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Wunderhorn, Kindheit und Himmlische Stadt
Ein Vortrag zur Realität der Musik Gustav Mahlers
von Jan Reichow

Sonntag, 15. Oktober 2006, 11.30 Uhr, im Ballsaal der Stadthalle Heidelberg
im Zusammenhang mit dem Projekt Wunderhorn des KlangForum Heidelberg e.V. sowie der Aufführung neu instrumentierter Wunderhorn-Lieder und der Vierten Sinfonie G-dur von Gustav Mahler
durch das ensemble aisthesis, Leitung Walter Nußbaum



Kein Mahler-Vortrag ohne Theodor W. Adorno, ich falle gleich mit der Tür ins Haus:

Sagte Schönberg in seiner bedeutenden Abhandlung über Mahler, aus der Neunten Symphonie spräche nicht unmittelbar der Komponist, sondern ein Dritter, so hat er damit etwas getroffen, was mehr oder minder für alle seine Werke gilt und was das Unbehagen an ihm, als eines an Doppelbödigkeit, weithin erklärt. Kaum ein Thema, geschweige ein Satz von ihm, der buchstäblich als das genommen werden könnte, als was er auftritt; ein Meisterwerk wie die Vierte Symphonie ist ein Als-Ob von der ersten bis zur letzten Note. Musikalische Unmittelbarkeit und Natur wird von dem angeblich so naturseligen Komponisten bis in die Zellen der Erfindung hinein in Frage gestellt. (Wiener Gedenkrede in: Quasi una fantasia)

Also: Wer spricht, wenn nicht der Komponist, und was meint er, wenn nicht das an Ort und Stelle ("unmittelbar") Gesagte?
Oder, anders gefragt: Warum sollte es überhaupt "unmittelbar der Komponist" sein, der zu uns spricht?
Halten wir nicht in der Literatur, in der Romantheorie, die Diskussion über den Erzähler für selbstverständlich?

Der vermittelnde Erzähler kann völlig hinter die Perspektive seiner Romangestalten zurücktreten, und selbst wenn er dies nicht tut, sondern sich als persönlicher Erzähler zu erkennen gibt, heißt das nicht, dass er keine Maske benutzt: Autor und erzählendes Ich müssen durchaus nicht identisch sein.
Dem Dilemma, dass man innerhalb zweier Buchdeckel jedes auftauchende Ich für ebenso fiktiv halten muss wie andere handelnde und redende Figuren, hat man abzuhelfen gesucht, indem man den "Geist der Erzählung" (Thomas Mann) einführte, der sich verschiedenster Medien bedient und als "allwissender und allgegenwärtiger Weltenschöpfer" in jedem Roman anwesend ist, auch wenn er sich noch so unwissend gibt, als innerer Monolog dahinströmt oder aus der Sicht eines Kindes geschrieben ist.
Der "Geist der Erzählung" könnte es also gewesen sein, der alle skizzierten oder ausformulierten Materialien, alle Worte, Sätze, Kapitel aneinandergefügt hat (vgl.Kleines literarisches Lexikon Stichwort "Erzähler").
Zu den Materialien zählen persönliche Erinnerungen, die erlebte Realität ebenso wie Gelesenes, Gefühltes, Anempfundenes, Erdachtes, Erarbeitetes, Umgearbeitetes, Visionen, Phantasien aller Art, überhaupt - alles. (Auch die Technik bzw. die Auffassung von Technik.)
Und wenn wir nun Gustav Mahler befragen, so erhalten wir die vielzitierte Antwort:
"Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen. Der immer neue und wechselnde Inhalt bestimmt sich seine Form von selbst."
(Sommer 1895 zu N.Bauer-Lechner über die Dritte Symphonie,
zit. nach Floros III S. 84 f)
Er bezog sich konkret auf die Dritte Symphonie, skizzierte auch schon die geplante Satzfolge, die sich im Einzelnen dann noch mehrfach änderte. Eindeutig ist jedoch die Erzählsituation bzw. die Tatsache, dass er an Erzählsituationen denkt.
I. Was mir der Wald erzählt
II. Was mir die Dämmerung erzählt
III. Was mir die Liebe erzählt
IV. Was mir die Dämmerung erzählt
V. Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen
VI. Was mir der Kuckuck erzählt
VII. Was mir das Kind erzählt
(Floros III S. 76)
Diese letzten beiden Sätze beziehen sich auf die Wunderhornlieder "Kuckuck hat sich zu Tode gefallen" und - so jedenfalls die spätere Überschrift: - "Das himmlische Leben".
Und es ist dieser Satz, der sich aus diesem Zusammenhang löst, verselbständigt, ausweitet und Mahler veranlasst, eine andere Welt aufzubauen: die der Vierten Symphonie.
Ich möchte behaupten, dass es gerade die Vision des Kindes und der imaginierten kindlichen himmlischen Vorstellungswelt war, die eine eigene Dimension eröffnete. Ein archimedischer Punkt außerhalb der physikalisch-biologischen Realität war gefunden: auf diese indirekte Weise ließ sich das Nicht-Darstellbare, das Nie-Erzählte in Bilder und Töne fassen.

Dabei spielen historisch gewachsene Vorstellungen von Kind und Kindheit eine Rolle, aber nichts Nostalgisches von der Art, wie es etwa in dem Lied von Claus Groth bzw. Johannes Brahms zum Ausdruck kommt:

"O wüßt ich doch den Weg zurück,
Den lieben Weg zum Kinderland!
O warum sucht ich nach dem Glück
Und ließ der Mutter Hand?"
Das ist beliebig und privat, eine Sentimentalität, die zudem vom Kindsein rein gar nichts versteht, von den Traurigkeiten, Ängsten, Grobheiten, Phantasien, Schlaumeiereien...
"Und nichts zu forschen, nichts zu spähn,
Und nur zu träumen leicht und lind;
Der Zeiten Wandel nicht zu sehn,
Zum zweiten Mal ein Kind."

Wir werden uns mit einer anderen, "realeren" Wiedergewinnung der Kindheit beschäftigen, deren abschließendes luftiges Monument Mahlers Vierte ist, deren Vorgeschichte jedoch bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreicht. Eine Zeit, an die einige äußerliche Stilmerkmale der Vierten anknüpfen.



Es gibt eine wunderbare Bemerkung zur Genese der Mahlerschen Polyphonie. Natalie Bauer-Lechner, die treue Gesprächspartnerin des Komponisten, hat sie in ihren Erinnerungen festgehalten:
"Als wir nun sonntags darauf mit Mahler desselben Weg gingen und bei dem Feste auf dem Kreuzberg ein noch ärgerer Hexensabbath los war, da sich mit unzähligen Werkeln von Ringelspielen und Schaukeln, Schießbuden und Kasperlntheatern auch Militärmusik und ein Männergesangverein ohne Rücksicht auf einander ein unglaubliches Musizieren vollführten, da rief Mahler:
'Hört ihr's? Das ist Polyphonie und da hab' ich sie her! - Schon in der ersten Kindheit im Iglauer Wald hat mich das so eigen bewegt und sich mir eingeprägt. Denn es ist gleich viel, ob es in solchem Lärme oder im tausendfältigen Vogelsang, im Heulen des Sturmes, im Plätschern der Wellen oder im Knistern des Feuers ertönt. Gerade so, von ganz verschiedenen Seiten her, müssen die Themen kommen und so völlig unterschieden sein in Rhythmik und Melodik (alles andere ist bloß Vielstimmigkeit und verkappte Homophonie): nur daß sie der Künstler zu einem zusammenstimmenden und -klingenden Ganzen ordnet und vereint.'"
(nach Adorno Mahler S.148 f)
Er beruft sich auf die akustische Realität, gewissermaßen auf den Rohstoff der Welt und die frische Prägekraft der "ersten Kindheit", der Schluss aber zeigt, dass er von dem Künstler doch noch etwas anderes erwartet als die Abbildung des von der Realität Angebotenen: er verwendet die Worte "Themen", "Rhythmen", "Melodik", ein "zusammenstimmendes Ganzes".

