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Herzschlag der Mazurka (*)
von Jan Reichow

Ein Blick auf die Opus-Zahlen beseitigt ein mögliches Missverständnis: die Mazurken sind keine Nebenwerke Chopins: sie ziehen sich durch sein ganzes Leben. Noch die letzten musikalischen Gedanken, die er auf dem Totenbette skizzierte, galten einer rätselhaften Mazurka in f-moll, die mühsam entziffert und ergänzt wurde. Ein Dokument tragischer Resignation, in dessen chromatischen Windungen das dunkle Herzstück der Bachschen Goldberg-Variationen nachklingt (op. 68 Nr.4).
Die anderen Nummern dieser posthum zugeordneten Opuszahl gehören allerdings in Chopins frühe Zeit, in der auch die Etüden op.10 entstanden (1829/30), während die scheinbar frühen Mazurken op. 6 lediglich die ersten waren, die er in die Öffentlichkeit entließ.

Ein unverständlicher Irrtum schleppt sich durch die Chopin-Literatur und wurde erst durch das bahnbrechende biographische Werk von Tadeusz Zielinski korrigiert: die Mazurka in a-moll, op. 17 Nr.2, eins der tiefsinnigsten Tongebilde im Gesamtwerk des polnischen Meisters, ist kein Werk des Vierzehnjährigen, als das es 1873 von einem frühen Biographen ausgegeben wurde (überdies mit dem irreführenden Beinamen "kleiner Jude"); es stammt vielmehr aus seiner Pariser Zeit, in der auch das himmelstürmende Projekt der Etüden op. 25 umgesetzt wurde.
Diese Mazurka a-moll ist die einzige, die - ähnlich wie die Etüde op.25 Nr.11, ebenfalls in a-moll - mit einem Motto beginnt, nachdenklich, zögernd, sotto voce (mit gedämpfter Stimme), ohne allerdings wie jene mit einem Kraftausbruch zu antworten; sie verharrt in einer unsagbar trostlosen Stimmung. Weshalb sie dennoch Trost spendet, gehört zu den Geheimnissen solcher Musik.
Rein technisch gesprochen, entzieht sich diese Mazurka jeder rationalen harmonischen Analyse, sobald die vier Takte des Themas, die der Einleitung nachgebildet sind und dann mit zwei Akkorden darüber hinausführen, verklungen sind.
Was folgt, sind chromatisch absinkende Gesten, die über F-Dur, e-Moll, dis-Moll, d-Moll einen tonalen Grund zu suchen scheinen und stattdessen dasselbe noch einmal sagen, mit melodischen Girlanden sanft verschleiert, überboten schließlich von einem hauchzarten rhythmischen Befreiungsschlag, mit Mazurkaakzent, eine grazil hochschnellende und fast leichtfertig hingeträllerte Volte, mit der die Tonika a-moll endlich erreicht ist. Unvermerkt aber gleiten wir damit aufs neue in die Wiederholung des Themas, das auf harmonisch so fragwürdigem Grund steht.
Es ist eine ausweglose Geschichte, die hier erzählt wird. Der A-Dur-Mittelteil mag es gut meinen mit seinem permanenten Basston A und den draufgelagerten Quinten; die Geborgenheit in ländlicher Ruhe erweist sich als latent bedrohlich und gipfelt in einem Fortissimo-Aufschrei, der den geschärften Mazurka-Rhythmus des ersten Teils in Erinnerung ruft, den hauchzarten Befreiungsschlag, und das Spiel beginnt von vorn und endet - ohne zu enden.
Ein trostloser Trost - die Mazurka ist Chopins Lebenselixier. Eine Ahnung von Heimat, Erinnerung und Zukunft, Kindheit für ein ganzes, allzu kurzes Leben.

