jan Reichow:)
Hier führt der Autor ganz richtig aus, dass es für meine Beurteilung der Töne, die aus dem Gebüsch zu mir dringen, durchaus einen Unterschied macht, ob sie von einem kleinen Vogel stammen, der mich zum Staunen bringt, oder von einem Vogelstimmenimitator, von dem ich mich möglicherweise täuschen lasse (oder auch nicht, - wie ich hoffe).
Auch ihm würde ich natürlich eine gewisse Anerkennung zollen. Über seine Musikalität würde ich mir allerdings keine Gedanken machen, - er wäre eben lediglich ein guter Imitator. Nur der Vogel selbst ist "authentisch", und nur er hat "authentische" Gründe, so und nicht anders zu singen.
Ich unterschreibe Peter Kivy's zitierte Diagnose allerdings nur halbherzig:

Mein Vergnügen ist "voll von Geist", einer komplexen Funktion von Konzepten, Meinungen, Emotionen; und es bedeutet den größten Unterschied der Welt für mein Vergnügen, ob ich glaube, diese Klänge, an denen ich mich erfreue, seien von einer Nachtigall erzeugt oder von einem indianischen Pfadfinder, selbst wenn es auf dem Oszillographen keinen Unterschied macht.

Kivy unterschätzt, in welchem Maße wir uns mental an den Ort des singenden Vogels begeben und dass wir womöglich durchaus in der Lage sind, die Töne der Nachtigall von unserem Konnex aus "Konzepten, Meinungen, Emotionen" zu trennen. Weshalb traut er uns dies nicht zu: pure Töne ("Music alone"?) des realen Vogels, der sie hervorbringt, wahrzunehmen, und - "voll von Geist" - doch zu sehen, dass es sich "nur" um einen Vogel handelt, der mit diesem Geist-Kontext absolut nichts zu tun hat?
Ist mein Vergnügen überhaupt so ungetrübt, wie Kivy meint? Ist es nicht auch eine Beunruhigung, diese gesungenen Hieroglyphen (Achtung: "voll von Geist") nicht deuten zu können, den Stimulus zu ignorieren und sich mit einer besonderen Art absoluter Musik (in Form einer "musique concrète") zu bescheiden?
Schließlich denke ich weder über den Stimulus noch über mein Vergnügen nach, sondern eher über den Vogel selbst; eingedenk der Untersuchung Thomas Nagels: "Wie ist es eine Fledermaus zu sein?" ("What is it like to be a bat", 1974).
Anders als beim Fledermaus-Problem sehe ich mich hier jedoch in der glücklichen Lage, etwas mehr vom tierischen Bewusstsein zu erfahren als jener Philosoph: weil sich dieses Bewusstsein ja deutlich hörbar artikuliert und sogar recht kontinuierlich äußert. Weil "es" singt. Natürlich auch, weil "es" nachprüfbar einem Vogel zuzuordnen ist, der wirklich aus freien Stücken singt, und nicht einem Vogelstimmenimitator, der mir nur einen Streich spielen will.

Ich erinnere mich, wie sehr mich Peter Ustinov zum Lachen gebracht hat, als er Bach-Koloraturen und arabischen Gesang imitierte und dass er auch irgendetwas darin sehr treffend zum Vorschein gebracht hat. Zum Beispiel das Nervende, Nicht-enden-wollende, Nicht-Assimilierbare - also eher ein Problem auf unserer Seite, von dem wir aber momentan entlastet sind, da wir nun lachen können und zugleich offen bleibt, ob über uns und unsere Verständnisblockade oder über das lächerlich Dargestellte.
Dieser komische Effekt besagt also wenig über Bach oder über den arabischen Gesang, sondern lediglich über deren Wirkung auf den, der beides nicht recht versteht oder schätzen gelernt hat. Es besteht kein Zweifel, dass Ustinov nicht imitiert, sondern übertreibt oder sogar nachäfft. Anders als das Original hört er rechtzeitig auf: wir dürfen erleichtert lachen.
Im Angesicht des realen arabischen Sängers jedoch kann man nicht ausweichen; bei gutem Willen würde man sehr bald fragen, was ihn denn bewegt, in dieser Weise zu singen. Worin seine Botschaft liegt. Wir erkennen seinen Ernst, seine Sicherheit in der Hervorbringung der Tonfiguren; er singt offenbar nach Plan, und seine Hingabe lässt darauf schließen, dass die Sache es wert ist. Wir beginnen, uns in ihn und seine musikalischen Bedingungen hineinzuversetzen.
Wir gestehen ihm zu, "voll von Geist" zu sein, aber von dem seinen, dessen "komplexe Funktion von Konzepten, Meinungen, Emotionen" für uns begreifbar sein könnte.

