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Schubert und die Romantik des Fremden
Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
Donnerstag, 10. Juli 2008, 19:30 Uhr
Es ist tatsächlich genau 200 Jahre her, 1808, - der kleine Franz Peter Seraph Schubert war gerade 11 Jahre alt -, da begab sich Professor Lorenz Leopold Haschka von Zeit zu Zeit in die Wiener Universität: nicht um Ästhetikvorlesungen zu halten, wie sonst am Theresianum, nein, um zuzuhören. Er war ein bekannter Mann, vor gut 10 Jahren hatte man erfolgreich sein neues patriotisches Gedicht aus der Taufe gehoben, "Gott erhalte Franz den Kaiser". Die Volkshymne zu Kaisers Geburtstag, mit der Melodie von Joseph Haydn. Zitat:Ob sie wussten, dass dieser August Wilhelm Schlegel - gemeinsam mit seinem Bruder Friedrich Schlegel - gewissermaßen der Erfinder der deutschen Romantik gewesen war und sie nun auf den Punkt brachte? Sein Punkt war - das Christentum. Rudolf Krämer-Badoni hat es folgendermaßen zusammengefasst. Zitat: 1) Musik "O wie schön ist deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet!" 0:29"Die Poesie wird zum säkularisierten Christentum." Auch Rüdiger Safranski kommt in seinem Romantik-Buch darauf zu sprechen: Zitat:"...indem ich dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn gebe..., dem Endlichen einen unendlichen Schein..." - meine Damen und Herren, schauen Sie doch bitte aus dem Fenster, stellen Sie sich vor, es ist taghelle Nacht. Sehen Sie die Häuser dort, (die Mauern des Greifwalder Doms), - ist es nicht, als schauten sie alle verwundert drein? Vom Mondlicht silbern übergossen? Oder befindet sich all dies "nur" in Ihrem Herzen? Hineingenommen oder eher nach außen projiziert? Zitat: 2) Musik: "Nachthelle" 1.Teil 0:00 bis 1:52Auf der einen Seite die Außenwelt, das Unendliche, auf der andern Seite das Innere, das Ich. Oder ist beides Eins? Es war die Zeit um Schuberts Geburtsjahr 1797 herum, als eine neue Generation neue Fragen stellte. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte war schon ein berühmter Mann, als er 1794 nach Jena kamen, und die Stadt war ein geistiges Kraftzentrum sondergleichen: Hölderlin, Hegel und Schelling sitzen beisammen und entwickeln sozusagen eine neue Mythologie, die man 'machen' müsse (Safranski S.81). August Wilhelm Schlegel lehrt Literatur an der Universität, Ludwig Tieck ist da, Novalis kommt öfters von Weißenfels herüber, die Olympier Schiller und Goethe sind nahe, - aber Gottseidank auch nicht allzu präsent bei diesen jungen Feuerköpfen.
All diese Geister - so schreibt Tieck rückblickend in Schuberts Todesjahr 1828 - "bildeten gleichsam ununterbrochen ein Fest von Witz, Laune und Philosophie." (Safranski S.85)
Zitat:Schreibt Rüdiger Safranski in seinem Romantik-Buch. Und wir erinnern uns...: Zitat: 3) Musik "Nachthelle" (2.Teil) ab 0:55 bis Ende 4:25Das ist das Ich mit seiner ekstatischen, alle Grenzen sprengenden Kraft; und doch bleibt es natürlich im Banne des banalen irdischen Realitätsprinzips, des Maschinenwesens, der Arbeitsteilung und der allmählichen Entfremdung von all dem, was uns am nächsten liegt. Eine Spannung, die nie zuvor so ins Bewusstsein getreten ist. Gerade weil das Ich im Denken der Romantik ein ungeheures Gewicht erhält und zugleich eine zum Unendlichen tendierende Ausdehnung, wird es schier unmöglich, diese Last - einem Atlas gleich - zu tragen oder gar, sagen wir: seelisch auszufüllen. Denn das, was die Seele so übergroß macht, entwurzelt sie auch, entmächtigt sie, verwandelt sie in ein Phantom. Ein Riss geht durch die Welt. Der Prototyp dessen, der das Ganze noch in den Griff zu bekommen trachtet, der dem Schicksal in den Rachen greift, der als Individuum zur Menschheit spricht, der sich einst anheischig gemacht hatte, mit einem überdimensionalen Zeitgenossen wie Napoleon auf gleicher Ebene zu hadern: Das ist Beethoven.Seine Insignien sind unverkennbar die des Leidens, des Aufbegehrens, und des tatenmächtigen Trotzes. Maestoso! 