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Nachtrag zu Chopins Mazurken (Jan Reichow November 2009)
vgl. Herzschlag der Mazurka - CD-Text zu Evgenij Koroliov (Mai 2009) bei Tacet 0183-0




In Leipzig wurde 1998 eine CD veröffentlicht, die Mazurken und Nocturnes auf einem Instrument der Chopin-Zeit bietet (Tröndlin ca. 1828-29), der Pianist Zvi Meniker hat sie eingespielt.

Chopin: Mazurken und Nocturnes (CD von Zvi Meniker) - Klicken zum Vergrößern!

aus: Chopin: Mazurken und Nocturnes (CD von Zvi Meniker) - Klicken zum Vergrößern!

Zvi Meniker bezieht sich ausdrücklich auf Chopins Aufführungspraxis und hebt im Booklettext das gleiche rhythmische Phänomen hervor, das ich anhand der Schilderung im Buch von Wilhelm von Lenz behandelt habe. Zvi Meniker zitiert allerdings einen anderen Bericht, nämlich den von Charles Hallé (der übrigens 1819 als Karl Halle in Hagen/Westfalen geboren wurde).

" ... die ganze Freiheit, mit der er [Chopin] den Rhythmus behandelte, ... schien so natürlich, daß ich sie jahrelang gar nicht bemerkte. Es durfte wohl 1845 oder 1846 sein, daß ich ihm einmal zu bemerken wagte, daß die meisten seiner Mazurken ... in seiner eigenen Wiedergabe nicht in 3/4, sondern in 4/4 zu sein schienen, wegen seiner Verlängerung der ersten Note des Taktes. Er hat es eifrig verneint, bis ich ihn zum Spielen einer Mazurka bewog und dazu hörbar vier Schläge zählte, die genau in einen Takt paßten. Darauf lachte er und erklärte, es wäre der nationale Charakter des Tanzes, der diese Eigenartigkeit erzeugte. Das Bemerkenswerteste am Ganzen war, daß man einen Rhythmus von ¾ empfand, als man den geraden Takt hörte. Es ist natürlich nicht in jeder Mazurka der Fall, aber doch in vielen. Mir wurde später gewahr, wie unklug ich war, diese Bemerkung zu machen ..., denn eine ähnliche Äußerung von Meyerbeer ... hatte zu einem ernsthaften Streit geführt, und ich glaube, Chopin hat ihm nie vergeben."
(Life and Letters of Sir Charles Hallé, London 1896)
Mir scheint, dass Zvi Meniker diese Beobachtung ein wenig zu unkritisch ausgewertet hat, wenn er schreibt:
"Diese Verlängerung des ersten Taktschlages versuche ich in mehreren Mazurken auf der vorliegenden Aufnahme wiederzugeben. Den Dreiertakt keineswegs störend, schafft man dadurch einen sehr reizvollen, hin- und herschwankenden Eindruck; die Musik wird immer weiter in Bewegung gehalten, bis zur Beruhigung am Schluß. Soweit es mir bekannt ist, hat noch kein Pianist versucht, diese Besonderheit, die durch eine Anzahl von Quellen bestätigt wird, nachzugestalten; die Entscheidung, ob es mir gelungen ist, sei dem Hörer überlassen."

Andere als die beiden genannten Quellen sind mir zwar nicht bekannt, insofern fehlt mir die weitere Bestätigung, aber es macht mich stutzig, dass schon diese beiden in einem entscheidenden Punkt nicht übereinstimmen: Meyerbeer hörte (nach Lenz) einen Zwei-Viertel-Takt, Hallé einen Vier-Viertel-Takt. Ich vertraue dem letzteren weniger, da er behauptet, dass 4 Schläge "genau" in einen Mazurka-Takt passen, dass man aber - auch wenn man diesen geraden Takt unterlegt - doch einen Rhythmus von 3/4 empfand... Wie soll das denn möglich sein?
Man stelle sich die linke Hand in 3 Vierteln vor, so wie sie üblicherweise gesetzt ist (etwa in Chopins op.24 Nr.1):
1) Tiefer Bass-Ton 2) Akkord 3) Akkord.
Hallé sagt einerseits, dass die 1) länger gehalten wird, andererseits sagt er nicht, dass sie doppelt so lang gehalten wird, wodurch sich ja der ominöse Vierertakt mit den restlichen Zählzeiten auf 2) und 3) rechnerisch rational ergeben würde. Er sagt aber, dass die 4 Schläge "genau" in den Rahmen des Mazurka-Taktes passen, dass also der Takt als Ganzes nicht etwa um einen Schlag verlängert wird.
Möglicherweise hat der berühmte Musiker, mit den Gepflogenheiten der Volksmusik nicht vertraut, Schwierigkeiten, eine irrationale Sachlage zu formulieren: nämlich, dass die Schläge 3 und 4 dieses imaginären Vierers nicht mit den irgendwie anders platzierten Vierteln 2 und 3 des Mazurka-Taktes zusammenfallen.
Es ist durchaus nicht (oder jedenfalls nicht ausschließlich) die erste Zählzeit des Mazurka-Taktes, die einen anderen Wert erhält. Vielleicht wirkt sie durch die irrationale Verteilung der zweiten und dritten Zählzeit leicht nach vorn verzogen, was zu der Fehldiagnose führen könnte, sie sei länger.

