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[ Zuerst - mit historischen Fotos - veröffentlicht in
50 Jahre Alte Musik im WDR 1954-2004 , Köln 2005
und in CONCERTO Heft Nr. 202, Juni/Juli 2005 ]

Wie alte Musik neu wurde und ferne Musik allmählich näher kam
Ein Rückblick auf 50 Lehrjahre
Von Jan Reichow

Ich kann mich zwar genau erinnern, wann ich Bach lieben gelernt habe und wann sich Albert Schweitzer dazugesellte (sowohl als Urwaldarzt wie als Bach-Forscher und -Interpret, in meiner Phantasie gar nicht so weit entfernt von Capitaine Nemo und seiner Muschelorgel in der Nautilus), dann aber deren realer Stellvertreter an der Bielefelder Pauluskirche, der tüchtige Kantor und Straube-Schüler Eberhard Eßrich, der mich mit der realen Orgel, mit Kontrapunkt und Bach-Motetten vertraut machte. Aber "Alte Musik"? Völlig wirkungslos blieb ein Ausflug zur Burg Sternberg, wo man Peter Harlan inmitten einer Unmenge historischer Instrumente erleben konnte, selbstgebaut womöglich, das war interessant, aber mit   M u s i k   hatte das für meine Begriffe gar nichts zu tun.

Ein Schlüsselerlebnis war das Mendelssohn-Violinkonzert in der Oetkerhalle, vielmehr der 21jährige Christian Ferras: ein junger Gott, im Einvernehmen mit einem großen romantischen Orchester und einem großen Publikum, das ihn immer wieder hervorklatschte, bis er, nunmehr mutterseelenallein, mit vornehmer Inbrunst den ersten Satz einer Bachschen Solosonate als Zugabe spielte, - das war es! Noch 8 Jahre Geige üben, dann bin ich 21 und stehe vielleicht auch so auf dem Podium...

In meiner Jugend habe ich Musik wohl - ohne es zu wissen - für ein Emanzipationsangebot und einen legitimen Fluchtweg gehalten: mit ihrer Hilfe konnte ich der Familie, der Schule und der Enge der 50er Jahre entrinnen, gleichzeitig aber damit Ehre einlegen. Noch das dumpfeste Ševcík-Üben galt als respektables Surrogat geistiger Arbeit, und mit dem Erwerb einer gewissen Virtuosität hatte man die offizielle Berechtigung erworben, Gefühle vergangener Epochen auszudrücken. Das Tarnbild der Leidenschaft, die man aufwendete, hatte historischen Charakter, und kein Außenstehender ahnte, was in einem vorging, verkappte sexuelle Assoziationen blieben rein privat.

Und schon tauchten Leute auf, die den fleißigen Jungen in Spielkreise einzubinden suchten, was zu unangenehmen Erfahrungen führen konnte: er fand sich z.B. in einem Ensemble wieder, das die näselnde Enge einer fabrikneuen Gambe, die zirpende Aura eines Neupert-Spinetts zum Maßstab aller Klänge machte; die Noten zu "Ei, du feiner Reiter" wurden ausgebreitet, und im Refrain schlug die Jungkantorin gar ein Päukchen. Theodor W. Adorno beschreibt schon früh das Phänomen der musikalischen Regression und gibt nicht nur den Interpreten, sondern auch den alten Meistern die Schuld; letztlich macht er es sich zu einfach, indem er ausschließlich "Bach gegen seine Liebhaber verteidigt" (1951), aber sein Essay blieb eine Quelle produktiven Ärgers.

Für mich gehörte der kritische Philosoph dann in die Aufbruchsstimmung der 60er Jahre, - er schien den Schlüssel zur Moderne in Händen zu halten, was mich einerseits zu den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik brachte, andererseits nicht hinderte, - im Anschluss an eine Tournee mit Günter Kehrs Kölner Studentenorchester- die orientalische Perspektive zu bevorzugen: die Tournee führte von Casablanca bis Kabul, und um ein Haar hätte ich mich auf eine Verpflichtung des Goethe-Instituts in Tripoli/Libanon eingelassen. "Was??? Sie wollen über Wagners Tristan promovieren? Glauben Sie mir: es ist spannender, von hier aus in die Syrische Wüste zu fahren und Beduinenmusik zu erforschen!" Damit hatte der Leiter des Goethe-Instituts bei mir den rechten Nerv getroffen, ich wechselte gleich nach der Rückkehr zum Schwerpunkt arabische Musik, indische Musik: 5 Jahre lang hören und notieren, das führte unweigerlich zu lebenslanger Liebe. (Von Tripolis war nicht mehr die Rede, nachdem der Mob das Goethe-Institut gestürmt hatte.)