Aber was ist das für ein Rhythmus? Ein Dreier-Takt wie der Walzer, ansonsten ein Chamäleon: am Anfang steht oft ein betonter punktierter Rhythmus (lang-kurz-lang), es kann auch eine weiche Triole sein, auch eine Zweiergruppe, und in allen drei Fällen kann die gedachte Betonung der ersten Note fehlen, indem sie vorweggenommen und als Auftakt übergehalten wird. Oft hat erst die zweite Zählzeit des Taktes ein besonderes Gewicht, oft ist es gerade die dritte Zählzeit, auf der die melodische Phrase endet, - es wäre müßig, alle Möglichkeiten aufzulisten, und doch hat man den Mazurka-Charakter erfasst, kaum dass sie angefangen hat.

Nun gibt es sie aber gar nicht, "die" Mazurka: es gibt die gesungene, die gespielte und getanzte, die langsame, schnelle, mittelschnelle, sehr schnelle, aber streng genommen hieße sie dann auch Mazurek, Oberek, Ksebka, Kujawiak usw., - fest steht nur: es sind allesamt polnische Tänze, gleichwohl nicht zu verwechseln mit der Polonaise.
Ihr Ursprung liegt in Kujawien oder Masowien in der Umgebung Warschaus, nicht aber - wie man hier und da gemeint hat - in der nördlichen Region Masuren.
Auch wenn wir sie nie getanzt gesehen oder erlebt haben, wissen wir in etwa wie es funktionieren könnte, wir hören ja die Betonungen, erkennen den Dreier-Takt, und wer kann nicht bis drei zählen? Aber versuchen Sie doch einmal, die Mazurka 24 Nr. 1 mitzuzählen. Nach zwei bis drei Versuchen könnten Sie damit sogar erfolgreich sein, werden aber um so mehr die Raffinesse des Pianisten bewundern, mit der er diese Zählzeiten rafft und dehnt.

Es ist die hohe Kunst des Rubatos, und in diesem Fall hat Chopin das Wort "rubato" sogar neben "lento" als Vortragsbezeichnung an den Anfang geschrieben.
Es sind ja ganz widersprüchliche Äußerungen über Chopins eigene Vorstellungen von metrischer Strenge und Freiheit des Vortrags überliefert.

"Sein Spiel war stets nobel und schön, immer sangen seine Töne, ob in voller Kraft, ob im leisesten piano. Unendliche Mühe gab er sich, dem Schüler dieses gebundene, gesangreiche Spiel beizubringen. 'Il (elle) ne sait pas lier deux notes [Er (sie) weiß nicht, wie man zwei Töne miteinander verbindet]', das war sein schärfster Tadel. Ebenso verlangte er, im strengsten Rhythmus zu bleiben, haßte alles Dehnen und Zerren, unangebrachtes Rubato sowie übertriebenes Ritardando. 'Je vous prie de vous s'asseoir [Bitte, bleiben Sie sitzen], sagte er bei solchem Anlaß mit leisem Hohn."