Wo liegt des Rätsels Lösung? Hallé irrt (und mit ihm Zvi Meniker), allein Chopins Hinweis auf den "nationalen Charakter des Tanzes" könnte auf die einzig richtige Spur bringen, und sie würde direkt in die polnische Region Kujawy führen. Man muss die originalen Tänze hören, die Chopin im Ohr hatte und unter den Oberbegriff Mazurka zusammenfasste: Kujawiak, Oberek und andere. Er hat sie als 14jähriger in seinen Ferien auf dem Lande selbst am Bass mitgespielt.

Am deutlichsten wird die traditionelle Aufführungspraxis in einem Tanz mit der Bezeichnung "Owczarek" (Sources of Polish Folk Music "Kujawy" Tr. 31):
Der "Unterbau" (Bass und Bratsche) spielt pro Takt 3 Töne, den tiefen Grundton A auf 1, danach auf 2 und 3 jeweils die höhere Quinte E: allerdings ist die 2 eindeutig gedehnt. In Achtelnotenwerten ausgedrückt, könnte man es sogar folgendermaßen wiedergeben: 2 + 3 + 2. Wenn man es aber etwas lässiger nimmt, kann man leicht den Rhythmus 1 + 2 + 1, also Achtel plus Viertel plus Achtel, hineindeuten. Das ergäbe eine Synkope, die man als Zweiertakt zählen kann, indem man Schlag 1 auf das erste Achtel , Schlag 2 in die Mitte des Viertels setzt, - und genau dies hat Meyerbeer offenbar getan!

Marian Sobieski, der 1953 eine Sammlung von Volksliedern aus Kujawy herausgegeben hat, schrieb im Vorwort: Typisch für die Melodien von Kujawy (insbesondere Kujawiak und Owczarek) seien Dreier-Rhythmen, mit häufigen Dehnungen auf dem zweiten Schlag des Taktes und mit Akzenten, die auf diesen Taktwert fallen.

Diese Dehnung hat nichts mit "Rubato" zu tun. Hallés Irrtum beruht auf einer Vorstellung, die aus der Kunstmusik kommt: dass die "geraubte Zeit" ("tempo rubato") innerhalb eines Taktes zurückgegeben werden muss (so dass die Gesamtrechnung stimmt).
Das hat die Volksmusik nicht nötig: niemand beklagt sich, wenn die heimliche Rechnung einen 7/8 Takt ergibt; es sind und bleiben 3 Schläge, 3 Tanzschritte, - auch wenn sie unterschiedliche Qualitäten haben. Im übrigen wird nicht "geraubt", sondern dazugeschenkt. (Aber auch die Schenkung müsste nach der Rubato-Theorie wieder ausgeglichen werden.)

In andern Fällen ergibt sich eine rechnerische Verkürzung des Taktes: Die Notation eines Stegreifliedes aus Kujawien (MGG 1996 Sachteil 5 "Mazurka" Sp.1703 f) nach J. Sobieska und M. Sobieski (1973) ...
Mazurka, Musikbeispiel aus MGG - Klicken zum Vergrößern!

(aus: MGG, a.a.O.; Klicken zum Vergrößern!)

... lässt einen 3/8 Takt aufführungspraktisch als 5/16 erscheinen; der Musikethnologe Jan Steszewski, der das Beispiel wiedergibt, spricht in diesem Zusammenhang allerdings doch von "Rubatovortrag":
"Innerhalb der im Mazurkarhythmus gehaltenen Stegreiflieder und instrumentalen Weisen ist der Rubatovortrag typisch, der im dreizeitigen Alla-breve-Takt auf einer traditionell freien ("irrationalen") Behandlung der einzelnen rhythmischen Werte (ohne jedoch den äußeren metrisch-rhythmischen Verlauf zu gefährden) basiert."
(MGG, a.a.O., Sp.1702 f)

Interessant, nach all diesen Überlegungen die beiden Versionen der Chopin-Mazurka op. 24 Nr. 1 mit Zvi Meniker und Evgenij Koroliov zu vergleichen: dort die überdeutlich gehaltene 1, hier die wechselnden Längen. In Anbetracht des relativ gleichförmigen Bassverlaufes wäre eine Aufführung im Sinne der Volksmusik (mit verlängerter 2) nicht abwegig.

Aber was rät uns denn Chopin selbst? Er gibt uns ja tatsächlich einen Rat, indem er eine Spielanweisung an den Anfang setzt.
Da steht - "rubato".
Und das heißt womöglich im Klartext:
"Rubato nach Maßgabe des Nationalcharakters"...




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