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Jan Reichow: Wovon spricht Musik? Und wovon Tolstoi, wenn er von Musik spricht? Zu Klaviertrios von Smetana und Janácek (1995)

So sehr wir die Musik an sich lieben: die meisten von uns glauben insgeheim vielleicht doch, dass Musik, bei der man sich "etwas Konkreteres" vorstellen kann, verständlicher sei als eine "abstrakte" oder "absolute" (von konkreten Bedeutungen abgelöste), die "nichts als Musik" zu sein verspricht.

Aber haben wir nicht auch recht, uns dem schmerzlichen Gehalt einer Melodie schrankenloser hinzugeben, wenn wir wissen, dass Smetana sie geschrieben hat, nachdem ihm sein viereinhalbjähriges Töchterchen gestorben war? Als sei nunmehr die Glaubwürdigkeit dessen, was wir ohnehin hätten wahrnehmen können, von höherer Warte bestätigt: von der Warte der Realität.

Und gewinnt nicht auch der weitere Verlauf des Klaviertrios, von dem hier die Rede ist, das vom Cello vorgetragene zweite Thema, einen Ernst, der uns möglicherweise entginge, wenn wir es als den üblichen Kontrast im Sonatensatz-Schema auffassten? Wie es aus dem ersten Thema, dessen absteigende Chromatik den uralten Lamento-Bass beschwor, herauswächst und nun mit rührender Kurzatmigkeit in ein freundliches Dur hinüberleitet, eine tänzerische Episode vorbereitet, in der es mit stolzer Fortissimo-Pose wiederkehrt; dann allerdings der Motivik des Lamento-Themas ausgesetzt wird, dessen Dezimensprung jetzt im Sforzato der Geige seine Herkunft aus dem puren Schrei verrät. Was auch immer geschieht, man könnte die Logik des musikalischen Verlaufs unmittelbar auf die psychologische Situation des Vaters nach dem Tod der Tochter beziehen, deren Erinnerungsbild ihn ebenso beherrscht wie der Schmerz über ihren Verlust; vielmehr - das Bild und der Schmerz sind eins.

Wie aber verfährt die Musik? Sie muss die komplexe Situation in einen schrittweise ablaufenden Prozess verwandeln, - zuerst der Schmerz, dann das liebliche Bild, dann wieder der Schmerz, und diese Folge ist musikalisch begründet, nicht menschlich; weder die motivische Arbeit der Durchführung noch die Reprise haben etwas mit "Trauerarbeit" zu tun.

Oder doch?

Gibt es eine heimliche Korrespondenz zwischen dem, was in Tönen geschieht, und dem, was in Wirklichkeit geschieht bzw. dieser Wirklichkeit in unseren Köpfen? Eine derartige für Musiker keineswegs unlösbare Frage hat unter musikempfänglichen Laien immer wieder für beträchtliche Verwirrung gesorgt, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass Stimmungen in der Musik schneller wechseln als in der psychischen Realität.

"Fortwährend schien ein Gefühl musikalische Gestalt annehmen zu wollen, aber sofort zerfiel alles wieder in einzelne neue musikalische Elemente oder in sehr komplizierte Klangverbindungen, die nichts weiter als die Laune des Komponisten miteinander verknüpft. Diese Bruchstücke, die manchmal schön, manchmal alles andere als schön waren, hatten etwas Unerwartetes, völlig Unmotiviertes an sich. Heiterkeit und Trauer, Verzweiflung, Zärtlichkeit und Triumph - all diese Gefühlsmomente wechselten ganz willkürlich und ohne jeden Übergang miteinander ab und wirkten wie die chaotischen Empfindungen eines Verrückten. Wie bei einem Geisteskranken kamen und verschwanden sie wieder."
So ließ Tolstoi in seinem Roman "Anna Karenina" einen gewissen Lewin reagieren, der vergessen hatte, das detaillierte schriftliche Programm des dargebotenen Werkes nachzulesen; wobei keineswegs behauptet wird, dass dieses für musikalischen Sinn hätte sorgen können.