Parallel dazu wuchs das Interesse an der Aufführungspraxis alter Musik.
Es hatte mit Franzjosef Maier in Köln eingesetzt: in ihm sah ich die rechte Balance zwischen Intellekt und Emotion, er wusste zu Vivaldi und Veracini ebensoviel zu sagen wie zu Debussy, Glasunow oder etwa Rudolf Petzold, dessen schwierige Solosonate er zur Uraufführung brachte.
Und er befand sich selbst noch auf dem Weg, staunte ansteckend über die Ornamentierungskunst Carl Philipp Emanuel Bachs und begann, mit seinen Schülern - angefeuert von Dr. Alfred Krings, der ihn als Dozent zu den Kölner Kursen Alter Musik (1964) berief - die Spielweise des 17. Jahrhunderts zu erschließen: er studierte (mit der Geige in der Hand) die Anweisungen Georg Muffats im "Florilegium secundum" und setzte sie mit uns um, - z.B. die geigerische Zumutung, vom Taktende zum nächsten Taktanfang zwei Abstriche hintereinander zu machen, wodurch sich die romantische Tugend, das Taktende quasi crescendierend zum nächsten Takt hinüberzuspannen, in Nichts auflöste. Mit alten Bögen und Darmsaiten wurde es widersinnig, vom "großen melodischen Bogen" zu reden, zumindest angesichts altfranzösischer Tänze. Dank der tänzerisch taktierenden Bogen-Disziplin klang "Terpsichore", die Sammlung französischer Tänze von Michael Praetorius (1612), plötzlich hinreißend und elegant, dank "inegalen" Spiels der Achtel oder Sechzehntel sogar ein wenig jazzig.

Das Collegium aureum (von Alfred Krings und der Freiburger Schallplattenfirma Harmonia Mundi 1963 gegründet, de facto vielleicht auch schon 1961) entwickelte sich in lockerer Symbiose mit dem Collegium musicum des WDR, einem frei zusammengestellten Orchester, das für die Produktionen geistlicher Musik zuständig war, also auch für die Bachkantaten am Sonntagmorgen.

Das Collegium musicum des WDR wurde in den ersten Jahren noch vom Cappella-Konzertmeister Ulrich Grehling angeführt. Wenn ich mich recht erinnere, war er zum letzten Mal in Esslingen dabei, wo die Kreuzstabkantate mit Barry McDaniel aufgenommen wurde (18.04.66). Helmut Winschermann (!) spielte die Solo-Oboe, natürlich eine moderne, er ließ sich schon lange nicht mehr auf "den alten Knochen" ein, aber er spielte hinreißend (zum "Endlich, endlich" ließ Barry seine Hüfte kreisen). Franzjosef Maier saß neben Grehling, - eine friedliche Zusammenarbeit, obwohl der Kompetenzunterschied offensichtlich war. Es überraschte niemanden, dass Maier wenig später auf Dauer Konzertmeister des Ensembles wurde ("der beste der Welt", wie Krings sagte), und er hatte fortan entscheidenden Einfluss auf die Besetzung, - ein Glück für uns, seine Schüler, deren Unterricht sich sozusagen auf freier Wildbahn fortsetzte.

Ein Engagement für das Collegium aureum konnte auf folgende Weise stattfinden: "Hier Krings, WDR. Wissen Sie eigentlich, dass Sie übermorgen früh in St. Maximin erwartet werden? Das liegt bei Aix-en-Provence! Mit Ihrem Käfer ist das leicht in einem Tag zu schaffen."
(Es war zu schaffen, - in 21 Stunden non-stop.)

Übrigens hatte Krings jede Veranlassung dafür zu sorgen, dass sich das Collegium musicum des WDR und erst recht das Collegium aureum deutlich von der Cappella Coloniensis unterschied, auf die er ja keinen Einfluss hatte. Er brauchte für Harmonia Mundi ein tüchtiges Schallplattenorchester, das für seine Innovationen offen war, und er brauchte einen Künstler wie Franzjosef Maier, der sie auf ein praktikables Maß brachte. Trotzdem gab es auch in Franzjosef Maiers Collegium weiterhin kleine Cappella-Coloniensis-Clübchen, die zuweilen einen Erfahrungsvorsprung auszuspielen suchten und das Klima trübten. Diese Querelen waren bei meinem Einstieg (1965 bei den Händel-Orgelkonzerten mit Rudolf Ewerhart im westfälischen Körbecke) durchaus noch wahrnehmbar, z.B. in Gestalt eines prominenten Bratschers, der mit Blick auf seine neben mir geigende Freundin die Ideen des Konzertmeisters ironisch kommentierte.
Beide habe ich damals zum letzten Mal gesehen.

Anderen gelang der loyale Spagat: Wolfgang Neininger, der hüben und drüben die zweiten Geigen anführte. Der Gambist Johannes Koch, der bratschende Augenarzt Günter Lemmen, zuweilen auch noch der Altvater der Alten Musik Fritz Neumeyer (in der Collegiums-Aufnahme von Pergolesis "La serva padrona" kann man ihn als Vespone teuflisch lachen hören). Seine spontanen Schüttelverse kursierten allenthalben; aus einer Probe des Collegiums in der renovierten und weiß bestuhlten Lutherkirche in Saarbrücken, der Heimat Günter Lemmens, stammen die folgenden: "Unter all den Luther-Memmen - sieht man auch die Mutter Lemmen!" und "Hier auf diesen weißen Stühlen - sollen unsere Steiße wühlen?"

Seine weinerlich-pastorale Stimme wird niemand vergessen, der mit ihm zu tun hatte; zu vorgerückter Stunde konnte man erleben, wie der kenntnisreiche alte Mann - unter Berufung auf seine Mutter - ein rührendes Bekenntnis zur Schönheit im speziellen und allgemeinen ablegte. Diesen Geist findet man auch in vielen seiner Bearbeitungen Lothringischer Volkslieder, die Krings - wiederum hellsichtig - herausbrachte, kunstvoll und liebevoll gestaltete Produkte, die in zahllosen Sendungen des WDR ihr Publikum fanden und heute zwischen allen Programmstühlen der Wiederentdeckung harren.