So erzählte eine Schülerin, wobei neben der Formulierung "im strengsten Rhythmus" einerseits die Worte "unangebracht" und "übertrieben" zu beachten sind, andererseits die Tatsache, dass er eben dies von Studierenden verlangt; nur der erste Satz beschreibt sein eigenes Spiel.
Zwar wurde bisweilen gesagt, auch er selbst habe eisern den Takt gehalten, andererseits gibt es Berichte über sein freies oder sogar willkürliches Spiel, und zwar von kompetenten Musikern, wie z.B. Hector Berlioz:
"Chopin ertrug nur schwer das Joch der Takteinteilung; er hat meiner Meinung die rhythmische Unabhängigkeit viel zu weit getrieben [...] Chopin konnte nicht gleichmäßig spielen." (Burger S.162)
Stattdessen bringt Ignaz Moscheles, selbst einer der bedeutendsten Pianisten des 19. Jahrhunderts, einen für uns heute hochinteressanten Aspekt hinein: Chopins harmonische Kühnheiten haben damals nicht unbedingt kühn, zuweilen vielleicht eher unbeholfen gewirkt, - auf dem Papier wohlgemerkt, völlig anders jedoch unter seinen eigenen Händen:
"Er spielte mir auf meine Bitten vor, und jetzt erst verstehe ich seine Musik, erkläre mir auch die Schwärmerei der Damenwelt. Sein ad-libitum-Spielen, das bei den Interpreten seiner Musik in Taktlosigkeit ausartet, ist bei ihm nur die liebenswürdigste Originalität des Vortrags; die dilettantisch harten Modulationen, über die ich nicht hinwegkomme, wenn ich seine Sachen spiele, choquiren mich nicht mehr, weil er mit seinen zarten Fingern elfenartig leicht darüber hinweggleitet; sein Piano ist so hingehaucht, daß er keines kräftigen Fortes bedarf, um die gewünschten Contraste hervorzubringen; so vermißt man die orchesterartigen Effecte, welche die deutsche Schule von einem Klavierspieler verlangt, sondern läßt sich hinreißen wie von einem Sänger, der wenig bekümmert um die Begleitung ganz seinem Gefühl folgt, genug, er ist ein Unicum in der Clavierspielerwelt." (Burger S.162)

Der aus Riga gebürtige Musikschriftsteller und Pianist Wilhelm von Lenz genoss in Paris Chopins Unterricht, vornehmlich mit Mazurken, und äußerte sich folgendermaßen zum Rubato.

"'Die Linke', hörte ich ihn oft sagen, 'die ist der Kapellmeister, die darf nicht weichen, nicht wanken - macht mit der rechten Hand, was ihr wollt und vermöget.'" (S.47)
Es ist exakt das, was gute Musiker von Philipp Emanuel Bach bis Franz Liszt zumindest als Richtschnur des freien Vortrags betrachteten: schon Mozart schrieb am 23.10.1777 an seinen Vater:
"Das tempo rubato in einem Adagio, daß die lincke hand nichts darum weiß, können sie gar nicht begreifen. bey ihnen giebt die lincke hand nach."
Und doch blieb genügend Raum für Unwägbarkeiten; die folgende Geschichte ist zu schön, als dass sie hier fehlen dürfte:

Einmal trat Meyerbeer, den ich noch nie gesehen hatte, zu meiner Lektion in's Zimmer bei Chopin. Meyerbeer wurde nicht gemeldet, der war König. Ich spielte gerade die Mazurka in C.
Meyerbeer hatte sich gesetzt, Chopin ließ mich fortfahren.
Das ist Zweiviertel-Takt, sagte Meyerbeer. Chopin widersprach, lies mich wiederholen, taktierte laut mit dem Bleistift auf dem Instrument - seine Augen glühten.
Zwei Viertel, wiederholte Meyerbeer ruhig.
Nur einmal sah ich Chopin sich ereifern, es war in diesem Augenblick! Er war schön anzusehen, wie ein leichtes Roth seine bleichen Wangen färbte.
Das sind drei Viertel, sagte er laut, er, der immer so leise sprach. (...)
Wirklich eine merkwürdige Geschichte: der russische Schüler spielte offenbar den Dreier-Takt der Mazurka ebenso verschoben wie der Meister, ohne dies besonders anzumerken. Noch merkwürdiger, dass Chopin selbst offenbar nicht in der Lage war, die rhythmische Eigentümlichkeit zu analysieren:
"Das sind drei Viertel!" schrie fast Chopin und spielte nun selbst. Er spielte die Mazurka mehrmals, zählte laut, stampfte den Takt mit dem Fuss, er war außer sich! Es half nichts, Meyerbeer blieb bei zwei Vierteln - sie trennten sich gereizt.
Kein Hinweis also auf den folkloristischen Hintergrund des Tanzes. Wilhelm von Lenz zeigte auch 20 Jahre später keinerlei Durchblick, als er Meyerbeer wiederbegegnete und folgendes nachtrug:
"...Chopin hatte Recht gehabt - dadurch, dass der 3. Werth in dem bezüglichen Satz verschluckt wird, existirt er nicht weniger, aber ich hütete mich wohl, diesen Punkt gegen den Componisten der Hugenotten zu berühren."
Dass ein Wert, der verschluckt wird, dennoch existiert, wäre auch im Rahmen exzessiven Rubatospiels schwer einzusehen. Aber man beginnt zu ahnen, worum es geht, wenn man Jan Steszewskis Ausführungen über die Mazurka-Stegreiflieder liest (MGG Sachteil). Da sei eben ein bestimmter Rubato-Vortrag typisch: der dreizeitige Takt basiere auf einer traditionell freien ("irrationalen") Behandlung der einzelnen metrischen Werte, ohne jedoch den äußeren metrisch-rhythmischen Verlauf zu gefährden. Und die beigefügte Notation eines Liedes aus Kujawien versucht das zu exemplifizieren, indem eine Melodie, die zunächst im "korrekten" 3/8-Takt notiert ist (mit 2 Sechzehnteln auf der ersten Zählzeit), in der nächsten Zeile mit den Dehnungen und Verkürzungen einzelner Notenwerte bezeichnet wird, und in einer dritten Zeile im (wohl annähernd real erklingenden) 5/16-Takt erscheint. Und damit wären wir dem von Meyerbeer gewiss recht mechanisch gezählten Zweier-Takt (4/16 bzw. 2/8) schon ebenso nahe wie dem von Chopin gezählten Dreier-Takt (6/16 oder 3/8).