Mahler zeigte zugleich eine merkwürdige Aversion gegenüber fachlichen Analysen (ich spreche nicht von dem ambivalenten Verhältnis zum verbalen "Programm"): er spricht nicht über das Sonatenschema, die Rondoform o.ä., - nicht über Melodie-Perioden oder kunstvolle Modulationen, ein musiktheoretisch beschlagener Freund berichtet:

"Als ich einige harmonische Feinheiten heraushob und dann meinte, in dem Liede 'Der Schildwache Nachtlied' sei am Schluß ein merkwürdiges Weiter- und Umbilden der Dominante und dadurch eine immer erhöhte Spannung erreicht, wollte er es nicht wahrhaben. 'Ach, was! Dominante! Nehmen Sie die Sachen so naiv wie sie gemeint sind.'"
(Hanheide S. 64)
Das Wort naiv führt mich zurück zu dem "Dritten", der laut Schönberg in der "Neunten" und laut Adorno sogar in allen Werken Mahlers spreche.
Logisch ist mir der Satz nicht ganz klar, da unausgesprochen bleibt, wer denn der oder das Erste bzw. Zweite sei. Bezeichnenderweise spricht Adorno ja auch nur von Doppelbödigkeit, also zweifachem, nicht dreifachem Boden.
Mir scheint, es böte sich eine Lösung der Frage, die pauschal mit den Begriffen objektiv und subjektiv angedeutet werden könnte. Adorno und der Literat Hans Mayer haben darüber ein Streitgespräch geführt, ob die Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn" von Mahler subjektiv gedacht seien, dass er also sich selbst damit identifiziert habe, - was Hans Mayer unterstellte. Zugleich konstatierte er, der "große Künstler" habe sich "zur Literatur zunächst wie ein naiver Dilettant" verhalten,
"der beim Lesen von Gedichten oder Romanen alles verschlingt, was der Identifikation zu dienen scheint, so daß er alle Aussagen der Dichter danach prüft, ob sie ein Wiedererleben eigener Zustände gestatten, all jene Seiten jedoch überschlägt, die dafür nicht zu taugen scheinen."
(zit. nach Hanheide S.14:
Hans Mayer, Musik und Literatur
in: Gustav Mahler
Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag 1966, S. 142-156)
Adorno hielt dagegen:
"In den verhältnismäßig traditionalistischen Wunderhorn - Gedichten, die noch nicht gänzlich nominalistisch, nicht gänzlich von der subjektiven Intention durchherrscht waren, habe er [Mahler] etwas wie Skelette für die musikalische Konstruktion gefunden [...]. Weiter spricht er von Mahlers Bedürfnis nach autonomer musikalischer Gestaltung..."
(Zitat Hanheide a.a.O.)
(Womit allerdings dem Inhaltlichen der Texte dann doch zu wenig Ehre erwiesen wäre.)

Wenn es hier demnach um ein subjektives und ein objektives Verhältnis zur Realität gehen sollte, wäre zunächst in Erinnerung zu rufen, dass es ein wirklich "objektives" Verhältnis nicht gibt : die Objektivität des Romanautors, der nicht "ich" sagt, ist ebenso fiktiv, wie seine Subjektivität, wenn er "ich" sagt.
Im Fall Adorno/Hans Mayer scheint man sich später darauf geeinigt zu haben; daß Mahler in den Liedern - denen des Wunderhorn - subjektiv seine Empfindung äußere, diese aber nicht sein subjektives Inneres betreffe, sondern die objektive Gesellschaft und Welt: (Mayer:) Selbstaussage - (Adorno:) aber nicht einfach nur von sich, sondern mit kollektiver Verbindlichkeit.

Das Dritte, von dem die Rede war, könnte nun jenseits von Ich und ("Kollektiv" oder:) Welt angenommen werden, - es könnte der Ort dessen sein, der "der Welt abhanden gekommen" ist, oder aber - da ja eine Stimme zu hören ist: ein fiktives Ich, ein Experimentier-Ich, - reduziert um alle überflüssigen Eigenschaften, auch die eines individuell und differenziert durchgestalteten Ichs, das sich fortlaufend bemerkbar macht.

Dahinter steht die Erinnerung an die romantische Vorstellung, dass in den Bewegungen der Musik das kompositorische Ich bis in seine tiefsten Schichten samt Unterbewusstsein erfasst sei und sich "unmittelbar" ausspreche, wobei aber fraglich ist, ob es nicht bei diesem musikalischen Prozess als greifbares Ich völlig aufgezehrt wird.
Man versucht sich sogar von diesem begrenzten Ich zu lösen, vielleicht, um einer Wahrheit näher zu sein.

Es ist die Frage, ob in Schuberts großen Liederzyklen ein anderes Ich spricht als in seiner großen Kammermusik, sagen wir dem Streichquartett "Der Tod und das Mädchen".
Ob man nicht, ähnlich dem "Geist der Erzählung" in der Literatur, gezwungen wäre, einen "Geist der Musik" anzunehmen.

Wer ist denn dieser reine, fühlende Mensch, in der Waldwelt des Müllers und des Jägers, um Mühle und Bach?
Und wer ist der Wanderer, der die Stadt so fremd verlässt, wie er eingezogen ist, und der die Dörfer nur von außen und zu nachtschlafener Zeit wahrnimmt?

Schubert selbst ist es nicht, ebensowenig wie Mahler je der "fahrende Geselle" war, als den er sich frei nach Schuberts "Wanderer" entwirft.

Die Nähe zur zweckfreien Welt des Kindes ist offenbar immer mitgedacht:

"Geh Bächlein, hin und sag ihr das; doch sag ihr nicht,
hörst du, kein Wort, von meinem traurigen Gesicht;
sag ihr: Er schnitzt bei mir sich eine Pfeif aus Rohr
und bläst den Kindern schöne Tänz und Lieder vor!"
(Schubert "Die schöne Müllerin" Nr. 15)
"Sprach zu mir der lustge Fink:
Ei, du! Gelt? Guten Morgen! Ei gelt? Du!
Wird's nicht eine schöne Welt? schöne Welt?
Zink! Zink! schön und flink! / Wie mir doch die Welt gefällt!"
(Mahler "Lieder eines fahrenden Gesellen" Nr. 2)
Es ist ein fiktives Ich, das außerhalb der real erfahrenen und erfahrbaren Welt zu Hause ist: in einer geschützten Seelenwelt, in einem (poetischen) Reservat, - so paradox das klingen mag, wenn Sie an die "Winterreise" denken.
(Es ist ja die Zeit sich verschärfender Industrialisierung, Mechanisierung, Vermassung, Bürokratisierung, "Soldatisierung".)

Ein Ich, das schon bei Wilhelm Müller mit der Unschuld jener Bilder zu tun hat, die seit 1806 in der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" allenthalben greifbar und wünschbar wurden, Bilder, von denen man vermutete, dass sie im innersten Kern des Menschen, in der schlichten, unverbogenen Volksseele angesiedelt seien. Die einfachen, klaren Gefühle bis hin zu einer neuen, unstillbaren Sehnsucht, die auf einem Unbehaustsein, auf Heimatlosigkeit in der Welt beruht.




Nehmen wir das Lied "Zu Straßburg auf der Schanz", das von den Lesern, auch von Dichtern wie Heinrich Heine als Inbegriff eines echten Volksliedes gerühmt wurde, in "Des Knaben Wunderhorn" überschrieben als "Der Schweizer":
Der Schweizer Söldner hört in Straßburg den fernen Klang eines Alphorns, das über den Strom tönt. Er wird von tiefem Heimweh erfasst, er desertiert, wird aufgegriffen und vor ein Standgericht gestellt.
"Zu Straßburg auf der Schanz,
da fing meine Trauren an,
Das Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen,
Ins Vaterland mußt ich hinüberschwimmen,
Das ging nicht an.
(...)
Der Hirtenbub ist doch Schuld daran,
Das Alphorn hat mir solches angetan,
Das klag ich an."
Gerade die Momente, die dieses Lied so rührend schön und ergreifend machen, stammen nicht aus dem Volksmund, sondern aus dem des Sammlers und Dichters Clemens von Brentano: schon die Idee des Alphorns - darüberhinaus die Tatsache, dass es aus der Schweiz herüberklingen soll, die ja durchaus nicht Strassburg gegenüber liegt, aber auch Kleinigkeiten wie die Veränderung des Wortes "Trauern" in "Trauren", eine Archaisierung, die dem Lied historische Tiefe bzw. romantische Glaubwürdigkeit verleiht.
Die Vorlage des von Brentano veränderten Liedes lautet in genau jenen Zeilen, die das Lied berühmt gemacht haben, ganz pragmatisch:
"Zu Straßburg auf der Schanze,
da ging mein Trauern an,
da wollt ich bei den Franzosen desertieren
und wollt es bei ein'n andern probieren,
das geht nicht an.
(...)
unser Corporal der brave Mann,
ist meiner Sache schuld daran,
den klag ich an."