4) Musik Beethoven op. 111 Takt 1-4 0:23So beginnt Beethovens letzte Klaviersonate. Dann ballt er den Schlag zu einem Kampfmotiv, das den ersten Satz der Sonate op. 111 beherrscht: 5) Musik Beethoven op. 111 ab Themenansatz 0:12Schubert deutet dieses wandlungsfähige Motiv um in einen Verzweiflungsschrei, - im Jahr nach Beethovens Tod, es ist das letzte Jahr, das ihm selbst noch bleibt, und es umfasst "eine ganze Welt der Schmerzen". "Ich unglückseliger Atlas", so heißt es im Lied, muss sie tragen: Es bleibt ungewiss, ob er den Titanen Atlas oder Beethoven meint oder sich selbst, - mit diesen Worten von Heinrich Heine und mit Beethovens Motiv im Bass des Klaviers. 6) Musik Schubert Tr. 23: "Der Atlas " 1:58 Zitat:Was Heinrich Heine hier als großen Weltriss bezeichnet, ist tatsächlich ein verbreitetes Lebensgefühl, das nach den Jahrzehnten der Aufklärung und der Revolution für einen abendländischen Katzenjammer sorgte: die Entzauberung der Welt, die Öffnung einer Büchse der Pandora in Gestalt des naturwissen-schaftlich-technologischen Denkens, die endgültige Abtrennung, Teilung und Objektivierung der Natur, die Entfremdung des Menschen von dem, was er für sein Wesen hielt. Es passte alles in fataler Weise zusammen. Heine war ein Emigrant aus Deutschland und lebte in Paris, aber die repressiven politischen Verhältnisse in Deutschland und Österreich trugen einen entscheidenden Teil zum Weltgefühl der meisten Künstler bei, die sich notgedrungen weiterhin in Naturbildern aussprachen und dabei zuweilen auch die Illusion nährten, die "holde Kunst" könne eine ideale Gegenwelt schaffen. Beethoven und Schubert erlebten in ihrem letzten Lebensjahrzehnt den Staat Metternichs, der eindeutig ein Polizeistaat war, und sie selbst standen durchaus unter Verdacht; nur die zweifache sprachliche Verschlüsselung ihrer Musik schützte sie. Schuberts Freundeskreis war ein Dissidentenkreis. Sie fühlten sich alle fremd im eigenen Land und in der Welt. Das wirklich Fremde aber begann eine eigene Anziehungskraft auszustrahlen. Es wäre gewiss falsch, von allgemeiner Weltflucht zu reden, aber man errät leicht, dass es kein Zufall war, dass gerade in dieser Zeit, genauer: im Jahre 1818, in der neugegründeten Universität Bonn, die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Indologie schlug. Bonn sollte alsbald den Ehrentitel "Benares am Rhein" erhalten. Und der Begründer des Fachs und erster Lehrstuhlinhaber war niemand anders als August Wilhelm Schlegel, dem wir zu Beginn dieses Vortrags in Wien begegnet sind, gerade in jenem Jahr 1808, als auch sein Bruder Friedrich Schlegel Aufsehen erregt hatte mit dem Buch: "Über die Sprache und Weisheit der Indier" (1808).
Angefangen hatte die Indien-Begeisterung in Deutschland mit der deutschen Übersetzung des Sakuntala-Dramas von Kalidasa, [den man den indischen Homer nannte], veröffentlicht am 17. Mai 1791 durch Georg Forster, den Naturforscher, der schon in den 70er Jahren mit seinem Vater an der Weltumseglung des James Cook teilgenommen hatte. In London aber lernte er die englische Übersetzung des altindischen Werkes kennen, die von Sir William Jones stammte, und er war hingerissen. Seine Begeisterung wirkte fort, Herder, Goethe, Schiller jubelten. War Europa womöglich damals schon auf dem Weg, ethnische und kulturelle Grenzen zu überschreiten?