In Südfrankreich stieß der junge Karl-Heinz Steeb zu uns, der spätere Solo-Bratscher des WDR-Sinfonieorchesters, er hatte eben seinen Mercedes in Straßburg zu Schrott gefahren, übte wie ein Besessener Hindemith für einen Wettbewerb und ließ noch nicht ahnen, dass er eines Tages in fast allen Alte-Musik-Ensembles schier unverzichtbar sein würde. Wir spielten "Les Indes galantes" von Rameau, so französisch es nur ging, und wir hörten zum erstenmal das Deller-Consort, mit dem wir "Tirsi e Clori" für Harmonia Mundi (Deutschland und France?) aufnahmen; im Konzert - ein überwältigendes Erlebnis: da saßen sie am Tisch unter Platanen, eine altmodische Runde, im Schein einer kleinen Stehlampe, und sangen Monteverdi-Madrigale: solche Emotionen hatte bisher noch niemand aus diesen Partituren herausgelesen!

Die Entstaubung der Alten Musik war überhaupt eine Tat denkender Interpreten, keine Tat der Historiker, zu denen Krings zwar von Haus aus ebenfalls zählte: er war jedoch durch seine Rundfunkarbeit auf die sinnlich erfahrbare Praxis eingeschworen, arbeitete seit Jahren als Programmgestalter, Ideenproduzent und Tonmeister für Horst Hempel, der die Abteilung Kammermusik leitete und auch für die Bach-Kantaten am Sonntagmorgen zuständig war. (Krings wurde erst 1968 fest angestellt, als Leiter der Abteilung Volksmusik; eine Abteilung Alte Musik gab es noch nicht!) Diese Verbindung von Wissenschaft und Praxis war damals - ungeachtet der universitären Musizierkreise - seltener, als man meinen möchte. Gerade ein musizierender Laie lässt sich ungern seine einmal gefestigte Spielweise in Frage stellen, und das gilt auch für den tüchtigen Musikwissenschaftler, der einen Ausgleich in der Praxis sucht. Ein professioneller Instrumentalist dagegen wird lebenslang mit spieltechnischen Herausforderungen konfrontiert, so dass ihn dieser Aspekt nicht unbedingt schreckt, sobald er einmal auf die diesbezüglichen Quellen gestoßen ist und ihre Erschließung für musikalisch bedeutsam hält.

In der Kölner Universität erinnere ich mich an einen jungen Wissenschaftler, der allerdings den Funken überspringen ließ, wenn er mit Akribie und lebendiger Belesenheit die Musik der Renaissance behandelte: Dietrich Kämper. Er ließ selbst die Entschlüsselung von Lautentabulaturen zu einem Abenteuer werden. Kein Wunder, dass er auch der einzige (angehende) Professor war, der in Vorlesungen "gefühlsechte" LPs auflegte, - zum Beispiel mit Madrigalen des Deller-Consorts.

Ein anderer, mein Doktorvater Marius Schneider, der die Abteilung Vergleichende Musikwissenschaft leitete, ließ uns mit bloßem Ohr algerische Nouba-Gesänge analysieren, durch Zählen und Notieren so unmittelbar wie möglich erfassen. In faszinierender Beredsamkeit gab er einen Begriff von der musikalischen Weite der Welt, von gewagten motivischen Zusammenhängen, sprang vom frühen Organum in den Kaukasus und sah Europa innerhalb eines Gürtels der Mehrstimmigkeit, der rund um den Globus geht. Er war es auch, der mich zu einem Symposium nach Beirut lockte. Bei Krings hatte er des öfteren erfolgreiche Sendungen produziert, und sein Name wirkte dort wie ein Katalysator: Ich bekam am Tag vor Heiligabend 1968 ein WDR-Aufnahmegerät für die Libanonreise geliehen und hatte, gewissermaßen als Gegenleistung, eine Sendung über arabische Musik zu liefern, die erste für den WDR ("Am Fuße des Libanon" 7.7. 1969).

Krings kannte keine Grenzen zwischen Alter Musik und Neuer Musik, Jazz, Folk, Volksmusik und Außereuropäischer Kunstmusik. (Später schoss er auch übers Ziel hinaus, wenn er alte Volkslieder im Pop-Arrangement zu aktualisieren suchte oder allen Ernstes versuchte, Lyriker und Komponisten zur Kreation eines alternativen deutschen Schlager-Repertoires an einen Tisch zu setzen.)