So soll das gute, einfache Volk gesprochen haben? Das kann nicht sein. Brentano bringt es zu sich selbst.

Schon Gottfried Herder hatte - im Sinne aufklärerischer Kritik - zwischen "echten" Volksliedern und "gegrölten" Pöbelliedern unterschieden. In der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" sollten laut Brentano keine "Zotenlieder" erscheinen. Aber wie wir sehen, fand die Verschönerung auch in sensibleren Bereichen statt.
Man wusste in etwa, welches Bild das Volk abgeben sollte, in manchen Punkten verweigerte man sich daher den Daten der Empirie.
Das geht übrigens bis ins 20. Jahrhundert.
Selbst der in Sachen Volkslied ansonsten akribisch genaue Béla Bartók setzte in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts neben den Text eines Liebesliedes, das er von einem ungarischen Schäfer phonographiert hat, die Warnung:

"nicht zur Veröffentlichung: es handelt sich um das Betasten eines weißen Schenkels."
(Hungaroton LPX 18058-60 edited by László Somfai 1981)
Heinz Rölleke, der im Nachwort zu "Des Knaben Wunderhorn" diese Form der kultivierenden Bearbeitung durch die Herausgeber am Beispiel des Straßburg-Liedes darlegt, erwähnt aber auch, dass zur Zeit des "Wunderhorns" das Spiel des Alphorns in den Kasernen verboten war, -"um nicht solche Gefühle zu wecken". (Rölleke S.1205)
Das romantisch aufgefasste Heim- und Fernweh und auch das erstmals in größerem Umfang thematisierte Wandermotiv haben neue Themen und Stimmungen in die Lyrik des 19. Jahrhunderts gebracht. Eine Tat der Dichter demnach, weniger des Volkes, das zwar eigene Lieder sang, sich aber auch auf jedweden Vers einließ, der wirklich den vermuteten Volkston traf.

Manchen ging dieser Volkston damals bereits auf die Nerven, die Beziehung zwischen Volkston und intellektuellem Bewusstsein war komplex.
Wir kennen den Umschlag vom einen zum andern bei Heine: Wenn in der einen Strophe die junge Dame am Meer steht, gerührt den Sonnenuntergang betrachtend, und es in der zweiten Strophe heißt:

"Ach Fräulein sein sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück."
Schon ein Freund des kritischen Lessing, der Schriftsteller Friedrich Nicolai, hatte sich über die Volkston-Manie lustig gemacht und eine auf archaisch getrimmte Sammlung veröffentlicht:
Ein feyner kleyner Almanach Vol schöner echterr liblicherr Volckslieder, lustigerr Reyen, vndt kleglicherr Mordgeschichte, gesungen von Gabriel Wunderlich weyl. Benkelsengernn zu Dessaw, hg. v. D. Seuberlich, Schusternn tzu Ritzmück ann der Elbe. 2 Bde Berlin; Stettin: Nicolai 1777-1778.
Aber was bewirkten seine Parodien? "Er verstellte damit Herder und manchem Nachfolger erfolgreich das Terrain, und zwar so lange, bis die Romantiker sich diese Parodien für ihre eigenen Sammlungen nutzbar machten, (...) indem sie ihnen die parodistischen Züge benahmen."
Über 20 Lieder fanden so den Weg aus Nicolais Almanach in das Wunderhorn. (Rölleke S. 1194)

Andererseits lassen sogar Wunderhorn-Gedichte in ihren Titeln bisweilen eine ironische Distanz erkennen, die zum Volkston nicht ganz passen will.
Das von Mahler verwendete Gedicht vom himmlischen Leben hat in der alten Sammlung den Titel "Der Himmel hängt voll (!) Geigen". Das ist ein geläufiges Sprichwort der Zeit, das auch Heinrich Heine verwendet:

"O, schöne Zeit! wo voller Geigen
Der Himmel hing, wo Elfenreigen
Und Nixentanz und Koboldscherz
Umgaukelt mein märchentrunkenes Herz!"
Und für Mahler hatte es 1892 gewiss noch nicht den operettenhaften Klang, den wir sofort assoziieren (Leo Falls "Der liebe Augustin" wurde erst 1912 in Berlin uraufgeführt); aber es hat mit dem weiteren Wortlaut überhaupt nichts zu tun und beraubt - als flapsig-beliebige Überschrift - die folgenden Phantasie-Bilder ihrer kindlich-fröhlichen Ernsthaftigkeit. Mahlers Überschrift "Das himmlische Leben" stellt sie wieder her. (Sein Wunderhornlied vom verhungernden Kind, das er in der 3.Sinfonie verwendet, nennt er "Das irdische Leben"; in der Wunderhorn-Sammlung hieß es "Verspätung").

Aber auch die Worte "Um schlimme Kinder artig zu machen", die Mahler als Überschrift eines anderen Liedes bestehen lässt, kommen innerhalb des Textes nicht vor, - was sie zum Schein ankündigen, lässt eine hausbacken erzieherische Maßnahme erwarten, während es in Wahrheit um einen lüsternen Herren geht, der wegen störender Kinder nicht zum Zuge kommt.

Und die Überschrift "Selbstgefühl" wirkt wie ein zusätzlicher Gag von höherer Warte, jedenfalls in einem Lied, das statt eines Selbstgefühls mutwillig dessen Abwesenheit artikuliert: "Ich weiß nicht, wie mir ist!" und am Ende die Diagnose des Doktors: "Ein Narr bist du gewiss!"

Ebenso steht es mit dem Titel "Starke Einbildungskraft": das Mädchen hofft, der Bube werde sein Versprechen halten, sie zu nehmen, wenn der Sommer vorbei ist. Der Bube aber zieht sich aus der Affäre: das sei nicht nötig, - wenn er an sie denke, meine er schon bei ihr zu sein. Das reiche. Eine Frechheit also, und diese wird mit dem Titel "Starke Einbildungskraft" vorweg kommentiert bzw. ironisiert.

Schon ein harmloser Titel wie "Ablösung", bei Mahler: "Ablösung im Sommer", gibt ein gewissermaßen intellektuelles Fazit: das Lied selbst erzählt nur, dass die Nachtigall im Sommer kommt, sobald der Kuckuck schweigt: "Kukuk hat sich zu Tode gefallen." "Wir warten auf die Nachtigall." Nichts aber, was zu der leicht papierenen Überschrift Anlass gäbe: "Ablösung".
Die letzte Strophe hat übrigens Mahler selbst hinzugefügt.

