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Jan Reichow > Startseite > ... > Musikpassagen 16. November 2006 - Des Knaben Wunderhorn - zu Straßburg auf der Schanz

Musikpassagen
WDR 3 Do 16. November 2006 15:05 - 17:00
mit Jan Reichow

Des Knaben Wunderhorn - zu Straßburg auf der Schanz
Von kindlichem Wesen, Naivität, edler Einfalt, Simplizität, raffinierter Einfachheit, von "schlichten Weisen", Liedern im Volkston, Bauernspäßen
und ironischem Understatement

mit Musik des Kindes Mozart,
aus Schuberts Zyklus "Die schöne Müllerin",
aus Mahlers Wunderhornliedern und aus seiner Vierten Sinfonie,
von Kindern aus Bayern, aus dem Norden Afghanistans, aus dem afrikanischen Regenwald und aus der Phantasiewelt der Erwachsenen
Redaktion: Bernd Hoffmann

(Jingle Musikpassagen)

Am Mikrofon begrüßt Sie Jan Reichow. Meine Damen und Herren, es ist bekannt, dass Kinder uns nicht nur rühren und beglücken, sie strengen auch an, sie nerven, sie insistieren, sie schweifen ab, sie erzählen langatmig uninteressante Dinge, hören den Älteren aber selbst nicht zu, geben Widerworte, zanken sich, und sie beschmieren Wände.
Aber - könnte man sagen - um wieviel mehr gilt doch all das für Erwachsene. Mit einem gewaltigen Unterschiede: sie sind dabei nicht niedlich!!!

1) Sepp, Depp Tr. 1 "Kloa bin i, kloa bleib i" 0:56
(Mel. & Text Trad. /Bearbeitung Biermösl Blosn)
Sepp Depp Hennadreck / Lustige bayrische Kinderlieder ausgesucht von der Biermösl Blosn.
Max Hieber Verlag München MH 2106 CD
2) Irian Jaya CD III Tr. 30 Zwei Mädchen singen beim Netzweben 2:23
Song of Irian Jaya (trad./ohne) Le voix du monde / Une Anthologie des Expressions vocales
Le Chant du Monde CMX 3741011
3) Tuva Tr. 9 Ein Elfjähriger singt Chöömej 2:09
"Schyktar Schulban: Sygyt - Kargyra" (trad./ohne) Tuvinian Singers & Musicians
World Network 55.838 (LC 6759)
4) Sepp, Depp Tr. 8 "Steht a kloans Diandl drauß" 1:02
(Mel. & Text Trad. /Bearbeitung Biermösl Blosn)
Sepp Depp Hennadreck / Lustige bayrische Kinderlieder ausgesucht von der Biermösl Blosn.
Max Hieber Verlag München MH 2106 CD
Ist das niedlich? Ja?
Am Anfang und am Ende hörten Sie die ehemals Kleinsten aus der Well-Familie, - vielleicht kennen Sie die drei bekanntesten Musiker des bayrischen Clans, die "Biermösl Blosn", unter deren Obhut auch diese Kinderlieder-CD 1993 entstanden ist.
Außerdem sangen 2 elfjährige Mädchen vom Stamm der Eipo aus Irian Jaya, West Neu Guinea, Indonesien. Und dann der elfjährige Schaktar Schulban aus Tuva, diesem der Mongolei benachbarten Land. Er übte schon seit seinem 5. Lebensjahr den Kehlkopf- und Obertongesang der erwachsenen Männer.
Die Welt der Kinder. Kinderland! Wo liegt das eigentlich?

5) Brahms / Klaus Groth "O wüßt ich doch den Weg zurück" 4:00
Johannes Brahms: Lieder mit Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton, Daniel Barenboim, Klavier
DGG 447 505-2 LC 0173
  1. O wüßt ich doch den Weg zurück,
    Den lieben Weg zum Kinderland!
    O warum sucht ich nach dem Glück
    Und ließ der Mutter Hand?
  2. O wie mich sehnet auszuruhn,
    Von keinem Streben aufgeweckt,
    Die müden Augen zuzutun,
    Von Liebe sanft bedeckt!
  3. Und nichts zu forschen, nichts zu spähn,
    Und nur zu träumen leicht und lind;
    Der Zeiten Wandel nicht zu sehn,
    Zum zweiten Mal ein Kind!
  4. O wüßt ich doch den Weg zurück,
    Den lieben Weg zum Kinderland!
    Vergebens such ich nach dem Glück,
    Ringsum ist öder Strand!
Johannes Brahms auf einen Text von Klaus Groth, gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau mit Daniel Barenboim am Klavier.