Kein Wunder, dass er sofort begann, das Wort Volksmusik (bis dahin im wesentlichen auf Volksliedkantaten, Chor- und Laienmusik beschränkt) im weitesten Sinne zu verstehen - und zugleich auf die große Kunstmusik anderer Kulturen ("Musik der Völker") zu beziehen; dort bedurfte es allerdings keiner aufführungspraktischen Besinnung, dort ging es um Kenntnisnahme und Dokumentation des Vorhandenen.
Am 3.1.69 schrieb er einen Brief programmatischen Charakters an seinen Programmdirektor Dr. Fritz Brühl: "Über alle politischen Zwiste hinweg rücken die Völker durch die technischen Mittler näher zusammen, es verstärkt sich das Interesse für benachbarte und fremde Kulturen. Unserer Abteilung fallen hier bedeutende Aufgaben zu ...", und nun gelte es, schrieb er, wie immer nach den Sternen greifend, "Aufnahmen zu machen, die alles in den Schatten stellen, was es derzeit beim Rundfunk und auf Schallplatte gibt."
Schon im August desselben Jahres begannen die WDR-Expeditionen, zunächst nach Indonesien, 1970 und 1971 nach Nord- und Südindien, 1974 nach Afghanistan, eine letzte Bestandsaufnahme vor dem Desaster, das bis heute anhält, und die Tondokumente belegen, dass Krings seine qualitativen Erwartungen nicht zu hoch geschraubt hatte. Für ihn stand alles in einem großen Zusammenhang, der ja letztlich in seiner eigenen Person gegeben war; erstaunlich war nur, dass er auch seine Vorgesetzten für solche Ideen begeistern konnte.

Seiner historischen Orientierung war es sicher zu verdanken, dass alle guten Knabenchöre Deutschlands der 70er und 80er Jahre im WDR-Archiv dokumentiert sind, von den Aachener Domsingknaben zum Knabenchor Hannover, von den Stuttgarter Hymnuschorknaben zum Windsbacher Knabenchor und den Augsburger Domsingknaben. Ich vergesse nie, wie Krings mir eine meiner Lieblingsaufnahmen, die Geistlichen Gesänge von Schütz mit den Regensburgern, madig machte: "Die leiern doch! 'Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn'. Solche Worte muss man erregt deklamieren!!" Nur in Ausnahmefällen, vielleicht auf Horst Hempels Betreiben, wurden gute gemischte Chöre wie der Madrigalchor der Musikhochschule Köln oder die Kantorei Barmen-Gemarke verpflichtet.

Dem Tölzer Knabenchor und seinem Leiter Gerhard Schmidt-Gaden griff Krings in einer besonders schwierigen Zeit unter die Arme. Jedes Jahr fanden Produktionen in der Lenggrieser Pfarrkirche oder in Benediktbeuern statt, und der Chor, der vor überbordender Vitalität manchmal weniger homogen wirkte als etwa der Windsbacher, nahm eine atemberaubende Entwicklung, die sich in Aufführungen wie denen der Kantate BWV 110 "Unser Mund sei voll Lachens" oder der zwei Magnificats von Bach (Vater und Sohn), unvergesslich manifestierte.

Schmidt-Gaden war nicht nur ein "Leuteschinder", sondern auch ein unentwegt Lernender, der sich - später auch durch die Zusammenarbeit mit Harnoncourt angespornt - in alle Höhen und Tiefen der Aufführungspraxis stürzte, selbst Härten in Kauf nahm, Überbetonungen in einfachen Chorälen, als gelte es, die Abstrichregel allenthalben durchzusetzen. Sein physiologisches Wissen und seine wachsende Erfahrung in der Stimmbildung brachten die Knabensolisten in immer jüngeren Jahren zu stupenden Leistungen, in manchen Fällen gelangen die schönsten Aufnahmen wenige Monate vor dem Stimmbruch. (Bachs "originale" Knabensolisten waren ja, so hieß es, dank später einsetzender Pubertät 4-5 Jahre älter.)

Einwände lagen auf der Hand, - ungewollte Verniedlichung, mangelnde Reife -, ließen sich aber auch zugunsten einer entsubjektivierten und zugleich vermenschlichten Darstellung auflösen. Der singende Knabe ist spürbar an einer Grenze der Leistungsfähigkeit (wie manche "authentischen" Instrumente auch, - hätte Bach nicht aus den diffizilen Solo-Sonaten angenehme Duos machen können?), während die vollkommene Sängerin alle diesseitigen (musikalischen) Wünsche erfüllt, - was beglückend genug sein kann -, aber keine darüber hinaustreibende Tätigkeit der Phantasie provoziert.

Einige der Bach-Kantaten, die heute noch am Sonntagmorgen in WDR 3 zu hören sind, existieren in
z w e i Fassungen: die eine wurde mit Knabensolisten des Tölzer Knabenchores für Harmonia Mundi aufgenommen, die andere mit erwachsenen Sängerinnen, - der Leiter der Kammermusikabteilung im WDR, Horst Hempel, bevorzugte deren "reifere Vortragsweise" -, hervorzuheben ist aber, dass die wunderbare Elly Ameling eine Entdeckung von Alfred Krings war, der auch, als die Stimme der holländischen Sängerin in eine Krise kam, unbeirrt auf ihr Comeback setzte.

Das hinderte ihn wiederum nicht, einen Kontratenor wie Paul Esswood zu favorisieren, an dessen Stimmgebung sich wahrhaftig die Geister schieden: ein schnelles, fast zitterndes Vibrato und eine gewisse Schärfe verbunden mit Koloraturfähigkeit und Intonationsgenauigkeit. Ich hatte es leicht, wenn ich an die Stimmtypen der Pekingoper dachte, aber damit hätte ich mir nicht einmal den Sänger selbst zum Freund machen können. Andererseits könnte man sagen, dass sich die heutigen Kontratenöre oder Altos so sehr vibratofreien Frauenstimmen angeglichen haben, dass man sie fast ohne Verluste wieder austauschen könnte.