In der Erzählung "Die Kreutzersonate" grübelte Tolstoi erneut über die Wirkung der Musik:

"Musik versetzt mich unvermittelt in jenen seelischen Zustand, in dem sich der befand, welcher sie verfasste. Meine Seele verschmilzt mit der seinen, und gemeinsam mit ihm taumele ich aus einer Gemütsstimmung in die andere; warum jedoch ich das tue, das weiß ich nicht. Jener aber, der, nehmen wir mal an, die Kreutzersonate schrieb - Beethoven -, jener wusste es, weshalb er in einer solchen Stimmung war; dieser Zustand veranlasste ihn zu bestimmten Handlungen, und somit hatte es für ihn einen Sinn, für mich jedoch nicht den geringsten. Und darum ist Musik nur erregend, nicht jedoch auslösend. Nehmen Sie das Gegenbeispiel: ein kriegerischer Marsch ertönt, Soldaten marschieren nach seinen Klängen - die Musik hat ihren Zweck erfüllt; ein Tanz wird aufgespielt, ich tanze, und der Zweck ist erfüllt; man singt die Messe, ich nehme das Abendmahl - und die Musik hat etwas ausgelöst; so aber bleibt sie nur Erregung, zu welcher Tat man jedoch angeregt wird, ist unbekannt."
Zu welcher Tat? Tun wir denn nichts, wenn wir fühlen und denken?

Offenbar sind es die statischen Begriffe "seelischer Zustand" und "Gemütsstimmung", die den Erzähler in die Irre führen und sogar "taumeln" lassen. Der Komponist aber sitzt ja nicht nur da und fühlt und fühlt, - er denkt in einem Maße, wie es Laien nicht für möglich halten, er denkt auch über Gefühle nach, vor allem aber über die ihnen adäquaten musikalischen Mittel und deren aussagekräftige Anordnung. Dieses Denken kann von andern Menschen mit entsprechender Aufnahmefähigkeit natürlich ebenso nachvollzogen werden wie das eines Schriftstellers, der Situationen beschreibt, indem er sie - wie Handlungsverläufe - in ein Nacheinander von Worten auflöst.
Liegt das Ziel des musikalischen Nacheinanders aber am Ende?

Ein gängiger Kammermusikführer will uns das im Fall des Klaviertrios von Smetana nahelegen:

"Das Finale ... gegen Ende als 'Grave, quasi marcia' über einem Orgelpunkt auf D - gleichsam ein letztes Abschiednehmen von dem verlorenen Kinde. Endlich aber entrafft sich die trauernde Seele dem Schmerz und findet aus dunkler Tiefe wieder zurück zum hellen Tag des Lebens."
Einen so billigen Trost sollte sich Smetana als Krönung seines Epitaphs ausgedacht haben?

Im "Grave, quasi marcia"-Abschnitt des Finales verwandelt sich der punktierte Rhythmus des lyrischen zweiten Themas in den eines Trauer-Konduktes, dessen Harmonik zugleich die Erinnerung an das ruhelose erste Thema nachklingen lässt. Zwar erhebt sich daraus das wiederhergestellte zweite Thema mit Fortissimo-Jubel, - aber handelt es sich nicht vielleicht nur um eine mit allen Kräften ("con fuoco"!) herbeigewünschte Wiederauferstehung und Verherrlichung? Denn davon bleibt fast nichts, ein "diminuende molto" und ein gleichsam in weite Ferne hinübertönender tiefer G-dur-Akkord der Streicher; und das Klavier antwortet, unverändert in g-moll, mit dem ruhelosen Anfangsthema des Satzes, bricht ab, Pause.
Dass die unvermittelt folgenden drei Schlusstakte in Dur stehen, hat nichts zu sagen: sie sind an Schroffheit nicht zu überbieten und in der Wirkung nicht weniger niederschmetternd als der Schluss des ersten Satzes. Sie bedeuten: Aus! Kein Trost! Ende!

Der von einem Quartsprung vorbereitete Sekundgang des zweiten Themas, - an anderen Stellen ist es allein der Sekundschritt aufwärts und zurück, eine sich öffnende, bittende Gebärde -, hat ein Geschichte, die durch alle Teile des Werkes geht. Sie beginnt mit dem "kindlichen" zweiten Thema des ersten Satzes, wird in dem "Alternativo I" des zweiten Satzes mit zärtlichen Varianten in Erinnerung gerufen und in der Mitte des "Alternativo II", einem wahrhaft erschütternden Versuch 'stolzer Trauer' mit der Bezeichnung "con dolore" versehen und auf den Kern gebracht: zunächst im p, dann mit ff-Akkordschlägen, die an die Verwandlung des "kindlichen" Themas im ersten Satz denken lassen; andererseits korrespondiert die melodische Formung des Motivs - gerade in seiner Moll-Version - deutlich mit dem Anfang des ersten Satzes, genauer gesagt mit Takt 4 und 5. Das expressive Violinsolo, mit dem das ganze Werk anhebt, erweist sich schließlich als Fluchtpunkt aller motivischen Beziehungen: der chromatische Lamento-Abstieg, der Dezimen-Schrei, dann das erwähnte Sekundmotiv. Und die Motivik der Takte 1 bis 2 kehrt nicht nur als "mephistophelische" Variante in den Takten 4 bis 6 des zweiten Satzes wieder, sondern auch, gleichsam unterm Schlangenblick erstarrend, in dem stockenden chromatischen Unisonoabgang gegen Ende dieses Satzes, bevor er mit einer neuen Verwandlung des Sekundmotivs wie mit einem letzten Ruf verklingt.
Und in den heftigen Einleitungstakten des Finales steckt die zeichenhafte Chromatik natürlich ebenso wie in der Schluss-Katastrophe des ersten Satzes.