Meine Damen und Herren, möglicherweise ist dieses Kinderland ganz und gar von den Erwachsenen erfunden. Für die Erwachsenen.
Wenn Sie ein Kind fragen und es geheime Gedanken formulieren könnte, - würde es niemals sagen, dass es froh sei, so dahinzuträumen, von keinem Streben aufgeweckt, von Liebe sanft bedeckt, und nichts zu forschen, nichts zu spähn usw., niemals! Ganz im Gegenteil: das Kind forscht und späht, es freut sich nicht, die müden Augen zuzutun, sondern sie weit zu öffnen. Neue, unbekannte Dinge anzuschauen und zu erforschen. Die häufigste Frage, beim Anblick unbekannter Dinge: "Was kann man damit machen?"
Und sein größter Wunsch ist: älter zu werden, mehr Dinge zu dürfen und zu können. Vielleicht gar nicht so sehr: erwachsen zu sein, aber z.B.: den Status eines zwei Jahre älteren Kindes zu erreichen.
Nun sind diese Abstände ungeheuer genau messbar geworden: nicht durch den abstrakten Altersunterschied oder durch die oft täuschenden Größenunterschiede, sondern durch den gewissermaßen gesellschaftlichen Status: bin ich noch im Kindergarten oder darf ich schon in die Schule, wer ist in welcher Klasse, - das sind die wahren Klassenunterschiede.
Ich glaube nicht, dass es diese Art von graduierter Kindheit schon vor Einführung der allgemeinen Schulpflicht gegeben hat. In einer Zeit, als die meisten Erwachsenen keineswegs zwangsläufig eine Schule durchlaufen hatten, also bis etwa 1780, gab es diesen gravierenden Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen gar nicht, ein helles Kind konnte in kürzester Zeit einen dumpferen Erwachsenen überflügeln.
Was meinen Sie? Wie alt war der Komponist des folgenden Werks?

6) aus: Klavier-Trio G-dur 4:39
Wolfgang Amadeus Mozart: Frühe Klaviertrios
Klaviertrio G-dur KV 11 Allegro Menuetto Allegro
Abegg Trio Ulrich Beetz, Violine; Birgit Erichson, Violoncello; Gerrit Zitterbart, Hammerflügel
Tacet 148 (LC 07033)
Der Komponist: ein 8jähriges Kind. Sie haben es geahnt. Es war ja nun auch ein überhelles Kind, geleitet von einer pädagogisch außerordentlich geschickten Erwachsenenhand: Wolfgang Amadeus Mozart. KV 11.
Auch an erste Sinfonien machte er sich heran, studierte die seiner erwachsenen Zeitgenossen Johann Christian Bach und Carl Friedrich Abel.
Nun? Von wem mag die nachfolgende Musik sein?
7) "Mozart KV 18" (= Abel) Tr. 8 3:58
Mozart Symphonies Ns. 1 -5
Northern Chamber Orchestra Leitung: Nicholas Ward
Symphony No. 3 in Es KV 18 Wirklicher Komponist: C.F.Abel Op. 7 No.6
Naxos 8.550871 (LC 5537)
KV 18, der kleine Wolfgang hatte die Sinfonie in sein Notenbuch geschrieben, - abgeschrieben, und da es ansonsten seine frühesten Meisterwerke enthielt, hat man sie lange für seine eigene Komposition gehalten und mit einer Köchel-Nummer versehen. In Wahrheit hatte er die Sinfonie op. 7 Nr. 6 von Carl Friedrich Abel nur abgeschrieben, um zu lernen, wie eine richtige Sinfonie auszusehen hatte (das Jahrzehnt nach 1760 umfasst ja nicht nur Mozarts Kindheit, sondern auch die der klassischen Sinfonie).
Und flugs schrieb er danach eine eigene. Hand aufs Herz? Hätten Sie den Unterschied erkannt?
8) Mozart KV 19 Symphonie D-dur Tr. 11 Allegro 2:22
Mozart Symphonies Ns. 1 -5
Northern Chamber Orchestra Leitung: Nicholas Ward
Symphony No. 4 in D KV 19
Naxos 8.550871 (LC 5537)
9) Afghanistan: Vater " Sohn [Textüber Musik, hoch ab 2:43] (6:26)
Afghanistan Traditional Musicians / "Farkhari Song" (trad./ohne) mit Faiz Mohammad und Niaz Mohammad
World Network 56.986 (LC6759)
Afghanistan, Frühling 1974. Der Sänger Faiz Mohammad aus der hoch im Hindukusch gelegenen Region Badakhshan singt mit seinem 9jährigen Sohn Niaz Mohammad ein Liebeslied. Undenkbar, dass ein solches Lied von einem Mann im Dialog mit einer Frau gesungen würde. Aber wohlgemerkt: der Kleine übernimmt nicht etwa den Part einer imaginären Frau, - er besingt die Geliebte genau so wie sein Vater; wenn man den Text nicht gesungen hören, sondern lesen würde, wüsste man nicht, ob es sich um eine Strophe des Kindes handeln wird oder des Vaters. Und der Text geht - nach Mullah-Vorschriften - eindeutig zu weit... höchst fragwürdig auch, von welchen Büchern in der Hand einer Frau die Rede sein könnte. Doch dies war eine (relativ) glückliche Zeit - lange vor der Taliban-Herrschaft.
[Musik kurz hoch]