Daraus ergeben sich interessante interpretatorische Fragen: Soll der Pianist die irrationalen Folklorismen in seinen Vortrag übernehmen? Gehört das sozusagen zur "Aufführungspraxis"? Oder würden sie auf jeden, der die polnischen Originale nicht kennt, nur wie hartnäckige Manierismen wirken, die man ungestraft à la Meyerbeer persiflieren könnte?
Beim Wiener Walzer weiß inzwischen jeder, wie man die zweite Zählzeit behandelt, aber in Gütersloh oder Itzehoe geschieht das vielleicht schon so überdeutlich, dass man wünschte, diese Praxis wäre nie über Wien hinausgedrungen.
Und im Bulgarischen Rhythmus ist es ähnlich: der eine liebt die präzise Ungeradigkeit der Achtelfolge 2 + 2 + 3, während etwa Béla Bartók, der es besser wusste, die letzte Dreiergruppe ein wenig "schlenzte", - als ob er's nicht besser wusste.

Wie gut wusste es Chopin? Wie dick trug er auf? Seit seinem 14. Lebensjahre kannte und liebte er die Musik der Dörfer um Szafarnia (ca. 150 km nordwestlich von Warschau); zweimal hat er dort die großen Ferien verbracht. Man nannte ihn liebevoll, aber doch mit einem gewissen Distanzgefühl, den "Warschauer", er war der Junge aus der fernen Hauptstadt.
Der Knabe Fryderyk durfte hier ein ungebundenes Leben genießen, mit Freund Dominik hat er Rebhühner und Hasen gejagt, ohne besonderes Geschick ein Pferd zu reiten versucht, er hat fasziniert Erntefeste und Umzüge beobachtet und eifrig die Texte notiert, während er die Melodien im Kopf speicherte.
"Stil und Schwung der dörflichen Tanzmusik wurden ihm so vertraut, daß er sich selbst unter die Musizierenden mischte und den Dorfmusikanten mit der Baßgeige zur Seite stand." (Zielinski S. 68)
Im Wohnzimmer des Hausherrn gab es natürlich ein Klavier, und Fryderyk exerzierte daran täglich ein Konzert von Kalkbrenner. Die Mutter seines Freundes spielte mit ihm vierhändig, und er ließ sich flugs von zuhaus ein vierhändiges Variationswerk des Beethovenschülers Ferdinand Ries nachschicken. Zuweilen parodierte er zum Spaß der Familie jüdische Weisen; einmal holte man sogar den jüdischen Pächter des Nachbarhauses, bat ihn, den zugereisten Virtuosen Pichon (alias Cho-pin) zu begutachten und erhielt die Auskunft, der Mann könne gut und gern auf Hochzeiten 10 Taler pro Abend verdienen. Der Knabe Fryderyk als fähiger Klezmer-Spielmann!
Neben den Virtuosenstücken, die er sich weiterhin auf den Leib schneidert, entstehen nach diesen Ferien, gewissermaßen als Einübung in den "einfachen" Stil und möglicherweise schon in Szafarnia konzipiert, zwei frühe Mazurken (ohne Opuszahl) und ein Rondeau à la Mazur (!), das als op.5 veröffentlicht wird.