Zitat:Der vorhin erwähnte Sir William Jones war auch der Verfasser eines Werkes über die indische Musik, dessen Kenntnisstand für das ganze 19. Jahrhundert massgeblich blieb. Die deutsche Übersetzung von Johann Friedrich Dalberg erschien mit bemerkenswerten Erweiterungen im Jahre 1802 und war Joseph Haydn gewidmet. Dem Werk des englischen Vorbilds war übrigens auch eine Melodiensammlung beigegeben, - der Verfasser hatte immerhin die letzten 10 Jahre seines Lebens in Kalkutta verbracht und auch originale Gesänge gehört. Sie zu verschriftlichen war ein erstaunliches Unterfangen, bezeichnend allerdings auch, wie er es in dieser Zeit realisierte: er half einer Dame, die im Rahmen musikalischer Gesellschaften britischer Einwohner in Kalkutta hindustanische Lieder sang, bei der Sammlung und Notation dieser Melodien. Wie mag das wohl geklungen haben? Es ist eine Ausgabe für Cembalo überliefert, 1789 von einem professionellen Musiker (William Hamilton Bird) in Kalkutta veröffentlicht, lauter Melodien in Dur und Moll, mit einer zierlichen harmonischen Begleitung versehen, - es ist aber auch nichts Indisches daran, abgesehen von den Titeln. Ein Dokument der unschöpferischen Umdeutung. Mit welchen Mitteln hätte man auch melodische Gestalten erfassen können wie die folgenden? 7) Musik Sobha Gurtu Tr. 4 Raga Basant 2:25Stellen Sie sich eine Dame der feinen englischen Kolonial-Gesellschaft vor, die versucht, etwas konkret Verwertbares aus diesen Melodiegängen herauszulösen, um es als hindustanisches Lied vorzutragen. In einer ordentlichen Tonart, mit einem klaren Takt. Und verzichten möchte sie natürlich auf die vulgäre Trommel und die singende Säge, genannt "Sarangi", stattdessen muss eine gehörige Cembalo-Begleitung her... Von Herzen sollte es zu Herzen gehen. Fremdheit befremdet und geht nicht zu Herzen. Und damit tun wir der Sache doch keinen Dienst, nicht wahr? Szenenwechsel. Als Franz Schubert um 1820 die Arbeit an einer großen romantischen Oper über den indischen Sakontala-Stoff begann - sie ist Fragment geblieben -, dachte er keinen Moment daran, ihr ein orientalisch-musikalisches Kolorit zu geben, - woher hätte er es auch nehmen sollten?Eine Melodie ist allerdings schon da, sie kehrt später verwandelt in der "Winterreise" zurück, als Krähe, als ein Emblem der Einsamkeit. 8) Musik "Die Krähe" aus der "Winterreise" (Klaviereinleitung und erste Zeile) 0:39In dem Sakontala-Fragment, 8 Jahre vorher, gehörte die Melodie noch zu dem armen Fischer, der im Bauch seines Fanges einen Ring gefunden hat und nun des Diebstahls verdächtig ist. 9) Musik "Sakontala" CD II Tr. 1 "Ich bin ein armer Fischer" 0:53Die allgemeine Indien-Begeisterung der deutschen Dichter und Denker um 1800 entzündete sich an Kalidasa und an seiner Mädchengestalt Sakontala (oder Shakuntala), sie wurde in einem Atemzug genannt mit der Nausikaa in Homers Odyssee, und schien alle kulturellen Distanzen mit einem Schlag gegenstandslos zu machen. Johann Gottfried Herder pries ihre Heimat mit folgenden Worten: Zitat:Wir wissen nicht, weshalb sich Herder der Stimme des Herzens, des Führers der Töne, so sicher sein konnte. Man glaubte damals, dass die Musik erst recht von Herz zu Herzen spreche, wenn schon Worte und Dramengestalten einen Zauber ausübten, der jeden Gedanken an mögliche Missdeutungen ausschaltete. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Musik einen ähnlichen Reflex auslösen könnte wie die indischen Skulpturen. Goethe war ein Sakuntala-Enthusiast und Kalidasa-Verehrer der ersten Stunde, aber die indischen Götterfiguren, diese Monstren, die in Stein gehauen daherkamen, - nicht in anmutiger Mädchengestalt und in ein Sprachgewand gehüllt, - das war nicht seine Welt: Zitat: 10) Musik Hindu-Tempelmusik ab 11:59 1:10Feinsinnig und meditativ klingt es nun mal nicht im hinduistischen Tempel, und diese Fanfaren hätten Goethe nicht minder befremdet als die in Stein gehauenen Götterfiguren. Dergleichen ist also nicht gemeint, auch später nicht, wenn Eichendorff und Schumann von der "Schönen Fremde" singen und wenn sie die Ferne "von künftigem, großen Glück" reden lassen, - sie sagen es selbst: es ist, als machten "um die halbversunkenen Mauern die alten Götter die Rund". Und als Hector Berlioz, der allem Unbekannten aufgeschlossene, revolutionäre Geist, viel später den wirklich alten Göttern in leibhaftiger musikalischer Gestalt begegnet, ob nun chinesisch oder indisch, wendete er sich ab mit Grausen: Zitat:Der aktuelle Anlass, über den Berlioz nach seinem Besuch der Londoner Weltausstellung von 1851 berichtete, war zwar ein chinesisches Lied, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ein indisches mehr Gnade gefunden hätte. Der Exotismus hat sich ein eigenes Bild von der Fremde gemacht, und erst eine weitere Generation später, mit Debussy und Ravel, hinterlässt die reale fremde Musik tiefe Spuren, wieder auf einer Weltausstellung, nämlich 1889 in Paris. Und Béla Bartók, der Vater einer sorgfältigen Musikethnologie, gehörte zur gleichen Generation. Dabei hatte sich schon bei Schubert ein neuer Geist geregt, der die Grundfesten der abendländischen Vernunft erschütterte: man könnte dafür das allzuoft bemühte Schumann-Wort von der "himmlischen Länge" heranziehen. Aber wie oft ist es mir in indischen Konzerten in den Sinn gekommen, wenn die wirbelnden rhythmischen Zyklen der Tabla-Trommel gewissermaßen das Unendliche anpeilten, und die Melodie vom springlebendigen Untergrund fortgetragen wurde, ein seltsames, nicht enden wollendes kontrapunktisches Wechselspiel. 11) Musik Indischer Rhythmus Tr. 3 ab 7:53 3:25Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke hat im Fall Schubert das einprägsame Wort "Flußbett" eingeführt: Da wird "gesungen, nahezu so, als kehre der Gesang dem Zusammenhang den Rücken, als wolle er nur noch bei sich, in sich verweilen, die Musik hat (...) ihre 'Strömung' gefunden, gleichmäßige 'Einheitsabläufe' tragen die Melodie und schirmen sie ab (...)". Es geht um die Möglichkeit, "weiterreichende Kontinuität zu schaffen." Zitat:Gülke bezieht sich hier auf bestimmte Partien des Streichquintetts C-dur, aber es ist wohl gestattet, den gleichen Vorgang in vielen Schubertwerken wahrzunehmen. Noch einmal Gülke: Zitat: 12) Musik Ali Brothers (Pakistan) Tr. 3 Übergang in Gat 1:11Im Zauberkreis der indischen Musik ist der Zusammenhalt gesichert, sobald der Rhythmus einsetzt, die melodische Konsistenz wird zudem durch das modale Prinzip der Raga-Entwicklung in den Umrissen vollständig vorgezeichnet : bei Schubert sind es schwimmende Inseln, die sich minutenlang der logisch begründeten motivisch-thematischen Arbeit entziehen und sich scheinbar willenlos dem Strom der Modulation überlassen. 