Doch all diese bedeutungsvollen Zusammenhänge, die man leicht aus dem zwanghaft sich erneuernden Bild des Kindes und aus der monomanisch grübelnden Melancholie des Vaters ableiten könnte, würden lediglich unser privates Mitgefühl verdienen, wie inbrünstig sie auch gefühlt sein mögen. Erst in dem Moment, da sie vollkommen musikalisch durchdrungen und bis ins feinste formale Detail inspiriert sind, beginnt der musikalische Sinn uns (und den Komponisten, - nicht den Vater!) über den in der Realität entbehrten Sinn hinauszuheben.

Es ist bezeichnend, dass der Komponist Smetana darauf verzichtete, seinem mit Herzblut geschriebenen Werk einen Titel zu geben, der die Phantasie des außenstehenden Publikums hätte in "konkrete" Bahnen leiten können. Niemand, der den Hintergrund kennt, wird das Werk ohne Erschütterung hören. Und niemand, der es zum ersten Mal hört und sich in die Aufnahme vertieft, wird verstehen, weshalb dieses Klaviertrio op. 15, das am Anfang der künstlerischen Laufbahn des damals 31jährigen Smetana steht, bis heute zu den verkanntesten Kammermusikwerken der Romantik zählt, - vielleicht weil es nicht nur schön, sondern auch in einer irritierenden Art unbequem ist.


Leoš Janácek war gebeten worden, für ein Konzert zum 80. Geburtstag des russischen Schriftstellers Leo N. Tolstoi am 28. August 1908 eine Komposition beizutragen; der Gedanke muss ihn begeistert haben, war er doch ein eifriger Leser russischer Literatur und Verehrer alles Slawischen.

Das Klaviertrio, das er entwirft, ist laut Untertitel "angeregt durch L.N. Tolstois Kreutzersonate", was aber keineswegs besagt, dass er sie mit musikalischen Mitteln nachzuzeichnen sucht, im Gegenteil. Tolstois Geschichte, ebenfalls nur "angeregt" von Beethovens Kreutzersonate, genauer gesagt von deren erstem Satz, folgt - während einer langen Eisenbahnfahrt - dem Blickwinkel eines Mannes, der seine mit einem Mord endende Ehe als ein einziges Sträflingsdasein darstellt, basierend auf der üblichen "schweinischen" Beziehung.
Diese Schilderung, bei der es weniger um die Propagierung einer sinnenfeindlichen Moral als um die Entlarvung einer bürgerlichen Lebenslüge geht, macht bei Tolstoi mehr als die Hälfte der Erzählung aus. Dann erst tritt die Musik als Katalysator auf den Plan, Janácek wird das mit kritischer Wachsamkeit aufgenommen und sich in Beethovens Notentext vergewissert haben, wovon denn genau die Rede ist (das innige Seitenthema aus dem ersten Presto Beethovens schimmert, von leidenschaftlich hämmernden Motiven des Klaviers attackiert, zu Beginn von Janáceks drittem Satz durch); was aber seine musikalische Phantasie tatsächlich in Bewegung setzt, ist nicht irgendeine vorgegebene Idee von Musik, erst recht nicht die bohrende Selbsterforschung des Mannes:

"Ich hatte dabei die bedauernswerte Frau im Sinne, die gequält, geschlagen und ermordet wird...", sagt Janácek, und in seinem Handexemplar der Tolstoi-Erzählung hat er die letzten Worte der folgenden Sätze rot unterstrichen: "Ich blickte zu den Kindern hin und sah dann auf ihr geschwollenes, zerschlagenes Gesicht, und zum erstenmal vergaß ich alles, meine Rechte und meinen Stolz, zum ersten Male sah ich in ihr den Menschen."
Die frühe Gestalt des Trios scheint Janácek nicht ganz zufriedengestellt zu haben, denn am 9. April 1909 wurde eine Umarbeitung des Werkes im Rahmen einer Tolstoi-Feier in Brünn aufgeführt. Unmittelbar vorher erklang in diesem Konzert auch Beethovens "Kreutzersonate", der Tolstoi einst eine so fatale, mörderisch fortwirkende Kraft zugeschrieben hatte, obwohl ihm dabei doch zunächst eine verheißungsvolle Intensivierung des Bewusstseins nicht entgangen war:
"Nehmen wir zum Beispiel ... das erste Presto - ist es überhaupt zulässig, in einem Salon inmitten dekolletierter Damen dieses Presto zu spielen! Zu spielen und nachher mit den Händen zu klatschen, dann wird Eis gegessen und über den neuesten Klatsch gesprochen. Solche Sachen dürfte man doch nur bei ganz bestimmten, wichtigen und bedeutenden Gelegenheiten spielen und auch nur dann, wenn bedeutende und dem Charakter der Musik entsprechende Handlungen erforderlich sind. Man müsste sie spielen und danach vollbringen, wozu die Musik uns ruft. Im anderen Falle aber kann diese weder dem Ort noch der Zeit entsprechende Aufreizung der Energie und des Gefühls nur verderblich wirken, da sie keinen Ausfluss findet. Auf mich wenigstens übt das Spiel eine erschütternde Wirkung aus: es enthüllten sich mir, so schien es mir, völlig neue Gefühle, neue Möglichkeiten, von denen ich bis dahin nichts gewusst hatte.
'So also ist das: und völlig anders, als ich vorher dachte und vorher lebte, so also', sprach es in meiner Seele. Wie jedoch dieses Neue, das ich erkannte, beschaffen war, darüber konnte ich mir keinen Aufschluss geben, doch die Erkenntnis des neuen Zustandes erfüllte mich mit Freude. Die ganze Umgebung, und darunter auch meine Frau und er, stellten sich mir in einem neuen Licht dar."
Leider ging das Manuskript des Klaviertrios von 1909 verloren, aber das Streichquartett, das - wie Janácek vermerkt - vom 30. Okt. bis 7. Nov. 1923 - "aus einigen Gedanken" des Trios entstanden ist, muss ihm wohl doch ziemlich genau nachgebildet sein: Fragmente der Trio-Fassung, die inzwischen wieder aufgetaucht sind, bestätigen, dass zumindest der erste und der dritte Satz des Streichquartetts die Vorlage tatsächlich im wesentlichen nur uminstrumentieren. Michael Hájku, den diese Fragmente faszinierten, hat eine kongeniale Rekonstruktion aller Sätze erarbeitet, in der die drei Instrumente teilweise wie die Protagonisten eines Dreipersonendramas agieren.

Mit der rätselhaften Kompositionstechnik Janáceks haben sich nur wenige Musikologen gründlich zu befassen getraut (vgl. u.a. Peter Gülkes "Versuch zur Ästhetik der Musik Leoš Janáceks", Musik-Konzepte 1979). Sie widersetzt sich der analytischen Durchdringung in eigentümlicher Weise, während die plastische Ausdruckskraft der Motive und die dramatischen Gesten zugleich ein so deutlich Sprache sprechen, dass es nicht schwer scheint, eine inhaltliche Beziehung dieses Werkes zu seiner literarischen Vorlage herzustellen, wie Jaroslav Vogel es in seiner Monographie (Leoš Janácek, Leben und Werk, Prag 1958) getan hat. Er sieht in dem schmerzlich-süßen Anfangsmotiv "einen Ruf von Leben und Tod", das "Motiv der in der Seele der Heldin aufsteigenden tragischen Sehnsucht".

Der zweite Satz, beginnend mit der Umwandlung dieses Motivs in ein gespreizt-spitziges Thema, gilt der Figur des Verführers, - "frosthauchende Versuchung" verbreitend, "vor innerer Bewegung stockende, von Gefühl überströmende" Melodik provozierend.
Der dritte Satz beginnt mit seiner "zwiefachen bzw. zweieinig bittenden Melodie" (wie erwähnt, dem innigen Seitenthema der Beethovenschen Kreutzersonate verwandt), "die von einer wütenden Verkleinerung ihres Abschlusses unterbrochen wird", dann die Katastrophe im vierten Satz, grundiert vom Rhythmus der Eisenbahn, die bei Tolstoi den atmosphärischen Rahmen der Erzählung bildet, und der Ausklang des Werkes "mit einer warnenden und zugleich sinnbenehmend bestrickenden Wiederkehr jenes 'Rufes'."

Zweifellos haben auch Janáceks Motive und Themen, so collagenartig sie behandelt werden, eine Geschichte; aber es ist nicht die der motivisch-thematischen Arbeit, mit deren Hilfe etwa Beethoven seine Dramen entwickelt.