Aber auch im Instrumentalklang kehrte sinnliche Schönheit ja erst auf Umwegen zurück, vielleicht war dies der einzige Weg, das fett romantische Ideal abzustreifen: der Violino piccolo im 1.Brandenburgischen hatte ja keinesfalls die befreiende Wirkung eines Originals, in das Lamento des rätselhaften Adagios brachte diese Diskantgeige einen kastratenhaft-perversen Reiz, während ihr Akkordspiel im notwendigen "Jagd-Tempo" des darauf folgenden Satzes unweigerlich ruppig wirkte.

Die Töne von Fagott und Englischhorn schienen allzeit in ihrer Stabilität "bedroht", und so begeisternd die Oboen-Soli von Helmut Hucke allezeit wirkten, es wurde auch gemunkelt, er habe eine Klappe zuviel am Instrument. Andererseits wollte niemand mehr den Hinweis auf die alten Instrumente als Entschuldigung für Misslungenes gelten lassen; es galt als schlechthin unmöglich, dass eine ganze Epoche derart vollkommene Musik für ein defizitäres Instrumentarium geschaffen haben sollte.

Was für Mühen hat es gekostet, den geräuschhaften Ansatz der Naturhörner und Trompeten auf den verlässlich schönen Punkt zu bringen und auch die gestopften Töne in kantable Linien einzupassen! (Die Problemzeit war vorbei mit Musikern wie Walter Lexutt und Robert Bodenröder.)
Was für ein Aufwand, wirklich die rechten Instrumente zu beschaffen oder rekonstruieren zu lassen! Zum Beispiel die Stadler-Klarinette, die zum ersten Mal erlauben sollte, das Mozart-Konzert in der Originalfassung zu spielen: Das erste von Rudolf Tutz entwickelte Instrument verfügte zwar über den richtigen Umfang, war aber entweder in der Tiefe sauber und in der Höhe unsauber oder umgekehrt, nie oben und unten gleichzeitig. Die erste Aufnahme entstand, als das Problem noch nicht ganz gelöst war: die herrlichen tiefen Stellen mussten hineingeschnitten werden.
Natürlich war niemand mit diesem Manöver glücklich.
Das Unikum einer zweiten Aufnahme des Klarinettenkonzertes bei Harmonia Mundi hatte seine Ursache in der unglaublichen Vervollkommnung dieses Instrumentes, das Bassettklarinette genannt wurde, und in der phänomenalen Aneignung durch Hans Deinzer.

Es war fast die Regel: die Produktion eines Werkes, das in einer aufregend neuen Klanggestalt an die Öffentlichkeit sollte, erfolgte wegen finanziell enger Bedingungen immer unter Zeitdruck, d.h. es wurde mit allzu wenigen Proben auf Band gebracht und im Rahmen des abschließenden Festivals zum ersten Mal als Ganzes gespielt. Ein halbes Jahr später ging das Collegium mit demselben Werk auf Tournee, und im Verlaufe der Reise gewann die Interpretation derart an Überzeugungskraft, auch an Frische und Unmittelbarkeit, dass man die inzwischen veröffentlichte Aufnahme kaum noch kritiklos hören mochte.

Anderen mag es ähnlich gegangen sein, und wir hörten natürlich auch die Konkurrenz, den Concentus Musicus Wien, bewunderten Harnoncourts eloquente Texte und fanden in der musikalischen Darstellung doch auch vieles demonstrativ überzeichnet, was vielleicht in Konzerten ganz anders herauskam.
Franzjosef Maier war durch gesunden Menschenverstand und geigerische Überlegenheit vor manchen Übertreibungen und Sackgassen geschützt, im Herzen vielleicht immer an einem durch Haydn, Mozart und Beethoven vorgegebenen Maß orientiert, auch wenn er Muffat gut studiert hatte und der erste war, der eine ausgezeichnete Gesamtaufnahme aller Rosenkranz-Sonaten von Biber vorlegte.
Um es einmal gesagt zu haben: bestimmte Interpretationen des Collegiums wie die des 4. Klavierkonzertes von Beethoven mit Paul Badura-Skoda oder der Sinfonia Concertante von Mozart mit Franzjosef Maier und Heinz-Otto Graf gehören zum eisernen Bestand der neueren Musikgeschichte. Aufbewahren für alle Zeit!

Erwähnenswert sind die fruchtbaren Spannungen, die damals mit den belgischen und holländischen Musikern auftauchten. Krings hatte sie für Deutschland entdeckt, stellte sie heraus und drang auf eine Auseinandersetzung, sie sollten letztlich auch im Ensemble Fuß fassen. Als Gustav Leonhardt in Kirchheim Continuo oder Solo spielte und mitdiskutierte, sah man die Cellistin Angelika May bald zum letzten Mal im Collegium; auch bei anderen erregte er Unwillen, wenn er etwa in Carl Philipp Emanuel Bachs Orgelkonzert von den Streichern verlangte, drei unter einem Bogen stehende Viertel dynamisch abfallen zu lassen, während zugleich die "starre" Orgel unter seinen eigenen Händen den Gegenbeweis zu liefern schien.