Im Fall des Wunderhorn-Gedichtes "Der Wettstreit des Kuckucks mit der Nachtigall", in dem ein Esel zum Schiedsrichter berufen wird, hat Mahler den Titel "Lob der Kritik" erwogen, - wobei der aktuell-ironische Bezug eindeutig ist, den er allerdings bei der Veröffentlichung wieder entschärfte, - da heißt es "Lob des hohen Verstandes".
Die Naivität des Wunderhorns ist also nicht völlig sakrosankt, nicht für Mahler, aber auch nicht für Achim von Arnim und Clemens von Brentano. Anders als z.B. die Deutschen Märchen für die Brüder Grimm.
Dieter Richter beschreibt den Übergang von der früheren französischen Märchen-Tradition zur deutschen, sozusagen von der romanischen zur romantischen:
"Märchen waren in der vor-Grimmschen Tradition immer Lachgeschichten. In ihnen lebte ein Stück der populären 'Lachkultur' weiter, überformt vom höfischen Lachen der Oberen über die Unteren. (...) Das bis dahin konstitutive Element des Lachens verschwindet mit den Brüdern Grimm aus dem Verständnis der Gattung Märchen. Über das Volk und seine Kultur wird nun nicht mehr gelacht; sie werden verehrt. 'Naivität' wird zum vorherrschenden Merkmal des Bildes vom Kind und vom Volk. 'Naiv und gerad' haben jetzt auch die Märchen zu sein..."
Interessant in unserem Zusammenhang die Äußerung Wilhelm Grimms:
"Nicht zu verkennen ist ein gewisser Humor, der durch viele [Märchen] hingeht, wenn er sich manchmal auch nur leise äußert, und den man mit der eingelegten Ironie moderner Erzähler nicht verwechseln muss. [...] Dieser Zug ist eigenthümlich deutsch und wird sich auf diese Weise in den Märchen anderer Völker nicht leicht finden."
sagt Wilhelm Grimm, und Dieter Richter kommentiert:
"Was hier als das 'Wesen' des Märchens beschrieben wird, ist indessen seine spezifisch Grimmsche und im weiteren Sinne romantische Inszenierung."
(Richter S. 237)
Wir haben beobachtet, dass die eben angesprochene Ironie, zumindest eine ihr verwandte Finesse, von den Sammlern und Ghostwritern des Volksgutes bisweilen künstlich in die Überschrift projiziert wird.
Dabei ist der Humor - ohne die Zutat der Überschrift - unverkennbar und traf schließlich bei Mahler auf besondere Sympathie:
"Er unterschied den schalkhaften Humor von dem 'süßsauren' und diesen wiederum von dem 'naiven'."
(Floros "Visionär" S.239)
Seine ersten Wunderhorn-Lieder, komponiert im Januar/Februar 1892 in Hamburg, nannte er "Humoresken".
Von seiner dritten Sinfonie, die aus 6 Sätzen besteht, wollte er vier Sätze als "Humor" aufgefasst wissen, gerade auch den fünften Satz "Was mir die Engel erzählen": er meinte, daß man "den Humor hier nur für das Höchste einsetzen muß, das anders nicht mehr auszudrücken ist." Und auch seine ganze vierte Sinfonie, die ja aus dem "Himmlischen Leben", der Humoreske von 1892, erwuchs, wollte er ursprünglich als Humoreske verstanden wissen. (Floros a.a.O. S. 239).
Er wusste, dass dieses merkwürdige Zwischenreich des Ausdrucks von vielen nicht recht verstanden wird; in diesem Sinne schrieb er am 18. Dezember 1901 auch an seine Frau Alma:
"Und doch wäre es so nötig, daß Du sie kennst - denn meine Vierte wird Dir ganz fremd sein. - Die ist wieder ganz Humor - 'naiv' etc.; weißt Du, das an meinem Wesen, was Du noch am Wenigsten aufnehmen kannst - und was jedenfalls in alle Zukunft nur die Wenigsten erfassen werden." (Floros a.a.O. S.246)
Doch zurück zum Kind, zum Bild des Kindes!



"Der Hirtenbub hat mir das angetan...", so hieß es im Lied "Zu Straßburg auf der Schanz".
Es ist kein Zufall, dass das Lied, das am Anfang der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" steht und ihr den Titel gegeben hat, von einem schönen Knaben handelt, der zwar auf schnellem Roß reiten kann, das Wunderhorn zur Kaiserin bringt und bei seinem Erscheinen besonders die Damenwelt beeindruckt, aber doch wohl ein Kind ist:

"Wie lieblich, artig, schön
Die Frauen sich ansehn,
Ein Horn trug seine Hand,
Daran vier goldne Band."
Aber ganz sicher können wir uns des Alters dieses Kindes nicht sein, und ebensowenig in andern Fällen, ob es Junge oder Mädchen sei.
Von Goethes Mignon - einem Mischwesen, geprägt von männlichen und weiblichen Zügen - bis hin zu Georg Trakls Elis, dem reinen Knaben, der vielleicht auch in der "Jünglingin" wiederkehrt, einem offenbar androgynen Traumwesen, oder in Kaspar Hauser, der von nichts wusste, kein Kind mehr war, aber für eine durch Isolation bewahrte Kindheit stand:
"Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz".
So Georg Trakl.

Auch die Märchen als Erzählorte des Ursprünglichen sind von Bedeutung, die Grimmschen entstehen nicht fern von "Des Knaben Wunderhorn" und nach einer ähnlichen Methode; oft genug erzählen sie von Kindern, ohne für Kinder gedacht zu sein.
Das wird noch deutlicher bei den neu erfundenen Märchen: Bechstein, Hauff, Novalis, E.T.A.Hoffmann.

"Das 'Klingsohr'-Märchen [des Novalis] erzählt von der künftigen Rettung der Welt durch Fabel, das Kind, das 'ewige Kind' aus 'alten Zeiten'.
Es führt die 'neue Welt' herauf, wo 'alle merkten, was ihnen gefehlt habe' und 'wo man in Märchen und Gedichten / erkennt die wahren Weltgeschichten'. Erlöser-Kind ist auch der Held eines anderen romantischen Märchens: Brentanos 'Fanferlieschen, Schönefüßchen'. In einer Art Jungfrauengeburt von einem wie Rapunzel eingesperrten Mädchen geboren, wird Ursulus, das reine Kind, das heiligengleich mit den Tieren und der Natur im Bunde ist, zum Retter des Landes."

Ich zitiere hier aus dem Buch "Das fremde Kind" von Dieter Richter (S.256).
In E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung erscheint "das fremde Kind" dem Jungen Felix und dem Mädchen Christlieb im Wald gleich einer Naturerfahrung, es hat keinen Namen und kommt Felix wie ein Junge vor, Christlieb wie ein Mädchen. (Richter S. 276)
Und weiter:
"Die doppelte Zeit der Utopie bezeichnet Kindheit auch im pädagogischen Diskurs. Jean Paul schreibt in Levana : 'In der Kinderwelt steht die ganze Nachwelt vor uns, in die wir, wie Moses ins gelobte Land, nur schauen, nicht kommen; und zugleich erneuert sie uns die verjüngte Vorwelt, hinter welcher wir erscheinen mußten; denn das Kind der feinsten Hauptstadt ist ein geborener Otaheiter [Tahitianer J.R.], und der einjährige Sanskulotte [jakobinischer, nicht-christlicher Pariser Arbeiter 1789 J.R.] ein erster Christ, und die letzten Kinder der Erde kamen mit dem Paradiese der ersten Eltern auf die Welt.' Hier erscheint die Kindheit als verlorenes Paradies der Vergangenheit und als gelobtes Land der Zukunft, oder, wie es Novalis sagt, das 'wiedergefundene Paradies' ist die 'zweite höhere Kindheit'."
(Richter S. 256)
Wofür steht Kindheit heute, - für Sie, für uns?

Abgesehen einmal von den eigenen Kindern oder Enkelkindern, die zur Schule gehen und täglich ganz realpolitische Ansprüche stellen...

Bevor wir etwas Musik hören, erinnere ich an eine andere romantische Idee, die Furore gemacht hat: die des "unschuldigen Auges", "the innocence of the eye". Sie geht auf John Ruskin zurück, allerdings auf eine bloße Fußnote, in der er