13) Musik Schubertsches "Flussbett" C-dur-Sinfonie Finale (Ausschnitt) 0:55Zweimal hat Schubert einige Wochen im nahen Ausland gelebt, ohne dass er es als Ausland erlebt haben dürfte: als Hauslehrer der Töchter des Grafen Esterházy in Zsélis, das damals ungarische Städtchen liegt heute in der Slowakei. Die Kraft der autochthonen Volksmusik muss überall zu spüren gewesen sein. Und man könnte meinen, in seinem Divertissement hongroise rege sich tatsächlich eine verwandte Seele. 14 a) Musik Schubert: "Divertissement à l'hongroise" D 818 Tr. 4 0:4014 b) Musik Rumänische Ballade: Tr. 11 "Balada lui Corbea" bis 2:35 Taraf de Haidouks: Honourable Brigands, Magic Horses and Evil Eyes "Balada lui Corbea" (trad./ohne) Cram World CRAW 13 (LC 8689) übergehend in: 14 c) Musik Schubert: "Divertissement à l'hongroise" D 818 Tr. 4 bis 3:32Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Schubert auf eine solche Musik, wie sie eben erklang, wirklich bezogen hat. Wenn er Ähnlichem auf dem Lande (draußen, bei Exkursionen vom Schloss aus) begegnet wäre, ob "all'ongarese", "alla zingarese" oder "alla romanesca", so würde er es kaum als artverwandt erkannt haben. In der Tat lautet denn auch die Geschichte zum Divertissement Hongroise ganz anders, wie wir von einem Ohrenzeugen wissen: Zitat:Nirgendwo war Schubert vielleicht weniger "in der Fremde" als im ungarischen Zseliz. Und es waren auch nicht solche Spaziergänge oder Wanderungen, die für ihn das Bild des ruhelosen Wanderers zu einem Symbol der modernen Existenz machten. Bei seinem ersten Aufenthalt dort, im Jahre 1818, hatte er geschrieben: Zitat:6 Jahre später, 1824, ist alles anders; im März schrieb er an seinen Freund Kupelwieser: Zitat:Schubert gesundet zwar, zumindest für eine Weile, er darf wieder nach Zseliz, verliebt sich in die Komteß Karoline von Esterházy, - und als er im Oktober zurückkehrt, findet ihn Moritz von Schwind "gesund und himmlisch leichtsinnig, neu verjüngt durch Wonne und Schmerzen und heiteres Leben". Schubert selbst hatte aus Zseliz an seinen Bruder Ferdinand geschrieben und beiläufig den Eindruck zu zerstreuen gesucht, es gehe ihm nicht gut: Zitat: 15) Musik aus: "Der Wanderer" 1:37Das durch Schubert berühmte Gedicht ist so angelegt, als handle es sich tatsächlich um einen Fremdling, den es vom Gebirge ans Meer verschlagen hat, - unter fremde Menschen, die seine Sprache nicht sprechen. Bei Schubert ist daraus der Wanderer geworden, auch: "Der Unglückliche"; und das Land "so hoffnungsgrün", das er sucht, "ist ein utopisches Land, unerreichbar, und wo immer der Wanderer sich auch tatsächlich befindet, dort ist sein Glück nicht." (Dürr S. 64) Es scheint paradox, wenn das Leiden an der Fremdheit mit Fernweh Hand in Hand geht. Aber es ist ja nicht wirklich die Fremdheit, sondern die Entfrem-dung, die hier ihren Ausdruck fand. Wenn Fremdheit leiden machte, so kam sie weder aus der realen, fernen Fremde, noch befand man sich selbst dort: - sie kam aus der eigenen Gesellschaft, selbst wenn das Wort "Gesellschaft" absolut nicht zu passen scheint: Ist es nicht eine agrarische, dörfliche, hinterwäldlerische Gesellschaft, die uns etwa in Schuberts "Winterreise" und im Zyklus der "Schönen Müllerin" entgegentritt? Zudem ein außerordentlich naives Ich, das diese einfache Welt nicht versteht? "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus, der Mai war mir gewogen mit manchem Blumenstrauß. Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh'" - geht es naiver? Die Ehe als Hafen und Heimat? Es ist kein Wunder, dass die Geliebte ab Lied 14 aus dem Zyklus verschwindet und dass wir nichts über sie erfahren haben außer, dass sie in einem Haus wohnt und eine Mutter hat. Ist die widrige Natur an ihre Stelle getreten? Nicht die Liebesgeschichte steht im Mittelpunkt der "Winterreise", sondern die ebenso unheilvolle wie unvermeidliche Trennung von Welt und Mensch, mit der Folge, dass das emanzipierte Individuum auch die Natur nur als Fremdes verstehen oder missverstehen kann. (Erschrecken Sie nicht: in dieser Aufnahme gibt es einen Bruch, der nicht von Schubert stammt: auch das dort angefügte zweite Lied stammt nicht von ihm, so ähnlich es klingt.) 16a) Musik "Winterreise" "Fremd bin ich eingezogen" bis genau (Klavier) 0:58übergehend in: 16b) Musik Schwedisches Lied "Se solen sjunker" (Tr. 18) bis: 2:30Sie haben den irritierenden Übergang bemerkt, nicht wahr, den Wechsel der Stimmen, den Tempowechsel; aber auch die Gemeinsamkeiten: die Tonart, das Motiv des Abstiegs von der Mollterz über die Sekunde zum Grundton, auch den Schreitrhythmus. Das erste Lied aus dem Zyklus "Die Winterreise" und ein fremdartiges Volkslied, das Schubert Anfang November 1827 im Hause der mit ihm befreundeten Fröhlich-Schwestern kennengelernt hat: es muss ihn wie ein Blitz getroffen: "Se solen sjunker ner back höga bergens topp" - Sieh die Sonne versinken hinter hohen Bergesspitzen in die dunklen Schatten der Nacht... Ein junger schwedischer Sänger namens Isak Albert Berg war zu Besuch - Josephine Fröhlich kannte ihn vom gemeinsamen Gesangsstudium in Kopenhagen - , und er trug nun dieses Lied neben anderen Liedern seiner Heimat beim Hauskonzert vor. Ob er es selbst bearbeitet oder sogar komponiert hatte, wissen wir nicht. Schubert jedenfalls war fasziniert und bat sogleich um eine Abschrift, über die er einige Zeit nachsann. Was herauskam, war eine ungeheuerliche Cello-Melodie, ganz anders als die Vorlage, die aber doch in der Substanz wiedererkennbar ist: ein Thema, das bezeugt, wie das Eigene im Fremden wiedergefunden wird und wie das fast Fremde sich in etwas ganz Eigenes verwandelt: 17) Musik Cello-Thema aus Trio Es-dur (anschl. Klavier) 1:39Der Anfang ist anders: der naive Gang vom Grundton aufwärts und zurück ist durch eine Wendung ersetzt, über die man eine Geschichte schreiben könnte: sie hängt von fern mit dem Atlas-Thema zusammen, also auch mit Beethovens Klaviersonate op. 111. Dieses Leidensmotiv der verminderten Quarte. Sehr bedeutsam, mit tragisch-barocker Geste in Schumanns zweiter Sinfonie. Es lässt sich bei Bach aufzeigen, auf den sich Schumann wahrscheinlich, aber Schubert wahrscheinlich nicht bezieht, zu Anfang der Triosonate des "Musikalischen Opfers": 18) Musik J.S.Bach Musikalisches Opfer BWV 1079 Triosonate Largo 1:21Aber auch das, was bei Schubert verblüffend mit der schwedischen Melodie übereinstimmt, ist nun reiner Schubert. Fraglich allenfalls, ob er ohne die Autorisierung durch das Volkslied, - damals sagte man "Nationallied" -, den scheinbar nichtssagenden, zweimaligen Oktavsprung in die Tiefe gewagt hätte, dem dann der Dezimensprung in entgegengesetzter Richtung Paroli bietet. Ein Fremdes ist also bewahrt, ein Fremdes, das zweifellos durch die Ausbildung des Sängers und seine Bearbeitung dem mitteleuropäischen Kunstmusikstandard bereits angenähert war; nur so, durch diesen Filter war fremde