Das Alarius-Ensemble mit Sigiswald und Wieland Kuijken spielte Rosenmüller- und Biber-Sonaten hinreißend exzentrisch, rhetorisch deutlich und im Tempo so flexibel, als sei alles improvisiert. Es war ein absolut neuer Stil, und ich habe diese Aufnahmen damals mit solchen des WDR-Archivs verglichen (die konnten nur von Cappella-Mitgliedern stammen), - es war ein Unterschied wie Tag und Nacht, niemand hatte also bis dahin an eine solche Freiheit des Vortrags gedacht, aber es war kein Zweifel möglich: dies war ein richtiger Weg, die starre Notation der Alten Musik in Geist und Leben zu verwandeln.

Es war aber ein Irrtum zu erwarten, dass diese Haltung gewissermaßen ins Collegium integrierbar sein könnte. Die "Chemie" stimmte nicht, zudem hatte Sigiswald damals, wie er selbst sagte, von Orchesterdisziplin noch wenig Ahnung, und im Gegensatz zu Franzjosef Maier, der auf eine im klassischen Sinn kantable und auch virtuose Handhabung der Geige nicht verzichtet hätte, wirkte Sigiswalds Spiel eher salopp, im Gebrauch der leeren Saiten leicht provozierend. Es ist wohl ein Wunder von Krings' Gnaden, dass eine schöne Schallplatte entstand, in der beide Geiger gemeinsam Bach spielen.

Bald darauf gründete Kuijken - von Harmonia Mundi unterstützt - "La Petite Bande", ich war neugierig auf diese alternative Entwicklung und habe seit der ersten Aufnahme (Lully "Le Bourgeois Gentilhomme" unter Gustav Leonhardt 1972) für einige Jahre auch in diesem Ensemble mitgewirkt. Der vibratofreie, entspannte Klang des Ensembles, der das Spottwort von den "Schlappseilartisten" aufbrachte, hat mich fasziniert, ebenso die lebendig-kleingliedrige Behandlung des Barockbogens, die den Gesamtklang sehr durchsichtig machte, da alle kürzeren Töne nach dem Einschwingen abfallen, während die langen mit dem (oft bespöttelten) "Bauch" versehen sind. Gerade diese Eigenarten, die man auch als Mechanisierung, Schematisierung, Entsubjektivierung gedeutet hat, da sie den Ausdruckswillen des Einzelnen zu beschränken schienen, versahen eine polyphone Struktur mit elegant springenden Akzenten, die mich paradoxerweise an das Prinzip der ineinander verzahnten westafrikanischen Rhythmen denken ließ.

Sigiswald hatte auch keine Sperre gegenüber fremder und - Neuer Musik: gemeinsam mit seinen Brüdern hob er Auftragskompositionen aus der Taufe. Nach unserer ersten Begegnung in Kirchheim vermittelte er ein Treffen mit dem blinden marokkanischen Lautenisten Hassan Erraji in Brüssel, der 20 Jahre später plötzlich für eine gewisse Zeit Star der Weltmusikszene war und auch beim WDR in unserer Matinee der Liedersänger auftrat. Ich habe für einige Jahre eine Hofmans-Geige von 1665 aus dem Brüsseler Instrumentenmuseum spielen dürfen, wo Sigiswald freien Zugang hatte; bei ihm konnte ich mir auch auf einen Schlag wichtige Quellen zum alten Violinspiel kopieren: die Anweisungen von Geminiani, Monteclair, Corrette u.a., ich kaufte mir den Wälzer von David Boyden über die Geschichte des Violinspiels, auch Roger North's "On Music", weil Lucy van Dael es studierte. Nach den Proben gab es in Sigiswalds Haus schon mal abendliche Treffen, die einerseits anregend waren, andererseits auch etwas frühchristlich Verschworenes hatten: er las uns z.B. den ganzen "Großinquisitor" von Dostojewsky vor, natürlich auf Flämisch, oder initiierte eine andächtige Schallplatten-Audition der ganzen 4. Sinfonie von Brahms.

Letztlich habe ich mich nicht wirklich wohlgefühlt in der "Petite Bande"; vor allem hatte ich Schwierigkeiten mit der für alle Geiger verbindlichen Haltung des Instrumentes: ohne Kinnhalter und - zumindest bei Lully, Rameau, Muffat - ohne Kinnkontakt mit dem Geigenkorpus. Das war nicht mit der "modernen" Geigentechnik kompatibel, die ich nicht aufgeben wollte, und bedeutete für mich eine enorme technische Einschränkung, insbesondere beim Übergang in höhere Lagen. Dass Cellisten den Stachel verschmähten, schien mir ein viel kleineres Handicap, und im Collegium aureum sah man das alles ohnehin weniger streng: Darmsaiten und Barockbogen, nur das war verbindlich.