Der Fall des Vogelstimmenimitators ist erledigt durch die Tatsache, dass er kein Vogel ist, nicht wie ein Vogel fühlt und ihn nur äußerlich akustisch imitiert. Selbst wenn es ihm gelänge, außer uns auch noch die ganze Vogelwelt zu täuschen (die lässt sich durchaus täuschen, was mit manipulierten Tonbandaufnahmen leicht nachzuweisen ist), - aber seine Stimme und seine Tonfiguren sind nicht "ernst", und seine Kunst verblüfft uns nur in Maßen, weil wir einem Menschen ohnehin alles mögliche zutrauen.
Dem authentischen Vogel aber lauschen wir mit Sympathie, weil er - obwohl nur Tier - Erfinder lebendiger, schöner und komplizierter Figuren ist, deren Erfindung wir vielleicht ohne seine Existenz nur Menschen zugetraut hätten.(Mit solcher Verwandtschaft hätten wir eigentlich nicht rechnen können!)

Gewiss, so ähnlich sagt es Kivy auch, aber er legt es sogleich zu Lasten der "Vogelmusik" aus. Während wir darüberhinaus wissen wollen, ob sich Rückschlüsse auf ein allgemeineres, Vögeln und Menschen gemeinsames musikalisches Vermögen ziehen lassen. Ob etwa die Evolution uns unvermerkt musikalische Verwandte beschert hat. Respektable Verwandte, wenn auch nicht "voll von Geist", - aber "voller Instinkt".

Wir wollen nicht die Musik aller Zeiten und Völker in die Wagschale werfen, um uns die Vogelmusik vom Hals zu schaffen (ich spare mir das Bild von Kanonen und Spatzen): sprechen wir doch - politisch korrekt - von einer offenbar biologisch fundierten Musikalität.
Wir behaupten nicht, dass der Vogel "Musik" macht. (Vorläufig jedenfalls. Im Gegenzug erlauben wir uns, den Anteil blinder Mechanik in unserer Musik zu erwähnen.) Wir sprechen von seinem unleugbar musikalischen Vermögen.
So einfach ist das Problem mit der Vogelmusik: Sie ist keine Menschenmusik.

Und dass es auch unter den Vögeln "Spötter" gibt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Man darf sich durch die irreführende Bezeichnung nicht verleiten lassen, ihnen humoristische Absichten zu unterstellen. Auch beim "Spotten" verwenden sie authentisches Material, und sei es das Quietschen des Gartentores. Im Schnabel des Stars wird auch daraus "Vogelmusik".

 Anregung zu weiterer Kivy-Diskussion:
www.michael-ruesenberg.de/kivyswelt.html




Auf einer anderen Ebene begegnen wir Adorno: hier erscheint der Vogelgesang stellvertretend für das Naturschöne (über das wir uns täuschen). Vergleichbar dem Diktum Paul Valerys: "Die Natur gibt es nicht!" ("DIE Natur gibt es nicht!") heißt es bei Adorno: "Denn das Naturschöne als Erscheinendes ist selber Bild."
Von "Anamnesis" ist die Rede. Wenn wir darunter - mit Platon - die Wiedererinnerung an eine Wahrheit verstehen, der wir gewissermaßen vorgeburtlich im Reich der Ideen teilhaftig waren, dann wäre es durchaus denkbar, dass uns ein Hang innewohnt, in den (vorgeburtlich) "erinnerten" Schoss der Natur zurückzukehren.
Eine Idee von Freiheit, - in diesem Fall projiziert ins Naturschöne und auch in den Vogelgesang, was jedoch hieße, die Bedingungen des modernen Subjekts zu verkennen, das sich dem Mythos entwindet. Was uns jedoch nicht hindern kann, über die Bedingungen anderer Subjekte nachzudenken und seien sie dem Stand der menschlichen Subjektivität noch so fern (weiterhin mit Thomas Nagels Frage im Sinn: "What is it like to be a bat?").


Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie über Vogelgesang

Die Anamnesis der Freiheit im Naturschönen führt irre, weil sie Freiheit im älteren Unfreien sich erhofft. Das Naturschöne ist der in die Imagination transponierte, dadurch vielleicht abgegoltene Mythos. Schön gilt allen der Gesang der Vögel; kein Fühlender, in dem etwas von europäischer Tradition überlebt, der nicht vom Laut einer Amsel nach dem Regen gerührt würde. Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorcht, der sie befängt. Der Schrecken erscheint noch in der Drohung der Vogelzüge, denen die alte Wahrsagerei anzusehen ist, allemal die von Unheil.