"Ich wünsche, dass du eines Tages aus Badakhshan herabsteigst,
deine Bücher in der Hand, dein Körper voll Schmuck,
ich würde mich dir opfern, was wünschst du mehr?

Du kamst aus dem Haus, oh, wäre ich dein Opfer,
du trägst deine Bücher unter dem Arm.
Oder du sitzt irgendwo und singst etwas Schönes.
Ich liebe deine Zunge, mit der du singst.

Oh mein Liebling, es ist nun Frühling, wann kommst du zu mir?
Überall sind Blumen, wann kommst du zu mir?
Du hast mir versprochen, du kommst, wenn der Schnee liegt,
nun ist der Schnee schon weg, wann kommst du endlich?

Ich wünschte, ich wäre in Badakhshan,
unter den Birkenbäumen, mit dir!
Und mit Freunden aus Kabul.
Vielleicht ist es eines Tages möglich,
gemeinsam in Paghman zu sein!

Deine schwarzen Augen, die so schön sind,
warum hast du sie bedeckt, du hast doch keine Augenschmerzen.
Ich bin von so weit her gekommen, um sie zu sehen,
Oh meine Taube, warum hast du sie bedeckt?

[Musik hoch]

10) The Alps Tr. 1 Alphorn-Duo "Frühlingstraum" 3:26
The Alps "Frühlingstraum" (trad./ohne) Alphornduo Aemmital
World Network 56.982 (LC 6759)
"Frühlingstraum" - Wer je solche Töne an einem Schweizer Urlaubsort aus der Ferne vernommen hat, von einer höher gelegenen Alm, aber sicher nicht zufällig in Hörweite, dem schließt sich dieser naturhafte Klang zusammen mit dem Weiß der majestätischen Berge, dem offenen Himmel, der reinen Luft, der Stille, dem Pfiff der Murmeltiere, dem leisen Gebimmel der Kuhglocken: eine Sphäre des Friedens, der Unschuld und des erhobenen Gemütes.
Mit anderen Worten: das rechte Urlaubsgefühl, - alles Niedere, Kleinliche, Alltäglich abstreifen, ein anderer Menschen werden. Wer wollte das nicht!?
Das ist doch eine legitime Sehnsucht - nicht wahr? - vielleicht verwandt mit dem Fernweh oder dem Heimweh. Der Wunsch nach neuen Erfahrungen oder der Wunsch, die eine frühere, als vertraut und bewährt erfahrene Welt wiederherzustellen, vielleicht die der Kindheit, vielleicht die eines noch irgendwie erwarteten oder erwünschten "heilen, umhegten Lebens".
Die Psychologie sagt kühl: man fühle sich aus irgendeinem Grunde in seiner Freiheit eingeschränkt und tendiere dazu, die nicht mehr angebotenen oder noch nicht verfügbaren Alternativen als attraktiver anzusehen. Daraus kann ein Leidensdruck entstehen, der sich regelrecht zu einer Art psychischer Erkrankung auswirken kann. Zum Beispiel zum Krankheitsbild der "Nostalgia" (griechisch: nóstos = Rückkehr und álgos = Traurigkeit, Schmerz, Leiden).
So steht es in unserem Internet-Volkslexikon Wikipedia:
Unter diesem Namen "Nostalgia" wurde die Krankheit im Jahre 1688 zum ersten Mal von dem Arzt Johannes Hofer in Basel beschrieben. Daher wurde sie auch als "Schweizer Krankheit" bekannt. Schon damals war damit eine durch unbefriedigte Sehnsucht nach der Heimat begründete Melancholie oder Monomanie gemeint, welche eine bedeutende Zerrüttung der körperlichen Gesundheit, Entkräftung, Abzehrung, Fieber und gar den Tod zur Folge hat. In Frankreich war es bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus bei Todesstrafe verboten, den sogenannten "Kuhreihen", eine bekannte Hirtenmusik ("Chue-Reyen", "Ranz des Vaches") zu singen oder zu pfeifen, weil die schweizerischen Soldaten durch das Hören desselben haufenweise in Heimweh verfielen, desertierten oder starben.
Der folgende Text wurde auch mit der Überschrift "Der Schweizer" verbreitet: "Zu Straßburg auf der Schanz". Die allgemein bekannte Volksliedmelodie stammt von Friedrich Silcher, diese Vertonung aber stammt von Gustav Mahler.
Eine Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau, am Klavier begleitet von Leonard Bernstein. Und das Klavier beginnt auch mit dem Alphornmotiv.
11) Mahler Wunderhornlieder Tr. 7 Zu Straßburg 4:32
Gustav Mahler: "Zu Straßburg auf der Schanz" (Text: "Des Knaben Wunderhorn")
Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton, Leonard Bernstein, Klavier
Sony SMK 61847 2000 (LC 6868)
So etwa steht der Text in der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn", die Gustav Mahler über alles liebte und für die meisten seiner frühen Lieder heranzog, die dann wieder in seine großen Werke ausstrahlten, nicht nur in die sogenannten "Wunderhorn"-Sinfonien III, IV und V.

"Des Knaben Wunderhorn", eine Sammlung von Volksliedtexten, die vor genau 200 Jahren von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegeben wurde und Furore machte. Dieser Volksliedton traf den romantischen Nerv der Zeit, gerade im Kontrast zu einer wachsenden Besorgnis, dem Gefühl dunkler Bedrohung: durch die beginnende Industrialisierung, die Verschärfung und Bürokratisierung der politischen Verhältnisse, den Aufstieg der Naturwissenschaften und die allgemeine Entzauberung der Welt. Auch das Wissen über all diese Vorgänge verbreitete sich seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, man begann sich ernstlich nach einer einfachen Welt des Herzens und der Natur zu sehnen, die Kindheit begann eine besondere Rolle zu spielen, die glückliche Zeit vor dem Eintritt in die unübersichtliche Welt der Erwachsenen, und das Volkslied schien Kunde zu bringen aus einer Zeit, als all dies noch nicht in Differenzen getrennt und geschieden war.