Schon vier Tage nach der Umwandlung des Klaviertrios in das Streichquartett Nr. 1 beginnt Janácek mit der Niederschrift der Oper, deren Heldin, wie Jaroslav Vogel sagt, eine Domina ist... "Leben, ich will Leben!" (Die Sache Makropulos).

"An 200 Seiten habe ich schon von der Sache Makropulos. Wissen Sie, in der fliegt es ungezügelt nur so hin und her. Eine Fülle von Motiven; wie ich sie unter Dach und Fach bringe, werde ich erst zum Schluss des I. Aufzuges sehen."

Wie es Janácek gelingt, dergleichen "unter Dach und Fach" zu bringen, ist schwerlich in Begriffe der Formenlehre zu zwingen. Ihn selbst faszinierte zu allererst die Wahrheit des Augenblicks: der unmittelbare Zugang zu dem Urgrund der Motive; er sah ihn mit genialer Einseitigkeit in den Sprechmelodien, von denen er Tausend notierte, - auf der Straße, auf dem Markt, überall.

"Diese Melodien sitzen klebrig auf ihrem Beweggrunde, ihrer Ursache; durch Bloßlegen ihrer Ursache erzittern sie durch gleiche Freude, gleichen Seelenschmerz, / Es sind dies verständliche Stichworte, mit deren Hilfe du ohne weiteres als Gast in eine andere Seele gelangst. Ein Vogel in eine Vogelseele, ein Mensch in eine menschliche: alles ist gleich. Heftig drängen sich die Melodien auf, sind es doch Ausrufe der Seele!" (Janácek)
Mit Beharrlichkeit und Leidenschaft suchte er die innere Dynamik der so gefundenen Motive aufzuschließen. Ein Ohrenzeuge:
"...Von dort erklang den ganzen Vormittag das Klavier. Allerdings in ungewohnter Weise. Janácek hämmerte dort so laut, als es überhaupt möglich war, und zumeist bei ständig gehobenem Pedal, mit den Fingern immer ein und dasselbe Motiv von ein paar Tönen aus dem Klavier hervor, eines von den Motiven, wie wir aus seinen Kompositionen eine ganze Unzahl kennen. Er wiederholte das Motiv mehrere Male rundum, entweder in unveränderter Gestalt oder zuweilen mit einer kleinen Abänderung. Aus der Verve, mit der er spielte, war herauszufühlen, wie stark er von dem Gefühlsgehalt des Motivs erregt und hingerissen wurde... Bei diesem Beginnen komponierte er nicht - er wollte sich nur durch das ständige Wiederholen eines kleinen Motivs in eine bestimmte Stimmung versetzen, um dann ohne Klavier das zum überwiegenden Teil aus diesem Motiv aufgebaute Tonwerk in fieberhafter Hast unmittelbar aufs Papier zu werfen."
(zit. bei Jaroslav Vogel a.a.O. S. 42).
Wobei er auf jedes, meist eigenhändig mit Linien versehene Notenblatt nur einige Takte schrieb, so dass es leichter war zu feilen, Blätter auszusondern, neue einzufügen.
"Schaffen ist für ihn gleich leben, leben gleichbedeutend mit schaffen", schreibt Jaroslav Vogel, "das Schicksal entriss ihm schon in frühen Jahren seinen Sohn und seine Tochter. Um so mehr hing er seiner Musik an: 'Sind nun mal meine Familie - die Noten. Haben Köpfchen und Füßchen, verstehen sich aufs Laufen, Herumtollen, verstehen es, Tränen und Freude zu entlocken. Es fällt schwer, sie einzufangen, sich auf sie zu verstehen - das hat lange Zeit gebraucht. Und was für eine Menge auf einer einzigen Zeile! Die wenigstens vergessen mich nicht; die verleugnen mich nicht: wir sind Janáceks. Ist es nicht Freude genug?"
(Janácek an seine Frau Horvátová, 7. Jan. 1918).
Er scherzt. Die Noten hat er nicht gemeint. Vielleicht die Wirklichkeit? (Vorsicht, sagt die Philosophie, - wie wirklich ist die Wirklichkeit? Immerhin: die Menge der Noten ist greifbar, - aber auch wirklich begreifbar?)

Janácek bleibt ein großes Rätsel.

tacetlogo (3K) Dieser Text wurde für das Booklet folgender CD-Aufnahme geschrieben:

TACET 83
(veröffentlicht ursprünglich 1995 bei INTERCORD)
Friedrich Smetana & Leos Janacek:
Klaviertrios / Piano Trios

Abegg Trio:
Ulrich Beetz, Violine
Birgit Erichson, Violoncello
Gerrit Zitterbart, Klavier

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