Bei der Produktion der Missa Salisburgensis (1973 Salzburger Kollegienkirche) tauchte zum ersten Mal ein junger Geiger im Collegium aureum auf, der sehr schnell sprach und stets wissenschaftliche Werke zur Barockmusik bei sich trug, die er in Aufnahmepausen verschlang, falls er nicht gerade seinem Unmut verbal Luft machte. Obwohl Maierschüler, war er nämlich eigentlich mit nichts einverstanden. Konsequenterweise gründete er etwa zu dieser Zeit ein eigenes Ensemble, das - nach etwas mühsamen Anfängen - immer mehr von sich reden machte. Charakteristisch war, dass es alle paar Jahre personell radikal rund-erneuert wurde: Reinhard Goebel mit Musica Antiqua Köln, - in vielem kompromissloser als die belgisch-holländische Schule, auch im Blick auf die Außenwirkung: "Verkrustungen auflösen" war fast wichtiger als "Authentizität", daher auch manche scheinbar überspitzten Tempi; und darauf bezog sich Krings vielleicht, wenn er anfangs, in einer Art Umkehrschluss, behauptete: "Goebel kann keine langsamen Sätze spielen".
Vielleicht hätte ihn auch Goebels ornamentierte Version der Air in der 2. Orchestersuite von Bach nicht vom Gegenteil überzeugt, - ich fand es außerordentlich inspirierend, ab 1983 in dem auf Orchesterformation vergrößerten Ensemble bei Tourneen und in einigen Aufnahmen mitzuspielen, z.B. in den Kanons der ersten CD "Kunst der Fuge" oder in Telemanns "Hamburger Ebb' und Flut": was hier an Präzision, Reinheit und Temperament herauskam, erinnerte mich an Qualitäten der indischen Musik, die solche Tugenden allerdings noch mit dem großen improvisatorischen Gestus verbindet. Erstaunlicherweise ging Goebel aber auch nicht mit einem fertigen interpretatorischen Konzept an die Arbeit, die besten Ideen schälten sich erst in der Praxis heraus.
Kein Wunder, dass Musica Antiqua Köln sich am 21.01.89 beim dritten Geigenfestival des WDR nahtlos in ein Spektrum einfügte, das von Schottland über Polen und Ungarn bis Südindien reichte und neben Bibers böhmisch-barocker Musik auch Isang Yuns west-östliche "Kontraste" bot.

Für mich ein Versuch, alle meine musikalischen Interessen in  e i n e m   Tableau zusammenzufassen.
1984 hatte ich dergleichen in schriftlicher Form angestrebt, drei thematisch zusammenhängende Artikel in dem eben gegründeten Magazin für Alte Musik "Concerto". Überschrift: "Ich mus meine Spielart gantz anders ändern" (der entgeisterte Ausruf eines Organisten, der einst Bach persönlich spielen gehört hatte). Untertitel: "Entfernte Musikkulturen, Aufführungspraxis und Zellen angeschauter Wirklichkeit."

Krings hatte schon 1974 versucht, einem der großen indischen Künstler beim Festival Alter Musik im Fuggerschloss Kirchheim ein Forum zu bieten, aber diese Matinee mit Imrat Khan blieb letztlich aus technischen Gründen unbefriedigend, weil nicht berücksichtigt wurde, dass ein indischer Künstler sein "Originalinstrument" keineswegs ohne Beschallungsanlage spielen will, auch nicht im Cedernsaal, der für seine ideale Akustik berühmt war, - gerade dort nicht: in indischer Musik geht es weniger um einen günstigen Raumanteil als um die deutliche Präsenz jedes Tones.
Aber eine wunderbare Fotoserie entstand, eine entsprechend schöne Konzertaufnahme aus der Münchner Musikhochschule wurde veröffentlicht, andere Produktionen mit südindischer und iranischer Musik folgten. Sie fanden leider im klassischen Sortiment von Harmonia Mundi nicht die angemessene Beachtung: die Szenen der Alten Musik Europas und der orientalischen Musik waren damals noch zu weit voneinander entfernt. Erst in den 90er Jahren gab es junge Leute, die z.B. das Studium der barocken Traversflöte sinnvoll ergänzten durch Kurse bei Meistern der indischen Bansuri-Flöte.

Andererseits war es kein Zufall, dass die ersten WDR-Aufnahmen mit dem Ensemble Sequentia, dem Ensemble für mittelalterliche Musik, am 7.12.79 von der Abteilung Volksmusik durchgeführt wurde, die Krings inhaltlich ja bereits auf "Weltempfang" eingestellt hatte, als ich sie 1976 übernahm. Sogar der Nachbau einer spanisch-maurischen Laute konnte in Auftrag gegeben werden.
Im erweiterten Kreis des Ensembles wirkte der aus Südafrika stammende Komponist Kevin Volans mit, der wiederum unsern Blick für Afrika schärfte. Ein Zulu-Festival mit dem Chor Ladysmith Black Mambazo und dem "schwarzweißen" Duo Juluka (erstmalig außerhalb des afrikanischen Kontinentes) war die Folge. Und noch etwas: die Komposition "Mbira" von Kevin Volans, transkribiert nach einem traditionellen Stück der Shona in Zimbabwe, wurde am 20.04.84 produziert, - mit Robert Hill (!) und Kevin Volans an zwei altitalienischen, afrikanisch gestimmten Cembali (veröffentlicht 1991 auf der CD Zimbabwe in der World Network Serie, Zweitausendeins).
Der Gedankenaustausch mit Sequentia hatte uns zwischenzeitlich sogar gemeinsam nach Marokko geführt, wo das Goethe-Institut Casablanca im April 1981 mit dem WDR, dem Ensemble Sequentia und dem Nouba-Ensemble Fez die Erinnerung an jene goldene Zeit christlich-maurisch-jüdischer Begegnung aufleben ließ, die König Alfons der Weise in seinen Cantigas de Santa Maria dokumentiert hat. Eine gemeinsame Nachtmusik im Funkhaus Köln folgte am 18.04.1981, wenige Tage nach der vielstündigen Festaufführung in einem Privatpalast in Casablanca: "Mauren und Christen in Andalusien".