Und dann folgt der erste große Wurf einer Mazurka, die früheste unserer Sammlung; sie wurde erst nach dem Tod des Komponisten als op. 68 Nr.2 veröffentlicht. Schon hier gibt es sorgfältig eingearbeitete Hinweise auf das "Andere" der Volksmusik: scheinbar in a-Moll, hebt sie schon im ersten Takt zwischen C und E den Ton Dis mit Akzent und Triller hervor, also einen übermäßigen, "zigeunerischen" Schritt, und wenn 16 Takte später in einem C-Dur-Ansatz mit gleicher Betonung und gleichem Triller ein Fis auftritt, so handelt es sich nicht um die Andeutung einer Modulation, sondern um die traditionelle lydische Skala der Erntelieder, die er gehört hatte.

Man könnte sagen, die Klavier-Mazurken bewahren einerseits die Erinnerung an den bäurischen Hintergrund, an Heimat und Ursprung, andererseits wird daraus genau das, was man in der Stadt und in der Ferne darunter verstand, was man in den Salons damit verband und zu goutieren bereit war. Aber wusste man wirklich zu schätzen, was der junge Chopin mit seinen "Trouvaillen" leistete?
Er putzt sie nicht auf, verrät sie nicht an den höheren Geschmack, lässt sie nicht untergehen in aufgeklärter Könnerschaft. Der Wissenschaftler wundert sich mit Recht über das erste unscheinbare Meisterwerk:
"Diese Mazurka, die in ihren Mitteln und in ihrer Faktur so extrem sparsam und dabei zugleich in ihren Einzelheiten so gründlich ziseliert ist (ein keineswegs marginales Werk!), wurde ausgerechnet von einem ehrgeizigen Virtuosen-Komponisten konzipiert, der zu den führenden Meistern des style brillant gehören wollte." (Zielinski S. 92)

Wie hört man die Mazurken von Chopin heute?