"das kindliche Wahrnehmen zum Maßstab erhob, so als sei jedes Kind ein Künstler und anderen Menschen allein deshalb überlegen, weil die Konditionierungen der Gesellschaft und Zivilisation es noch nicht manipuliert haben."
Ich zitiere aus einer schönen Darstellung in Wolfgang Ullrichs Buch "Was war Kunst".
"Dazu paßt", [so schreibt er,] "daß Schiller bereits 1796 in seinem Aufsatz 'Über naive und sentimentalische Dichtung', der zu einem Grundtext der Romantik wurde, festgestellt hatte, die Erwachsenen würden 'aus der Beschränktheit unsers Zustands (...) zu der gränzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner reinen Unschuld hinaufsehen. Und weiter: '... es ist (...) die Vorstellung seiner reinen und freyen Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt.'
Das Naive als das Nicht-Geformte und damit auch Nicht-Deformierte gerät hier zur Projektionsfläche unerfüllter Wünsche, vor allem aber wird es eine Qualität, die eine ursprüngliche Einheit des Menschen mit der Natur, einen paradiesischen Urzustand verheißt - bevor vom Baum der Erkenntnis gekostet und der Zustand des Selbstbewußtseins, der Kultur und Zivilisation, erreicht wurde."
(Ullrich S.149)
Sie haben Gelegenheit, die Unschuld des Ohres zu üben: aber die Kinder, die Sie hören, - ich stelle Ruskins Anmerkung auf den Kopf - sind auf wunderbare Weise von den Konditionierungen ihrer Gesellschaft und Zivilisation manipuliert worden.
Das bemerken wir am wenigsten, wenn es fremde Kinder sind, wie diese, zwar keine "Otaheiter", sondern zwei Pygmäenmädchen, die miteinander in ihrer Laubhütte ein Schlaflied singen, danach ein Junge mit dem Familien-Ensemble aus Rajasthan und schließlich - ein Tölzer Knabe.
1) MUSIK Collage:
a) Pygmäen-Mädchen "Berceuse"
Centrafrique Anthologie de la Musique des Pygmées Aka (Simha Arom)
OCORA HM 83x2
b) Singender Knabe aus Rajasthan
Sikhander Khan & Kohinoor Langa Group
World Network 34 Rajasthan Nr. 58.396 LC 6759
c) "Das himmlische Leben" Mahler IV. Sinfonie, letzter Satz, letzte Strophe,
Helmut Wittek, Knabensopran
Concertgebouw Orkest Amsterdam, Leonard Bernstein
DGG 435 168 2
Sie wissen, Mahler verlangt für diesen Part keine Knabenstimme, er schreibt zum Beginn des Sopran-Solos: "Singstimme mit kindlich heiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie!"
Man könnte auch einwenden, dass in dieser Aufnahme unter der Leitung von Leonard Bernstein das Mahlersche "Als-Ob" getilgt wurde, indem nicht eine erwachsene Sängerin die Rolle des Kindes "spielt" (imaginiert), sondern das Kind selbst spricht.

Aber - wieso vermuten wir überhaupt, dass dieser Text der Phantasie eines Kindes entspringt? Natürlich, Mahler hat uns dazu veranlasst. Aber in "Des Knaben Wunderhorn" steht darunter ganz einfach "Bairisches Volkslied".
Wir hätten es fast nicht bemerkt, dass Gustav Mahler unversehens "Volk" und "Kind" als Ein und Dasselbe gesehen hat.

Was unsere kleine Collage unter anderem verdeutlichen sollte:
wie leicht es ist, mit der Vorstellung Kind zum "ganz Anderen" überzugehen, zum wilden Kind, "Wolfskind", aber auch zum "edlen Wilden", geborgen in Wald, Hütte oder Zelt, zur "Unschuld", zur vermuteten friedlichen "Kindheit aller Menschen".
Das erwähnte Buch von Dieter Richter "Das fremde Kind - Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalter"; enthält auch das Kapitel "Die kleinen Wilden / Der ethnologische Blick auf die Kindheit" (Richter S. 139) und er schreibt:
"... die Einstellung des intellektuellen Europäers zum 'wilden Kind' und zum 'kindischen Wilden' [ist] durchaus ambivalent," (...) "der Wilde galt auch als Barbar: Menschenfresserei wurde ihm nachgesagt, vom dreieinigen Gott im Himmel hatte er keine Begriffe, nackt ging er, ohne Scham, Arbeitsamkeit und Fleiß waren ihm fremd."
(Richter S. 158)
Und Adorno legt den Finger auf die "himmlischen" Wunderhornzeilen:
"Verewigt in ihnen sind [auch] Blut und Gewalt, Ochsen werden geschlachtet, Rehe und Hasen laufen zum Festschmaus auf offener Straße herbei. Das Gedicht kulminiert in einer aberwitzigen Christologie, die den Heiland der darbenden Seele als Nahrung serviert und unwillentlich das Christentum als mythische Opferreligion verklagt: 'Johannes das Lämmlein auslasset, der Metzger Herodes drauf passet.'"
(Adorno Mahler S. 82)
Meine Damen und Herren, wir sind noch nicht so weit davon entfernt.
Das jüngste Zeugnis dieser fortdauernden Ambivalenz: Der schnelle Aufstieg des Buches "Dschungelkind" in die Bestsellerlisten und der Autorin Sabine Kuegler in die Talkshows;
Cover des Buches 'Dschungelkind' von Sabine Kuegler
- ein Coverfoto, das sie als Kindfrau mit großen blauen Augen zeigt, ebenso rührend wie das rückwärtige Foto des Buches: die Autorin als kleines weißhäutiges Mädchen, Stirn an Stirn mit einem schwarzen Jungen, lachend, im Dschungel von West-Papua, bei einem vergessenen Stamm von Kannibalen(!), so die Erklärung und die Unterzeile: "Vom Mädchen, das aus der Steinzeit kam."
Dem Stichwort "Kannibalen" folgen weitere verkaufsfördernde Irritationen: "Schwimmen mit Krokodilen im Fluss" und "alte Rituale des Tötens".

Der Ethnologe Albert Wirz:
"Und so haben sich Europäer die überseeische Welt im wesentlichen als eine verkehrte Welt vorgestellt, außerdem als Fenster in die Vorzeit der Menschheitsentwicklung. Kinder im Vergleich zu Erwachsenen nannte Friedrich Schiller folgerichtig die überseeischen Völker. Und noch Sigmund Freud, der große Interpret des bürgerlichen Bewußtseins, setzte bekanntlich Kinder, Wilde und Irre gleich."
So Albert Wirz in seinem Aufsatz "Das Bild vom anderen". (Wirz S. 161)

Um so erfolgreicher waren die Wunschbilder des Kindes oder des fremden, allzu unschuldigen und allzu harmlosen Erwachsenen, der in den Westen kommt und sich aufklärerisch wundert, - erfundene Gestalten, die uns ins Gewissen reden, der afrikanische Häuptling Lukanga Mukara, der Südseehäuptling Papalagi oder der Indianerhäuptling Seattle. Sie alle fördern etwas zutage, was wir zur Entlastung des Gewissens brauchen. Zugleich lauter Versuche, unsere Gewohnheiten in Frage zu stellen.

In diesen Zusammenhang gehören die Taubstummen, also auch der Welt Entrückte, "der Welt Abhandengekommene", die dank ihrer Einschränkung den alltäglichen Schranken des Bewusstseins entrückt sind und deren Innenwelt uns Real-Praktikern, in realen Zwängen Befangenen, nur in einem mühsamen, heilsamen Prozess zugänglich gemacht werden kann.

Wolfgang Rihms und anderer Faszination durch die merkwürdigen Werke Adolf Wölflis gehört dazu, Heinz Holligers Vertonung der Verse von Scardanelli/Hölderlin, vielleicht sogar - um bei ihm zu bleiben - seine Entdeckung der Lyrikerin Anna Maria Bacher, die in einem dem Untergang geweihten Alpental im Dialekt "Pumatter Titsch" dichtet.
"Die Begegnung mit Bachers Lyrik war für mich wie ein Naturereignis, wie eine gewaltige Lawine oder ein unglaubliches Gewitter, ein Hagel. Ihre Sprache wirkt völlig unverbraucht."
(Holliger in Programmheft Witten 2004 S. 31)
Mahler sprach von dem Wunderhorn-Gedicht "Das himmlische Leben" ähnlich begeistert, wenn auch mit weniger starken Worten: "Er sah in ihm eine eigenartige Mischung von 'Schelmerei' und 'tiefstem Mystizismus' und bewunderte an ihm ein Vorstellungsvermögen, das 'alles auf den Kopf' stellt und die Kausalität außer Kraft setzt". (Floros III S. 103)
Auf die "Schelmerei" bzw. den Schelm, den Narren darin, kommen wir gleich.

Die im wahrsten Sinne des Wortes bahnbrechende Wirkung, die Adornos Mahler-Buch seit 1960 ausübte, liegt nicht zuletzt in der Durchleuchtung und Aufwertung der Begriffe, die bis dahin gegen Mahler verwendet worden waren: die Brüche in seiner Musik, dann: das Naive, das Kindliche, das Volkstümliche und schließlich: Trivialität, Banalität (Adorno Mahler S.143).
Adorno tut es mit Hilfe eines geradezu christologischen Paradoxons: Die Schwäche ist in Wahrheit seine Stärke.