Die Vieldeutigkeit des Naturschönen hat inhaltlich ihre Genese in der der Mythen. Deshalb vermag der Genius, einmal zu sich aufgewacht, am Naturschönen nicht länger sich zu befriedigen. In ihrem ansteigenden Prosacharakter entwindet Kunst vollends sich dem Mythos und damit dem Bann der Natur, der doch wiederum in deren subjektiver Beherrschung sich fortsetzt. Erst was der Natur als Schicksal entronnen wäre, hülfe zu ihrer Restitution. Je mehr Kunst als Objekt des Subjekts durchgebildet und dessen bloßen Intentionen entäußert wird, desto artikulierter spricht sie nach dem Modell einer nicht begrifflichen, nicht dingfest signifikativen Sprache; es wäre die gleiche, die in dem verzeichnet ist, was dem sentimentalischen Zeitalter mit einer verschlissenen und schönen Metapher Buch der Natur hieß.

Auf der Bahn ihrer Rationalität und durch diese hindurch wird die Menschheit in Kunst dessen inne, was Rationalität vergißt und woran deren zweite Reflexion mahnt. Fluchtpunkt dieser Entwicklung, freilich nur eines Aspekts der neuen Kunst, ist die Erkenntnis, daß Natur, als ein Schönes, nicht sich abbilden läßt.
Denn das Naturschöne als Erscheinendes ist selber Bild.
[Band 7: Ästhetische Theorie.
Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 3889
(vgl. GS 7, S. 104-105)]

(Jan Reichow:)

Bezeichnenderweise enthält die Neue MGG-Version (Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 1998) keinen Artikel zum Stichwort "Vogelgesang", während die alte Ausgabe dazu alles Wissenswerte vorbildlich zusammengefasst hat.

Hier ein paar Auszüge aus dem
MGG-Artikel 1986 Stichwort Vogelgesang (Johannes Kneutgen)

Igor Strawinsky schrieb in seiner Poétique Musicale (1942; deutsch als Mus. Poetik, Mainz o.J. [1960]) unter dem Titel Über das mus. Phänomen über den Vogelgesang:
"Diese tönenden Erscheinungen gemahnen uns an Musik, aber sie sind keine Musik. Wir können uns noch so sehr daran erfreuen und uns einbilden, daß wir durch den Umgang mit diesen Erscheinungen Musiker, ja sogar schöpferische Musiker werden - wir müssen uns dennoch gestehen, daß wir uns täuschen. Es bedarf eines Menschen, um diese musikalischen Verheißungen zu erfüllen. Eines Menschen, der gewiß für alle Stimmen der Natur empfänglich ist, aber außerdem noch das Bedürfnis hat, diese Dinge in Ordnung zu bringen, und dafür speziell begabt ist. Unter seinen Händen kann alles das, was ich nicht als Musik gelten ließ, Musik werden. Ich schließe daraus, daß die tönenden Elemente sich nur dadurch zu Musik formen, daß sie gestaltet werden, und diese Gestaltung setzt eine bewußte Tätigkeit des Menschen voraus" (21).
Ob eine Schamadrossel ihre Motive "bewußt" gestaltet, weiß man nicht; daß sie sie gestaltet, wurde gezeigt. Wenn ein menschlicher Komponist das Motiv eines Sonnenvogels hätte variieren sollen, so hätte er nur zwei Variations-Möglichkeiten mehr als die Schamadrossel: die spiegelbildliche Umkehrung und den Krebs. Beide Variations-Formen sind Erfindungen von Hochkulturen; sie kommen in der Musik der Naturvölker nicht vor. Vögel mit komplizierten Gesängen können fast alles, was der Mensch auch kann; Vögel können sogar transponieren.
Wenn man die Fähigkeit zur Musik per definitionem auf den Menschen beschränkt, dann kann Vogelgesang keine Musik sein. Wenn man aber die Musik vom Phänomenologischen her definiert, kommt man nicht darum herum, zumindest die komplizierten Gesänge systematisch hochstehender Vögel als Musik zu bezeichnen.
Vögel und Säugetiere stammen von gemeinsamen Vorfahren ab und haben nicht nur Verschiedenheiten wie die der Fortbewegung entwickelt, sondern auch Gemeinsamkeiten wie die Warmblütigkeit und den Ausbau der akustischen Kommunikation. Wegen der formalen Übereinstimmungen lassen sich Vogelgesänge und menschliche Musik als parallele Bildungen betrachten. Beim Gesang der Schamadrossel und bei den Gesängen vieler anderer Vogelarten kann man deshalb im gleichen Sinne von Musik sprechen, wie man die koordinierten, der Fortbewegung im Wasser dienenden Bewegungen von Enten und Menschen "schwimmen" nennt.

[Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Vogelgesang, S. 20.
Digitale Bibliothek Band 60: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 78774
(vgl. MGG Bd. 16, S. 1911) © Bärenreiter-Verlag 1986]

Zur Kritik der Verlangsamung bei gleichzeitiger Absenkung der Tonhöhe,
also einer Prozedur, die der Vogelstimmen-Forscher Peter Szöke seinen Analysen zugrundegelegt hat. (Sie geht davon aus, dass die Vögel die Feinstrukturen, die dabei bloßgelegt werden, auch wirklich hören. Dies ist jedoch unwahrscheinlich:)

Auf diese Weise läßt sich ein Vogelgesang in wesentlich mehr Noten darstellen, als wenn man ihn in natürlicher Geschwindigkeit transkribiert; es bleiben jedoch die gleichen Nachteile: die Abweichungen von den im europäischen Tonsystem notierbaren Tonhöhen und Tondauern müssen nach wie vor durch zusätzliche Zeichen angegeben werden. Zudem wird das Ergebnis durch Gestaltwahrnehmung und Hörgewohnheiten, die zu unwillkürlichem Zurechthören führen, verfälscht. Der größte Nachteil besteht darin, daß die Vögel selber diesen Mikrokosmos nicht hören, da ihr zeitliches und räumliches Auflösungsvermögen nur geringfügig besser ist als das des Menschen (s. Lit. Sigrit Knecht, 1940, und Johannes Schwartzkopff, 1962). Szökes "Klang-Mikroskopie" entspricht dem Versuch, eine Solosonate von J.S. Bach 64fach verlangsamt abzuhören und zu transkribieren.

[Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Vogelgesang, S. 9.
Digitale Bibliothek Band 60: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 78763
(vgl. MGG Bd. 16, S. 1907) © Bärenreiter-Verlag 1986]

Zur anthromomorphen Deutung der Vogelrufe (vgl. Messiaen und Delamain):

Was in der wiss. Literatur nur noch ausnahmsweise vorkommt, ist in Liebhaberberichten und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen immer noch die Regel: Vögel sind "musikalischer als Menschen" (Vitus Bernward Dröscher, Die freundliche Bestie. Neueste Forschungen über das Tier-Verhalten, Oldenburg und Hamburg 1968, 41). Dröscher z.B. versuchte, dies u.a. durch eine Ansicht von Konrad Lorenz (Die angeborenen Formen möglicher Erfahrungen in Zs. für Tierpsychologie V, 1943, 235-409) zu stützen:
"Wenn das (Vogel-)Lied funktionell wird, wenn der Vogel einen Gegner ansingt oder vor einem Weibchen balzt, gehen alle höheren Feinheiten verloren, man hört nur eintönige Wiederholungen der lautesten Strophen, wobei bei sonst spottenden Arten wie dem Blaukehlchen die schönsten Nachahmungen völlig verschwinden und der kennzeichnende, aber unschöne schnarrende angeborene Teil. des Liedes stark vorherrscht. Es hat mich immer wieder geradezu erschüttert, daß der singende Vogel haargenau in derselben biologischen Situation und in eben der Stimmungslage seine künstlerische Höchstleistung erreicht, wie der Mensch, nämlich, wenn er in einer gewissen seelischen Gleichgewichtslage, vom Ernst des Lebens gleichsam abgerückt, in rein spielerischer Entfaltung produziert" (394).
Solche Sätze sagen etwas aus über die Einstellung des Beobachters zu seinem Beobachtungsgegenstand, nicht aber über den Beobachtungsgegenstand selbst.
Ob es sich um den Vogelgesang oder um andere tierische Verhaltensformen handelt: es ist unzulässig, von der Verhaltensbeobachtung mit Hilfe von Analogieschlüssen auf tierisches Seelen- und Gefühlsleben oder gar auf tierische Wertbegriffe zu schließen. Z.B. scheint der "klagende" Ruf des Gimpels klagend zu sein, weil er Ähnlichkeit mit Äußerungen menschlicher Trauer hat; für den Gimpel ist dieser Ruf ein Lockruf, der das Zusammenbleiben der Artgenossen sichert.
Beschäftigen sich Komponisten mit dem Vogelgesang, so ist es vom Ergebnis her gleichgültig, ob sie ein gefühlsbetontes Verhältnis zu den gefiederten Freunden haben oder ob sie lediglich am akustischen Material interessiert sind, das die Vogelstimme produziert.

[Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Vogelgesang, S. 4.
Digitale Bibliothek Band 60: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 78758
(vgl. MGG Bd. 16, S. 1905) © Bärenreiter-Verlag 1986]



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Messiaen deutet Vogelstimmen