Man hat des öfteren bemerkt, dass auch Schuberts Wald-und Feld-Welt der "Schönen Müllerin" und der & quot;Winterreise", also mit den Versen Wilhelm Müllers, auf Erfahrungen mit der Zensur und den repressiven Verhältnissen der Metternichzeit zu tun hat. Konsequent wurde alles "kritische", "erwachsene", "realistische" Denken der Zeit ausgespart oder verschlüsselt; übrig blieb die Sehnsucht nach einer "bess'ren Welt", die nicht krass real, banal, brutal, sondern vor allem: poetisch, musikalisch war. Von menschlichen, einfachen Bildern und Gefühlen beseelt, und plötzlich - seit "Des Knaben Wunderhorn":
ein Knabe...wie lieblich, artig schön
die Frauen sich ansehn.
Ein Horn trug seine Hand,
Daran vier goldne Band -
plötzlich ist die "bess're Welt" der Erwachsenen von Kindlichkeit erfüllt, von edler Einfalt, einer Welt ohne Technik, - das Mühlengeklapper ist "natürlich" wie das Rauschen des Baches, die Arbeit ist schwer, aber einfach, die Vatergestalt des Meisters erteilt Lob, und auch die Liebe gehört zu den einfachen Gefühlen, wie quälend sie auch sein mag.
12) Schubert: Am Feierabend 2:36
Franz Schubert: "Am Feierabend" aus: "Die schöne Müllerin"
Fritz Wunderlich, Tenor; Hubert Giesen, Klavier
Deutsche Grammophon 423956-2 (LC 0173)
Und wenn man benennen soll, was den fortwirkenden Zauber der Stimme Fritz Wunderlichs ausmacht, kommt man schnell auf Worte wie Naivität oder "rührende Kindlichkeit", womit keineswegs sein Kunstverstand herabgesetzt werden soll.
Er wurde kaum älter als Mozart, das "ewige Kind", und Schubert starb mit 31 Jahren.
Es ist die Tragik des frühen Todes, - aber auch der Hauch ewiger Jugend, der uns berührt, ob wir wollen oder nicht. Vergänglichkeit - die unerträgliche Zumutung unseres Lebens, vorübergehend aufgehoben in der Kunst - weggewünscht mit Hilfe der Vorstellung eines Jenseits, das einer ewigen Jetztzeit gliche. "Das himmlische Leben" - auch ein Text aus "Des Knaben Wunderhorn" -, dort ist es einfach als "Bayrisches Volkslied" gekennzeichnet, Gustav Mahler denkt es sich als Phantasie eines Kindes. Imaginiert von einem/einer Erwachsenen "Was mir das Kind erzählt" hieß der Satz einmal, und als Notabene hat Mahler beim Gesangseinsatz angemerkt: "Singstimme mit kindlich heiterem Ausdruck, ohne Parodie!"
Vom Kind aus gesehen, ist dieses himmlische Leben ernst gemeint und wünschenswert, der Erwachsene nimmt es ebenso ernst wie die Erinnerung an die eigene Kindheit, "als das Wünschen noch geholfen hat", - und auch das Glauben.
13) Mahler IV Witteck/Bernstein 8:35
Gustav Mahler Symphonie IV Letzter Satz "Das himmlische Leben"
Helmut Wittek, Knabensopran; Amsterdam Concertgebouw Orkest Leitung Leonard Bernstein
Deutsche Grammophon 435 168-2 (LC 0173)
14) Pygmäenmädchen CD I Tr. 13 Berceuse 2:05
",Berceuse" (trad.ohne)
Centrafrique: Anthologie de la Musiques des Pygmées Aka (Simha Arom)
OCORA CD HMV 83 x 2
15) Sepp, Sepp Tr. 23 Henderl, bi bi 0:55
(Mel. & Text Trad. /Bearbeitung Biermösl Blosn)
Sepp Depp Hennadreck / Lustige bayrische Kinderlieder ausgesucht von der Biermösl Blosn.
Max Hieber Verlag München MH 2106 CD
16) Rajasthan Tr. 7 Rumal 5:41
Rajasthan Kohinoor Langa Group "Rumal" (trad./ohne) gesungen von Sikhander Khan
World Network 58.396 (LC 6759)

[über Musik]

"Erinnerung:
Bevor der Ehemann eine weite Reise antritt, soll er seiner zurückbleibenden Frau ein Tuch schenken, damit sie seiner Liebe sicher ist und sich leichter an ihn erinnern kann, - rät der Volksmund im indischen Rajasthan, verkörpert durch das "Kind mit der silbernen Stimme", den zwölfjährigen Sikhander Khan aus der Kohinoor Langa Group.
[Musik wieder hoch]
Als erstes hörten Sie den Schlusssatz der Vierten von Gustav Mahler, mit dem Tölzer Knaben Helmut Wittek und dem Concertgebouw Orkest unter Leonard Bernstein.
Danach zwei Pygmäenmädchen beim Schlaflied in ihrer Laubhütte, gefolgt von dem frechen bayrischen Volksliedchen "Henderl bi bi" und einem Rajasthani-Lied mit dem Ensemble "Kohinoor Langa Group".