"Die Verletzung des Niveaus durch Mahler, gleichgültig ob Absicht oder nicht, wird objektiv zum Kunstmittel. Gebärdet er sich kindisch, so verschmäht er, erwachsen zu sein, weil seine Musik der erwachsenen Kultur auf den Grund schaut und herauswill."
(Adorno a.a.O. S. 176)

Ähnlich spricht er über volkstümliche oder schlagerhafte Elemente, - dergleichen werde bei Mahler "zur herausfordernden Allianz mit der Vulgärmusik. Schamlos paradieren seine Symphonien mit dem, was allen in den Ohren liegt, Melodieresten der großen Musik, schalen volkstümlichen Gesängen, Gassenhauern und Schlagern. (...)" [Adorno führt das noch näher aus, um dann das Paradoxon anzuwenden:] "Jakobinisch stürmt die untere Musik in die obere ein. Die selbstgerechte Glätte der mittleren Gestalt wird demoliert vom unmäßigen Klang aus den Pavillons der Militärkapellen und Palmengartenorchester. Geschmack hat für Mahler so wenig Autorität wie für Schönberg."
(Adorno a.a.O. S. 53)

Adorno weist nach, dass "das Novum der Mahlerschen Konzeption erzeugt [wird] durch etwas, was isoliert genommen reaktionär gescholten werden könnte." (Adorno a.a.O. S. 84)
"Das reaktionäre Moment von Mahlers Musik ist ihr Naives. Von jeher hat dessen Verschränktheit mit Unnaivem bei ihm als Widerspruch besonders aufgereizt; die Physiognomik einer Musik, in der allbekannte volkstümliche Wendungen mit Bedeutung geladen werden, während sie umgekehrt keine Zweifel hegt an der Selbstverständlichkeit des hoch getriebenen symphonischen Anspruchs."
(Adorno a.a.O. S. 84)
Man kann diese Physiognomik durchaus mit der des realen Menschen Mahler zusammensehen, dessen widersprüchliche Persönlichkeit im Titel einer Monographie von Constantin Floros auf zwei Extreme reduziert ist: "Visionär und Despot". In der Tat werden im Text verschiedene Paare konträrer Charaktereigenschaften behandelt. Ich zitiere:
Extrem gegensätzliche Züge scheinen für ihn charakteristisch gewesen zu sein. Als Gegenpol zu seiner Dämonie wäre seine Kindlichkeit oder Kindhaftigkeit zu nennen - ein Charakterzug, der vielen auffiel. Dem Wiener Kritiker Felix Salten nach war er heiter, spielerisch, sanft und von einer "rührenden Kindlichkeit der Seele", die ihm aus den hellen Augen strahlte.
Sein Biograph Richard Specht, der ihn persönlich sehr gut kannte, nannte ihn einmal "ein großes Kind". Er schreibt: "Dieser oft unheimlich scharfsinnige Mensch, der durch die funkelndsten Paradoxen, geschliffensten Antithesen und schneidendsten Ironien des Dialogs gleich einer unbefangen natürlichen Gesprächsfunktion überraschen und wehrlos machen konnte, vermochte er es noch mehr durch die reine, unberührte Kindlichkeit seines Wesens. Er war jäh vertrauensvoll und jäh mißtrauisch wie ein Kind."
Und auch Alma spricht im Zusammenhang mit Mahlers Gedanken über das Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen von seiner Naivität und Kindhaftigkeit. "Das konnte man nicht gleich verstehen, wenn man ihn zuerst sprechen hörte."
(Floros "Visionär" S.39f)

Als Nietzsche-Leser hätte Mahler auf die drei Verwandlungen des Geistes verweisen können, die in "Also sprach Zarathustra" dargelegt werden: vom tragsamen Kamel zum Löwen, der sich Freiheit schafft, und endlich zum Kind. "Aber", so fragte Zarathustra:
"...was vermag noch das Kind, das nicht der Löwe vermochte? (...) Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein Ja-sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene."
(Nietzsche S.27)
Der zuweilen der Welt abhanden gekommene Mahler war sich der Neuartigkeit seiner Vierten völlig bewusst, und auch der Tatsache, dass er gewissermaßen als Kind herangehen musste:
Sie sei "so grundverschieden von meinen anderen Symphonien", schrieb er, er habe sich damit gefunden, "in jedem neuen Werk neue Bahnen" zu durchmessen.
"Darum wird es im Anfang immer so schwer, ins Arbeiten zu hineinzukommen. Alle Routine, die man sich erworben, nützt einem nichts. Man muß von neuem erst wieder lernen für das Neue.
So bleibt man ewig Anfänger !"
(Floros III S. 110)
Mahler brauchte die Haltung der Kindlichkeit, er brauchte die Situation des Anfängers und spielte sie aus gegen die Routine des "realitätsgerechten" Erwachsenseins.
Und in diesen Zusammenhang (der Zweckfreiheit, des Nicht-Eingebundenseins den eingeschliffenen Diskurs) gehört auch die Rolle des Narren.

Adorno über den Anfang der Vierten von Mahler:

"Die Schelle des ersten Takts, die ganz leise die Flötenachtel anfärbt, hat von jeher den normalen Hörer schockiert, der sich zum Narren gehalten fühlte. Wirklich ist es eine Narrenschelle, die, ohne es zu sagen, sagt: Was ihr nun vernehmt, ist alles nicht wahr."
(Adorno Mahler S. 81)
2) MUSIK Mahler "Vierte" Anfangstakte Satz 1 bis 0:55
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Michael Gielen
hänssler classic CD 93.130 (LC 13312)
"Was ihr nun vernehmt, ist alles nicht wahr."
Es ist die Ankündigung des vorhin erwähnten "Als-Ob".
Kann man es denn nicht so sagen, dass es "wahr" ist?
Schon das Thema wirkt wie ein Zitat, man hat es rokokohaft genannt und auf Joseph Haydn bezogen, Sie sollten Sie unbedingt im Ohr behalten.
Tatsächlich wurde es aber von Schubert angeregt, vom 2. Thema der Es-dur-Sonate op. 122.
3) MUSIK Schubert Klaviersonate in Es-dur D.568 1. Satz, 2. Thema 0:57 bis 1:19 EMI Classics 7243 5 65485 2
Adorno schreibt:
"Die gesamte Vierte Symphonie schüttelt nichtexistente Kinderlieder durcheinander; ihr ist das goldene Buch der Musik das Buch des Lebens." (S. 79)
Und an anderer Stelle:
"Auf dem Höhepunkt des ersten Satzes wird ein absichtsvoll infantiles, lärmend lustiges Feld erreicht, dessen Forte immer ungemütlicher wird bis zur Rückleitung mit der Fanfare." (S.78)
Später sagt er:
"So wie jenes Lärmfeld machen Kinder Lärm, die auf Töpfe schlagen und womöglich sie zusammenhauen. Der Zerstörungsdrang, der böse hinter aller Triumphmusik lauert und sie beschämt, wird entsühnt als unrationalisiertes Spiel." (S. 79)
Sie hören jetzt dieses "Lärmfeld" und die raffiniert eingefädelte Rückkehr des grazilen Hauptthemas.
4) MUSIK Mahler "Vierte" Lärmfeld ab 9:25 bis 10:52 (blenden bis 11:01)
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Michael Gielen
hänssler classic CD 93.130 (LC 13312)
Bei der Beschreibung dieser Stelle - mit dem Innehalten bei der Wiederkehr des Hauptthemas - geht Adornos Identifizierung mit Mahler so weit, dass er - ohne den verblüfften Leser über sein eigenes "Als-Ob" aufzuklären - Kindheitsbilder in Mahlers Vierte hineinliest, die seine eigenen sind.
So schreibt er (Adorno Mahler S.79):
"Wenn dann, nachdem die Durchführung unterm Diktat der Fanfare, versickernd den Reprisenbeginn maskiert hat, die [Lärm-] Musik mit einer Generalpause von der Szene gejagt wird, bis plötzlich das Hauptthema inmitten seiner Reprise fortfährt, so gleicht das dem Glück des Kindes, das jählings aus dem Wald durchs Schnatterloch auf dem altertümlichen Miltenberger Marktplatz sich findet."
(Mahler, publiz. 1960)
Obwohl die erwähnten Orte eher mit Adorno als mit Mahler zu tun haben, hebe ich diese Stelle hervor, weil es doch beruhigend ist, in welchem Maße der Meister des strukturellen Hörens zuweilen ganz konkreten Assoziationen Raum gab, wenn er sie auch unentschlüsselt lässt.
Nirgendwo in seinem Mahlerbuch oder vorhergehenden Werken, findet man einen Hinweis, was es mit dem "Schnatterloch" auf sich hat. Erst sechs Jahre später errät man in einem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung die Auflösung: in der Gegend von Amorbach war Adorno häufig als Kind mit seinen Eltern in der Sommerfrische.
"Besser als mit der Kleinbahn nach Miltenberg zu fahren, die auch ihre Meriten hatte, war es, dorthin von Amorbach auf einem weiten Höhenweg zu gehen. Er führt über Reuenthal, ein sanftes Taldorf abseits vom Gotthard, angeblich die Heimat Neidhards, und über das stets noch einsame Monbrunn, in geschwungenem Bogen durch den Wald, der sich zu verdichten scheint. In seiner Tiefe birgt sich allerhand Gemäuer, schließlich ein Tor, das man der Kälte der waldigen Örtlichkeit wegen Schnatterloch nennt. Durchschreitet man es, so ist man plötzlich, ruckhaft ohne Übergang wie in Träumen, auf dem schönsten mittelalterlichen Marktplatz."
(Amorbach, publiziert. in SZ November 1966)
Wenn solche Bilder evoziert werden und überzeugen (!), ist der Weg nicht weit, Mahlers regelmäßig wiederkehrendes Dilemma zu verstehen:
einerseits eine Vorstellung von der Idee und dem Ideengang seines Werkes zu geben, - da es "naiv" zu verstehen sein soll, nicht erst dank musikwissenschaftlicher Analyse - andererseits nichts mehr zu fürchten, als dass sie an einem realen Handlungsverlauf oder Ideengang festgenagelt werden könnte.
In der Tat hat ja jedes inhaltliche Wort eines Komponisten unerhörtes Gewicht, und es führt möglicherweise noch mehr als das eines x-beliebigen Kommentators von der intensiven Betrachtung des realen klanglichen Geschehens weg zu einer fortwährenden oberflächlichen Übersetzungsarbeit: was bedeutet dies, was bedeutet jenes?
Und genau diese Eindeutigkeit soll sich nicht einstellen: wenn tatsächlich etwas über das ewige Leben ausgesagt werden sollte (oder könnte), müssten keine kindlichen Wunderhornverse herangezogen werden.