  1. als angenehme Unterhaltung, natürlich, wie immer: zur bloßen Freude, - was allerdings unweigerlich dazu führt, das Staunen zu lernen. (Man braucht keine besondere Vorbildung und nicht mal einen Booklettext...)
  2. zur planvollen musikalischen Horizonterweiterung:
    • man beobachtet die Reflektionen polnischer Volksmusik: vor allem die typischen Rhythmen und Betonungsweisen, den Kopfrhythmus des ersten Taktes, das Innehalten auf der zweiten oder dritten Zählzeit, die Periodik der Melodie;
    • man spürt die verschiedenen Tempi, die auf verschiedene Mazurka-Typen der Volksmusik verweisen, vom "presto, ma non troppo" (op. 7 Nr.4) bis zum "lento" (op.24 Nr.1; op.33 Nr.1);
    • man identifiziert die Themen-Kontur, den Hauptteil und Mittelteil, und im Mittelteil besonders die auffälligen Relikte der Volksmusik: Bordun-Effekte, die auf den Dudelsack verweisen, eigensinnige Quintklänge, karge Harmonik, ungewöhnliche Skalen, die aus dem gewohnten Dur oder Moll heraustreten, mit übermäßigen Quarten spielen oder auch Elemente der Zigeunertonleiter und Tonschritte der jüdischen Klezmermusik einfließen lassen;
    • manchmal "fehlt" der Mittelteil, man vertiefe sich nur eine Miniatur wie op. 30 Nr. 2, ein wahres Mirakel, das sich aus der bloßen Repetition von scheinbar einfachen Phrasen ergibt: zunächst klare Piano-Forte-Antithesen, dann zwei langgezogene Crescendo-Aufstiege, deren exquisite Harmonik ins Uferlose strebt, schließlich ein zweitaktiger, abfallender Melodiezug, der nicht weniger als sieben Mal wiederholt wird, durch "ritardando" und "a tempo" leicht gegliedert, vor allem aber harmonisch sich wundersam verfärbend, wie ein Abendhimmel im Zeitraffer;
    • man erlebt also das Typische der Mazurka und zugleich die expressive Individualisierung des Typischen, den Komponisten Chopin als einzigartigen Charakter, vielleicht sogar als eine Schlüsselfigur in der Geschichte des 19. Jahrhunderts, zumindest in der Differenzierung der Harmonik;
    • und nicht zuletzt: man hört die Kunst einer vollendeten Interpretation, das magisch ausbalancierte Verhältnis zwischen Melodie und Begleitung (rechter und linker Hand), die Klangfarbe des "sotto voce", etwa in der letzten Mazurka, die der sterbenskranke Chopin ersann (posth. op.68 Nr.4).
      Oder die vom "sotto voce" ausgehenden Ornament-Eruptionen in der Mazurka op. 30 Nr.4, die feinsten Nuancierungen der unablässig in sich kreisenden Motive, die Rückkehr der zwielichtigen Einleitung, die dynamische Anlage des Ganzen. Es ist eine Art Ballade und zugleich eine Konfession, ein phantastisches Changieren von Stimmungen, hier unruhig verweilend, dort in düsteres Grübeln versinkend.
      Unglaublich der chromatische Zusammenbruch in den letzten 16 Takten! Und im abschließenden "smorzando" hat man das Gefühl, in einer fremden Tonart angelangt zu sein, in einem unbekannten Land.

Wie also hört man heute die vorliegende Mazurken-Folge?
Als eine Offenbarung, als ein großes Vermächtnis.

Wussten Sie, was Frédéric Chopin bis zuletzt bewegte? Gewiss, die Mazurka f-moll. Und noch eins: Er wurde auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris begraben, aber sein Herz - so hatte er es bestimmt - musste nach Polen zurückgebracht werden. Es befindet sich in einer Säule der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau.
Mit den Mazurken ist man auf dem besten Weg, den ganzen Chopin neu zu erschließen. Nicht den der Hochschulkonzertexamen, der internationalen Wettbewerbe und chinesischen Klaviertitanen, sondern den, der polnische Dorfmusik in sich aufgesogen hat, Erinnerungen an Masowien, das Dorf Szafarnia, wo er nachts um 11 den einsaitigen Bass traktierte...

Abgesehen vom Ariadnefaden der Mazurken könnte man sich von zwei Büchern leiten lassen:

  • Ernst Burger: Frédéric Chopin Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten
    München 1990
  • Tadeusz A. Zielinski: CHOPIN Sein Leben, sein Werk, seine Zeit
    Bergisch Gladbach 1999

Außerdem wurde in diesem Essay zitiert:

  • Wilhelm von Lenz: Die großen Pianoforte-Virtuosen unserer Zeit aus persönlicher Bekanntschaft Liszt - Chopin - Tausig - Henselt Reprint der Originalausgabe von 1872, Düsseldorf 2000 & 2006
(*) siehe auch Nachtrag zu Chopins Mazurken (Jan Reichow November 2009)



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