Meine Damen und Herren, der gequälte und halb wahnsinnige Wozzeck hat gegen Ende der gleichnamigen Oper von Alban Berg seine Frau Marie umgebracht, draußen am Teich; er irrt umher und kehrt schließlich, von Angst getrieben, noch einmal zurück:

"Wo ist das Messer? Ich hab's dagelassen...!"
Er wirft es ins tiefere Wasser, er will sich vom Blut reinigen, er ertrinkt.
Zwei gehen vorüber:
"Das stöhnt doch, als stürbe ein Mensch. Schnell weiter, fort!"

Und dann folgt eine Schlussszene, die nicht in Alban Bergs Wozzeck-Vorlage, im Drama Woyzeck des Dichters Georg Büchner, steht: nach dem Orchesterzwischenspiel, der Invention über eine Tonart, die tragische Tonart d-moll, schaut man auf die Haustür der ermordeten Marie: die Kinder spielen im Sonnenschein, auch Mariens Knabe, der nichts begreift; er reitet auf seinem Steckenpferd.
"Du! Deine Mutter ist tot! Draussen liegt sie, am Weg, neben dem Teich!"
17) Wozzeck CD 2 Tr. 4 (3:22) und Tr. 5 (1:52) 5:14
Alban Berg: Wozzeck (Schlussszene)
Deutsche Grammophon 435 705-2 (LC 0173)
Am Ende einer herzzerreißenden Geschichte: der Blick auf die Kinder. "Heller Morgen. Im Sonnenschein." So steht es über der Szene, die trostlos ist.
Alban Bergs "Wozzeck" in der Aufnahme von Karl Böhm mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin, 1965. Übrigens: auch Wozzeck ist ein Kind, ein erwachsenes, wie der Protagonist der "Winterreise". So scheint es mir jedenfalls.
Und nun zurück nach Straßburg, noch einmal: "Des Knaben Wunderhorn", vielmehr vergrößert und verdoppelt: das Alphorn-Duo Aemmital träumt von den "Blauen Jurabergen".
18) The Alps: Alphorn-Duo "Blaue Juraberge" 2:42
The Alps "Blaue Juraberge" (trad./ohne) Alphornduo Aemmital
World Network 56.982 (LC 6759)
"...das Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen... ja, da ging mein Trauren an.",
So etwa heißt es in dem Lied "Der Schweizer" in der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" Teil 1, 1806, "Alte Deutsche Lieder, gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano" (Ich lese nur 3 von 6 Strophen):

Zu Straßburg auf der Schanz,
Da ging mein Trauren an,
Das Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen,
Ins Vaterland mußt ich hinüber schwimmen,
Das ging nicht an.

Ein Stunde in der Nacht
Sie haben mich gebracht:
Sie führten mich gleich vor des Hauptmanns Haus,
Ach Gott, sie fischten mich im Strome auf,
Mit mir ist's aus.

Ihr Brüder allzumal,
Heut seht ihr mich zum letztenmal;
Der Hirtenbub ist doch nur Schuld daran,
Das Alphorn hat mir solches angetan,
Das klag ich an.