Andere Ausblicke taten sich 1983 bei den Tagen Alter Musik in Herne auf, als Klaus L Neumann das Thema "Flöte" nicht mit einem Angebot historischer Travers- und Blockflötenmusik erschöpfte, sondern auch irische, iranische und indische Flötenvirtuosen einbezog.

Das Ensemble Concerto Köln, 1985 gegründet, verwirklichte in den 90er Jahren, als sich das Collegium aureum allmählich auflöste, auch dessen Träume, gipfelnd in fabelhaften Opernproduktionen, wie "Cosi fan tutte", - wobei der WDR wiederum beteiligt war. Und die Leitung hatte derselbe René Jacobs, der als Sänger bereits Anfang der 70er Jahre mit Alfred Krings zusammengearbeitet hat, z.B. in der Lully-Oper "Le Bourgeois gentilhomme", dem ersten großen Projekt für "La Petite Bande".

2003 begab sich auch Concerto Köln auf Orientkurs, in Zusammenarbeit mit dem wendigen Ensemble Sarband. Werner Ehrhardt, Gründer und Konzertmeister, war immer ein vielseitig interessierter Beobachter; in unserer gemeinsamen Zeit bei Musica Antiqua haben wir ebenso ausführliche Gespräche über Fragen der Ornamentierung geführt wie über die Gelbbauchunken, die er in seinem Garten züchtete. Er wurde auch als begeisterter Besucher grenzüberschreitender Konzerte gesichtet, wie dem West-Östlichen Violinfestival des WDR und der Romanischen Nacht in der Kirche St. Maria im Kapitol. Für mich ist es jedenfalls kein Zufall, dass sein Bruder Martin, der ebenfalls bei Concerto Köln Geige spielt, zugleich Gründer und Mitspieler eines ausgezeichneten javanischen Gamelan ist, eines Orchesters mit indonesischen "Original-Instrumenten", Sitz in Leverkusen.
Jahr für Jahr öffneten sich solche Perspektiven: in die Tiefe der Geschichte, in die Weite der gegenwärtigen Welt.

Köln war - nicht zuletzt dank WDR - über Jahrzehnte Brennpunkt und Quelle der Inspiration, mehr als Hamburg, Frankfurt, München oder Wien, vielleicht vergleichbar mit London, wo die BBC eine entscheidende Rolle spielte. Die Ensembles der Alten Musik waren im Gespräch mit Komponisten Neuer Musik, die Komponisten wiederum luden indische und afrikanische Musiker in ihre Studios ein, organisierten Weltmusik-Kongresse, begaben sich nach Calcutta, in die Oase Siwa oder ins Schwarzen-Ghetto von Chicago (Johannes G. Fritsch, Klarenz Barlow, Walter Zimmermann), und ähnliche Wechselwirkungen wurden in neuesten Produktionen reflektiert und diskutiert (Kagel, Stockhausen). "Begegnung mit Indien", "Begegnung mit Japan", - das waren typische Veranstaltungsthemen der Neuen Musik, allerdings ohne jeden Crossover-Krampf.

Solche Begegnungen waren möglich, weil alle Genres genügend Gelegenheit hatten, ihren immanenten Anspruch zu entfalten, und sie hatten redaktionellen Rückhalt im WDR: von 1973 bis 2003 gab es kein Jahr ohne drei bis vier große Präsentationen indischer, arabischer, iranischer, afrikanischer, japanischer Ensembles in WDR-Konzerten, bisweilen sogar eingegliedert in ein populäres Weltmusikfestival, das immerhin 25 mal vom Fernsehen, oft als Eurovisionssendung, übertragen wurde.
Der WDR spiegelte nicht nur, er bewegte etwas und stand im Zentrum musikhistorischer und weltmusikalischer Aktivitäten.

Inzwischen scheint vieles draußen und drinnen in Auflösung begriffen, die neuen Zeichen einer sich wandelnden Welt werden anders gelesen, möglicherweise fehlerhaft; denn es gibt in Politik und Gesellschaft zunehmend Entscheidungsträger, die schon die alten Zeichen nicht mehr lesen gelernt haben und mit den neuen entsprechend schnell fertig sind. Was nicht ins Bild passt, wird locker in den Elfenbeinturm gesteckt. Man braucht den Platz für den Tanz um die wirklich goldenen Event-Kälber.
Nichts gegen die alte Musik, könnte jemand sagen, sie wird schon nicht untergehn. Die Hits des in 50 Jahren angesammelten Repertoires werden doch für weitere Jahrzehnte reichen!? (Der kluge Mensch ist auch mit Homer, Marcel Proust und einer Handvoll Hörbücher lebenslang gut versorgt, nicht wahr, wir können auch das Radio auflösen.)

Aber Weltmusik wird bleiben, - zumal wenn sie tanzbar ist; sie befremdet nur minimal und gehört bereits zum Sound ganz hipper Parties.

Klar, WDR 3 bietet keinen Partyservice, und das Wort Kultur gilt hier nicht - wie anderswo - als quotensenkend. Aber soll man deshalb auf gesundes Wachstum da draußen verzichten? Kultur für alle bzw. alles ist Kultur! Alles ist im Fluss an Rhein und Ruhr, unser Ministerpräsident sieht die Ruhr-Triennale bereits in der "Champions League der Kultur".

Und Hand aufs Herz: Wer wollte da nicht endlich mitspielen?




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