Musik zu jenem Zeitpunkt wahrnehmbar. Und selbst wenn damals in Wien Volksmusik aus dem Alpenland zu hören war, so war sie genau so "echt" oder "unecht" wie jede Musik, die seit langem in reger Wechselwirkung mit dem städtischen Geschmack existiert hatte. Die Musikgruppen in Kärnten, Tirol und in der Steiermark spielten für zahlende Touristen, die damals noch "Sommerfrischler" genannt wurden. Und Ensembles aus den genannten Gebieten reisten gewissermaßen den Sommerfrischlern hinterher, waren beliebte "Pausenfüller in den bürgerlichen Konzertsälen und Opernhäusern", spielten und sangen bei kleinstädtischen Festlichkeiten und in großstädtischen Gastwirtschaften. Am 9. Oktober 1828 traten die steyrischen Alpensänger Fischer und Freudenschuß [was für ein Name!] im Theater in der Josephstadt zu Wien auf, von einem Violinspieler und einem Cytherspieler begleitet. Die Zeitung schrieb: Zitat: Nationalweisen - damit sind ethnisch oder regional klar zuzuordnende Lieder gemeint - verschmolzen mit Rossini'schen Motiven, - man kann sich lebhaft vorstellen, was für eine Mischung das war, und doch ist von einem "ganz fremden, zauberischen Eindruck" die Rede. Man "wähnt auf den Alpen zu sein." 19) Musik "Der Hirt auf dem Felsen" (Klarinetten-Einleitung) 1:48Vielleicht ist es kein Zufall, dass Schubert im Oktober 1828, gerade als dieses alpenländische Konzert stattgefunden hatte, seine Komposition "Der Hirt auf dem Felsen" schrieb? Die Sängerin Anna Milder hatte ihn schon vor 3 Jahren darum gebeten. Er wusste nicht, dass er nur noch einen Monat zu leben hatte, er machte sich gerade daran, vermeintliche musikalische Schwächen zu beseitigen und verabredete regelmäßigen Kontrapunkt- und Fugen-Unterricht. Als er bettlägerig wurde, las er von James Fenimore Cooper "Der letzte Mohikaner", auch den "Lederstrumpf"-Band, der 5 Jahre vorher gerade in deutscher Übersetzung herausgekommen war, und er bat inständig um weitere Bücher des Autors. Die Fremde reizte ihn. Zitat: 20) Musik "Der Hirt auf dem Felsen": ab Gesang bis 2:47Wie diese Mischung aus Fernweh und musikalischem Glück entsteht, ist Schuberts Geheimnis, auch wenn es hier mit Händen zu greifen scheint: Die Transzendierung des ethnisch klar zugeordneten Jodlers, die sinnig nachgezeich-nete Topographie der Berglandschaft durch die auf- und absteigenden Melodie-bewegungen, die Wanderschaft durch fremde Tonräume in kunstvoll ausweichenden Modulationen. Es ist eine "imaginäre Folklore", - die Imagination einer zugleich fremden wie auch reinen und widerspruchsfreien Welt. Hier verschmilzt die Vorstellung der fremden Szenerie mit der Utopie der besseren Welt, in die man sich durch holde Kunst entrückt. Es soll klingen, als gebe es tatsächlich ein Refugium, in das die unaufhaltsam fortschreitende Zivilisation noch nicht vorgedrungen ist. Und doch ist alles, was wir hören, durch und durch kulturell vermittelt. Das real ethnisch Fremde und widerständig "Andere" wird in Schuberts Welt nur bedingt wahrgenommen, und sein vielfach beschworenes, in allen tonalen Mitteln verknapptes Lied "Der Leiermann" - als Endpunkt - ist keine Ausnahme. Heute sind wir allenthalben zur Auseinandersetzung mit dem kulturell Fremden geneigt und - gezwungen. Es ist jedenfalls an der Zeit wahrzunehmen, dass es wirklich existiert, - was allerdings unsere Ich-Irritation nicht mindert. Die wenigen Beispiele dieses Vortrags, die innerhalb des westlichen Horizontes nicht ohne weiteres subsumierbar und konsumierbar sind, konnten das vielleicht verdeutlichen. Für mich haben sie - sagen wir - subkutan mit Schubert zu tun, aber das muss nicht für jeden so sein. Mein Fazit:
21) Musik Cellomelodie Klaviertrio Es-dur (+ Klavier) 1:38Der Kulturwissenschaftler und Politologe Peter Weber-Schäfer hat den allmählichen Wechsel der westlichen Blickrichtung analysiert: Zitat:Und dazu gehört gewiss auch die Epoche der Romantik, die sich ins Unbestimmte sehnt, das Eigene ernstlich in Frage stellt und unvermerkt neue Horizonte öffnet. Mag "die Sonne auch versinken hinter hohen Bergesspitzen in die dunklen Schatten der Nacht...." Wie endet doch der Lederstrumpf-Roman, den Schubert auf dem Totenbett las? Zitat:Mit diesem Cooper-Zitat endete eine nachmittägliche Schubert-Sendung, die ich vor einiger Zeit im Radio SWR2 gemacht habe. Der heutige Abendvortrag soll dagegen ein echtes Finale haben und vielleicht eher mit aufgehender Sonne zu tun haben. Je nachdem, wie Sie's hören wollen. Sie haben diese einzigartige Cello-Melodie aus dem langsamen Satz des Klaviertrios Es-dur jetzt sicher gut im Ohr, nicht wahr? Im Originalverlauf des Klaviertrios liegt sie dagegen am Ende weit, weit hinter uns; es folgt ja ein Scherzo und auch noch der größte Teil des ausgedehnten, quirligen Finales. Aber dann geschieht etwas Unerhörtes, sie kehrt völlig überraschend wieder, und zwar in einer unglaublichen Transformation: das Tempo geht strikt weiter, der wirbelnde Lebenstrom verwandelt sich in ein typisch Schubertsches "Flussbett", Kaskaden des Klavier regnen herab, pianissimo (und doch steht appassionato darüber), und hier - gewissermaßen hineinprojiziert - ausgerechnet an dieser Stelle zeigt sich noch einmal das Cello-Thema: wie eine wundersame Himmelserscheinung. Man mag den abschließenden Aufschwung kaum für bare Münze nehmen: der "Fremdkörper" (Arnold Feil) aus Schweden wirkt nach, gleich einem Menetekel. 22) Musik Finale des Klaviertrios (Schluss mit Wiederkehr der Cellomelodie) 2:09 © Dr.Jan Reichow
2008
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Zitierte oder empfehlenswerte Literatur
Musik / Lizenzliste
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NACHWORT Dieser Text war in einer vorläufigen und stark verkürzten Fassung Grundlage einer Sendung, die bereits am 26. Juni 2008 in SWR 2 gesendet worden ist (Redaktion: Rainer Peters).
Des weiteren wurde nicht vergessen, dass mein Vater am 7. März 1938, - es ist also gerade 70 Jahre her - in der Greifswalder Stadthalle "Die Jahreszeiten" von Joseph Haydn aufgeführt hat; drei Jahre vorher war er als Pianist mit Schuberts Wandererfantasie, der Chaconne von Bach-Busoni und anderem hervorgetreten; es sah wie der Beginn einer Greifswalder Karriere aus. Stattdessen kam der Krieg. Als ich mich in den 60er Jahren mit Indien zu beschäftigen begann, habe ich aufmerksam registriert, dass der große Indologe Heinrich Zimmer auf den Tag genau 50 Jahre vor mir in Greifswald geboren ist (6.12.1890), während ich später mit einer gewissen Erleichterung feststellte, dass sein anderes Eckdatum (gestorben 20.03.1943 in New York) wohl nichts mit mir zu tun hat.
Überhaupt glaube ich nicht an Zahlen, - ungeachtet dieses Schuberttextes (2008), der ausgerechnet im Jahre 1808 ansetzt. © Dr.Jan Reichow
2008
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