Es kann ja nicht sein, dass der erste Satz akzeptabler wird, wenn man ihn umbenennt: mir persönlich gefällt Mahlers ursprüngliche Idee, ihm die Überschrift zu geben: "Die Welt als ewige Jetztzeit". Vielleicht lockert aber dieser Titel nur meinen Widerstand gegen naive Vorstellungen vom ewigen Leben , - wie könnte ich mich denn weigern, eine andere Dimension kennenzulernen als die des linearen Zeitverlaufs? Allerdings - auch der Komponist könnte sich geirrt haben, weil er mit Worten anders umgeht als mit Tönen. (Dies ahnend, distanziert er sich von allen schon gegebenen verbalen Hilfen.)

Wenn die Idee für den zweiten Satz lautet: "Todtentanz" oder "Freund Hein spielt zum Tanz auf": und in Wirklichkeit steckt da soviel drin an wunderbarster Polyphonie, möchte man es mit Michael Gielen halten, dem es lieber wäre, man wüsste nichts von der Überschrift.
"Wenn sich das (...) jemand zur Musik dazudenkt, dann ist das sein gutes Recht; aber wenn der Komponist das schon vorher sagt, bleibt dem Hörer [ja] gar kein Ausweg..."
Und wie ist es mit dem Lächeln der Heiligen Ursula im Adagio?
Mahler soll auch gesagt haben, er habe an seine Mutter gedacht, von St. Ursula wusste er nicht viel, ausschlaggebend war wohl, dass sie als ernst und fromm galt, so dass es etwas zu bedeuten hat, wenn sie diesen längsten Satz des Werkes mit ihrem Lächeln und Anflügen irdischer Traurigkeit erfüllt.

Dass Constantin Floros, der ansonsten nicht den winzigsten aufspürbaren Realitätsbezug zu erwähnen versäumt, die strahlende Koda dieses Satzes nicht benennt, ist merkwürdig, da Hans Ferdinand Redlich sich ganz sicher ist, dass hier - er sagt es wirklich so - "ein Hechtsprung in die Niederungen der Programmmusik" stattfindet: "die herzbewegende Vision eines Kindes: die Tore der Himmelsstadt öffnen sich weit im Getöse der Harfenglissandos und der arpeggierenden Streicher", "im Geschmetter der Bläser" und "im Donner der Pauken".
Nicht nur durch die Lautstärke ragt die Koda so auffällig aus dem Kontext hervor, auch mit dem so unvermittelt einsetzenden E-dur im G-dur-Satz. Erwähnt sei, dass das G-dur-Finale vom Himmlischen Leben und damit die ganze G-dur-Sinfonie, in E-dur endet, mit der Strophe "Kein Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden."

An Bach geschulte Exegeten würden vielleicht die Takte am Ende des 3. Satzes zählen, bei der Vision der Himmlischen Stadt:
12 Takte für das Fortissimo in E-dur, 12 für die Rückkehr ins Pianissimo und zum G-dur, und 12 plus 4 Takte für das Ersterben.
Ich kann das nicht erwähnen, ohne auch die Vision zu verlesen, die in der Offenbarung des Johannes steht. Da wird das neue Jerusalem beschrieben. Nach den endzeitlichen Kämpfen und der Niederringung des Drachen, des Bösen, ertönt ein neuer Gesang, das Halleluja. Der Seher schaut "den neuen Himmel und die neue Erde...und ich sah die heilige Stadt als neues Jerusalem, aus dem Himmel niederschweben". (Offb 21,1f)
Dann wird diese neue Stadt beschrieben. Ein Engel nimmt ihn mit auf einen Berg, er sieht, wie die heilige Stadt vom Himmel niederschwebt. Sie hat zwölf Tore, auf die die Namen der zwölf Stämme Israels geschrieben sind. Die Zahl Zwölf erscheint ein weiteres Mal, denn die Mauern haben zwölf Grundsteine, auf denen wieder die Namen der zwölf Stämme geschrieben stehen. Das Gefüge der Mauern ist Jaspisstein, die Stadt selbst ist aus Gold, ihre Grundsteine sind aus Edelstein.

Ich erwähne das nur, wenn Sie über die Vielzahl der Motive, die da zu hören sind, hinaus noch eine Erklärung brauchen, - die aber zweifellos von ziemlich weit her geholt ist. Ich kann Ihnen diese Takte nicht vorspielen, ohne darauf aufmerksam zu machen, dass der von Hans Ferdinand Redlich erwähnte "Hechtsprung in die Niederungen der Programmmusik" - doch wenigstens nach oben geht! Jetzt gleich, nach dem Pianissimo:

5) MUSIK Mahler "Vierte" 3. Satz Koda "Himmlische Stadt"
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Michael Gielen
hänssler classic CD 93.130 (LC 13312)
An keiner Stelle sagt uns diese Symphonie, was wir glauben sollen, auch nicht an dieser. Die Imago des Kindes bedeutet Infragestellung all dessen, was der Erwachsene für Realität hält oder an realem Bezug verlangt.
Rudolf Krämer-Badoni hat in seinem heute leider vergessenen Buch "Über Grund und Wesen der Kunst" die Frage gestellt, was die Kunst uns denn über die Realität vermittle. Z.B. in einer idyllischen Szene wie der folgenden:
" Auf der steilen Ufermauer am Fluß liegt eine Eidechse, grün und braun, unbeweglich, nur die papierdünne Haut am Hals schwillt und schrumpft im Atmen, ein Grashalm kitzelt sie, das schert sie nicht, dann dreht sie die Augen zu dir, hast du dich bewegt? Plötzlich ist sie in einer Mauerritze verschwunden. -
Wenn der Dichter dieses kleine Bild so darstellt, daß wir die unbewegliche Szene ganz deutlich vor den Augen des Geistes haben, was ist dann gelungen? Das Wesen der Eidechse? Überraschend genaue Erinnerung an Eidechsen, die wir schon gesehen haben? So glauben wir leichtlich."
Falsch!
"Indem die geschriebene Szene mit der Sommerechse Glück ins Herz des Lesers gießt, stellt sie nicht fest, daß dies eine intensivierte Eidechse und ein verewigter Sommer sei, sondern stellt sie wortlos fest, daß es verstattet ist, glücklich zu sein.
Wir wissen zwar, daß wir eines Tages alles verlieren, daß wir ein geschlagenes Geschlecht sind, aber davon reden wir jetzt nicht. Jetzt ist die Eidechse auf der Ufermauer mit dem kitzelnden Grashalm und dem Sommer ringsum" [ich kürze Krämer-Badonis Gedankengang ab:]
"ein Symbol"...für uns selbst, für den "gezielten Traum" unseres Lebens."
"Wenn wir im rechten Augenblick 'jetzt' sagen, schweigt die Tragik und schweigt die Komik, redet nur Glück."
(Krämer-Badoni S. 66 ff)
Wir erinnern uns an Mahlers Überschrift zum ersten Satz, die auch über der ganzen Vierten stehen könnte: "Die Welt als ewige Jetztzeit".
Rudolf Krämer-Badoni:
"Die Sphäre des Kunstwerks ist so sehr reine Intentionalität, daß die Begriffe des Wohlgefallens, der Freude, des Glückes, des Genusses beiläufig und im strengen Sinn überflüssig sind."

Der Musikphilosoph Victor Zuckerkandl (1896-1965) hat sich - merkwürdig fern von Adorno und wohl auch von Mahler - zu interessanten ästhetischen Einsichten vorgewagt:
In einem Essay erzählt er den berühmten Traum eines chinesischen Weisen (und Sie ahnen, dass ich dabei an Mahlers Kinder-Traum denke). Dschuang-Dschou träumt, er sei ein Schmetterling, der sich glücklich fühlt und nichts weiß von Dschuang-Dschou. Plötzlich wacht er auf: Da ist er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang-Dschou... Oder?
Ganz sicher ist er sich nicht, ob es nun Dschuang-Dschou ist, der geträumt hat, dass er ein Schmetterling war, oder ob der Schmetterling noch immer träumt, dass er Dschuang-Dschou sei.

Es geht also um den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit, dessen wir uns nicht so gewiss sein können, wie wir gemeinhin meinen. Ich zitiere:

"Das Kunstwerk ist wie der Wahrtraum, den die Welt im Geiste eines Menschen von sich selber träumt. Und in einer Welt, in der unmittelbare Begegnung mit Göttlichem nicht mehr stattfindet, ist es das Kunstwerk allein, in dem unmittelbare, an keinen ausdrücklichen Glauben gebundene Begegnung mit der Wahrheit sich ereignet."
Und weiter:
"Der Schmetterlingstraum sollte nun das Beunruhigende verloren haben, das ihm anfangs anhaften mochte. Der Gedanke, daß die Wirklichkeit in Wahrheit nur Traum sei, hat wenig Erschreckendes, wenn man erkannt hat, daß die Wirklichkeit selber in Wahrheit eben nur Wirklichkeit ist. Beide, Traum und Wirklichkeit, erscheinen nun als defiziente Zustände, gemessen an dem vollkommeneren Dritten, das beide in sich enthält, das gleichsam von einem zum anderen schwingt wie ein Pendel zwischen seinen beiden Extremen. Das Hin und Her des Schmetterlingstraumes ist das Sinnbild dieses verbindenden Dritten, das mehr ist, das wirklicher und wahrer ist als jedes der beiden Extreme und in dessen Schwingen, in dessen Atmen wir jenseits unseres Träumens und unseres Wachens unsere wahre Heimat finden. (...)"
Soweit Victor Zuckerkandl.
Adorno hätte das nicht unterschrieben. ("Viel zu affirmativ!")

Was ist realer Mahler, was konkretes Programm? Was ist absolute Musik?
(Ist das "Als-Ob" so deutlich, dass es als Verweigerung jedes konkret benennbaren Bezugs zur Realität aufgefasst werden kann?)
Ich möchte mich mit dem Wort eines Wissenschaftlers aus der Affäre ziehen, um von der Wahrheitsfrage loszukommen...:

Drei Worte, die Rudolf Stephan 1965 in einen Darmstädter Vortrag eingeschmuggelt hat, der sich eigentlich von Anfang bis Ende in die kleinsten thematischen und motivischen Details der Vierten von Mahler versenkt und endlich auf den Schlußabschnitt des Finales kommt, wo es im Text heißt
"Kein Musik ist ja nicht auf Erden,
die uns'rer verglichen kann werden."
Nein, so sagt es der Wissenschaftler eben nicht, - er lässte sich hinreißen und sagt:
"...wo es im Text mit vollem Recht heißt:
'Kein Musik ist ja nicht auf Erden,
die uns'rer verglichen kann werden'."
Ja, wirklich, er sagt es auch mit vollem Recht!

Wir können uns auf die Musik heute abend freuen und alles andere vergessen.

Zitierte Literatur:

  • Theodor W. Adorno: Mahler - Eine musikalische Physiognomik
    Frankfurt am Main 1960 / 1963

  • Theodor W. Adorno: Amorbach
    in: Ohne Leitbild
    Frankfurt am Main 1967

  • Theodor W. Adorno: Wiener Gedenkrede in: Quasi una fantasia
    zitiert nach:
    Digitale Bibliothek 97 Adorno Gesammelte Schriften, S. 13128 Band 16: Musikalische Schriften I-III: II Vergegenwärtigungen. (vgl. GS 16, S. 325)]

  • Constantin Floros: Gustav Mahler - III Die Symphonien
    Wiesbaden 1985
    ISBN 3-7651-0210-5

  • Constantin Floros: Gustav Mahler - Visionär und Despot
    Zürich-Hamburg 1998
    ISBN 3-7160-3901-2

  • Michael Gielen: Symphonies No.1-9 / Adagio
    SWF & hänssler classic
    2004 Booklettext Paul Fiebig (in Zusammenarbeit mit Michael Gielen)

  • Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang - Interpretationen der Sechsten Symphonie
    epOs-music, Osnabrück 2004
    ISBN 3-923486-60-X / ISBN 3-923486-61-8


  • Heinz Holliger: "Puneigä"
    in: Programmheft Wittener Tage für Neue Kammermusik 2004 (S.31)

  • Rudolf Krämer-Badoni: Über Grund und Wesen der Kunst
    Mit einem historischen Abriß der Dichtung und Kunsttheorie

    Ullstein Bücher Frankfurt am Main 1960

  • Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra
    Leipzig 1930

  • Hans-Ferdinand Redlich: Mahler - Symphonie IV. in G - Vorwort der Taschenpartitur
    Edition Eulenburg 1966

  • Dieter Richter: Das fremde Kind - Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters
    Frankfurt am Main 1987
    ISBN 3-10-063302-8

  • Heinz Rölleke: Nachwort zu: Des Knaben Wunderhorn - Alte Deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens von Brentano
    Frankfurt am Main und Leipzig 2003

  • Horst Rüdiger und Erwin Koppen (Herausg.): Kleines literarisches Lexikon - Sachbegriffe (Stichwort "Erzähler")
    Bern 1966

  • Rudolf Stephan: Betrachtungen zu Form und Thematik in Mahlers Vierter Symphonie (Mit einem Anhang über die verschiedenen Druckfassungen des Werkes)
    in: Neue Wege der musikalischen Analyse - Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt Band 6
    Berlin 1967

  • Wolfgang Ullrich: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs
    Frankfurt am Main 2005 ISBN 3-596-16317-X

  • Albert Wirz: Das Bild vom anderen - Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens
    in: Ethnozentrismus, herausgegeben von Manfred Brocker und Heino Heinrich Nau
    Darmstadt 1997

  • Victor Zuckerkandl: Wahrheit des Traumes - Traum der Wahrheit
    in: Vom musikalischen Denken - Begegnung von Ton und Wort
    Zürich 1964
© Dr.Jan Reichow 2006




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