Mit diesem Inhalt und Gehalt hat ein romantisches Gefühl seine Form gefunden, dies war der Ton der Unschuld, des Ursprungs und der Sehnsucht, den man im Volkslied wiederzufinden glaubte und der über das ganze 19. Jahrhundert in vielen neugedichteten Versen von Wilhelm Müller bis Hugo von Hofmannsthal wiederkehrte.
Heinrich Heine schrieb:
"Welch ein schönes Gedicht! Es liegt in diesen Volksliedern ein sonderbarer Zauber. Die Kunstpoeten wollen diese Naturerzeugnisse nachahmen in derselben Weise, wie man künstliche Mineralwässer verfertigt. Aber wenn sie auch, durch chemischen Prozeß, die Bestandteile ermitteln, so entgeht ihnen doch die Hauptsache, die unzersetzbare sympathetische Naturkraft. In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volkes..."
In diesem Sinne hat noch Gustav Mahler die Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn" aufgefasst: als Zeugnisse einer anscheinend verloren gegangenen Ursprünglichkeit des Singens und Sagens (Rölleke S. 1202), die er nun mit musikalischen Mitteln vollendet.
19) Mahler "Zu Straßburg" Instr. Luciano Berio Tr. 7 4:00
Gustav Mahler: "Zu Straßburg auf der Schanz" Instrumentation: Luciano Berio
Andreas Schmidt, Bariton; Radio-Sinfonie-Orchester Berlin, Leitung Cord Garden.
BMG 09026 611842 (LC 0316)
Andreas Schmidt, Bariton, das Radio-Sinfonieorchester Berlin, Leitung Cord Garben, die Instrumentation dieses Mahler-Liedes stammt von Luciano Berio.

Ein frappierendes Forschungsergebnis zu diesem Lied besagt, dass gerade das, was uns daran am meisten rührt und was Heinrich Heine als unverwechselbaren Ausdruck des "Volksliedes" wahrnahm, in Wahrheit auf den Herausgeber Clemens Brentano zurückgeht.
In seiner Vorlage hieß es nämlich:

"Zu Straßburg auf der Schanze,
da ging mein Trauern an,
da wollt ich den Franzosen desertieren
und wollt es bei ein'n andern probieren,
das geht nicht an.
...."
(Und später:)
" ...unser Corporal der brave Mann,
ist meiner Sache schuld daran,
den klag ich an."
Ziemlich pragmatisch also im Original und ohne den entscheidenden Sehnsuchtsfaktor des Alphorns.
Was macht es, dass man von Strassburg aus auf gegenüberliegendem Ufer durchaus keinen schweizerischen Boden erreicht, und dass selbst ein Alphorn nicht soweit tönt.
Wenn nur der neue Ton der Sehnsucht stimmt!
Heinz Rölleke, der Herausgeber einer Neuausgabe der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn", schreibt dazu:
"Aus all dem kann man schließen, dass dieses Lied in der Urfassung nie populär geworden wäre. Was man als ‚volkstümlich' empfindet, das hat sich eben mit und seit dem 'Wunderhorn' stark verändert, so dass man bei diesem Phänomen immer zwischen Herkunft und Wirkung solcher Lieder unterscheiden muss."
Und jetzt kommt's:
"Man weiß in allen Schichten oft das Feinere, Höhere mehr zu schätzen als das wirklich Ursprüngliche; das alt Gemachte wirkt mehr als das unveränderte Alte."
("Des Knaben Wunderhorn" 2006 S. 1206)
Themenwechsel: Am 1. Februar 1865 erhält Johannes Brahms eine Depesche aus Hamburg: seine Mutter ist gestorben. Ein Freund findet ihn, so wird erzählt, in Tränen aufgelöst am Klavier; er spielt die Goldberg-Variationen von Bach. Ein paar Monate später schreibt er das Horntrio op. 40, das von seinem Biographen Max Kalbeck mit gefühlvollen Worten auf den Tod der Mutter bezogen wird:
"Wie hätte er seine stille, über den Wipfeln der friedenatmenden Wälder gelegene Lichtentaler Wohnung würdiger einweihen können als mit dem schwermutvollen Waldliede der Romantik, das in mächtig ergreifenden und doch so gelinden Tönen von den Gefühlen des Sohnes redet, der um seine Mutter trauert?"
(Kalbeck II S. 186)
Tatsächlich hat Brahms im Lichtentaler Wald bei Baden-Baden einem Freund die Stelle gezeigt, wo ihm das Anfangsthema des ersten Satzes in den Sinn gekommen war, eine unergründliche Melodie, die man beim ersten Hören leicht unterschätzt, zumal nicht das Horn beginnt: der Geiger tut recht daran, die Loslösung vom Grundton im allerersten Quintschritt mit einem wunderbar sanften Glissando zu intensivieren.
"Jenes, wie ein im Walde verlaufenes Kind ängstlich hin und her irrende, klagende und rufende Hauptthema des ersten Satzes",
so nannte es Kalbeck, - lässt es nicht auch die sanfte Wärme der schützenden Mutter spüren, und sei es - Mutter Natur?
"Das Horn, und zwar das besonders als 'Waldhorn' (...) vorgeschriebene Naturhorn war neben Violoncell und Klavier das Hauptinstrument des Knaben Johannes, und er mag seiner Mutter oft ihre in dem Werk angeschlagenen oder angedeuteten Lieblingsmelodien vorgeblasen haben."
(Kalbeck II S. 186)
Doch das klagende und rufende Hauptthema des ersten Satzes gibt den Ton an.
20) Brahms Horntrio Es-dur op. 40 Tr. 1 7:01
Johannes Brahms Trio für Klavier, Violine und Waldhorn Es-dur op. 40
Erster Satz Andante - Poco più animato
Stephan Katte, Horn; Ulrich Beetz, Violine, Gerrit Zitterbart, Klavier
TACET 147 (LC 07033)
Der erste Satz des Horntrios Es-dur op. 40 von Johannes Brahms, gespielt von Stephan Katte, Naturhorn, und Mitgliedern des Abeggtrios: Ulrich Beetz, Violine, und Gerrit Zitterbart, Hammerflügel.

Gustav Mahler hat seinen Entwurf eines paradiesischen Zustands nach einem bayrischen Volkslied aus "Des Knaben Wunderhorn" raffinierterweise einem Kind in den Mund gelegt: ursprünglich hieß dieser Satz "Was mir das Kind erzählt". Es könnte sich ebenso gut um einen rundum kindlichen Erwachsenen handeln, wie er einst mit staunenden Augen die "Lüftlmalerei" und die comic-ähnlichen Bilderfolgen an den Wänden des Kirchenschiffs betrachtete und eigene Hoffnungen und Phantasien daran knüpfte.

Im Original firmiert dieser Text also ganz einfach als "bairisches Volkslied". Aber die Lage ist eindeutig vieldeutig, gerade so, wie sich diese Verschen und Bilder aneinanderreihen: unbekümmert, possierlich, rührend ernsthaft, bodenlos naiv. Und am Ende möchte man lachen und weinen zugleich.
"Kein Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden!"
- so heißt es mit vollem Recht...
"Die gesamte Vierte Symphonie schüttelt nichtexistente Kinderlieder durcheinander..."
(Adorno: Mahler S.77)
sagt der große Mahler-Deuter Theodor W. Adorno.
"Ihre Bilderwelt ist die von Kindheit, keine Vaterfiguren haben Einlaß in ihren Bezirk. Der Klang hütet sich vor jeder Monumentalität, die sonst seit Beethovens Neunter der symphonischen Idee sich gesellt."
(Adorno: Mahler S.76)
Meine Damen und Herrn, Sie hören jetzt vielleicht die weltweit jüngste Aufnahme dieses wunderbaren Kinderstücks, das vom himmlischen Leben erzählt, aufgenommen am vergangenen Samstag in der Kölner Philharmonie mit Ruth Ziesak, Sopran, und einem glänzend aufgelegten (so sagt man doch?) WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste.

20) Mahler Finale der Vierten (Neuaufnahme 11.11.06) 9:15 Gustav Mahler: Symphonie IV G-dur, Schlusssatz "Das himmlische Leben" Ruth Ziesak, Sopran; WDR Sinfonieorchester Köln, Leitung Jukka-Pekka Saraste WDR-Aufnahme 11. November 2006
Gustav Mahler, der vierte Satz der Vierten, "Das himmlische Leben", mit Ruth Ziesak und dem WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste, aufgenommen am vergangenen Samstag in der Kölner Philharmonie.
Die vollständige Aufnahme des Konzertes senden wir am 1. Dezember, Konzert ab 20:05 Uhr, hier in WDR 3 natürlich. Die Einführung, die ja immer vor solchen WDR-Konzerten in der Philharmonie um 19:00 Uhr stattfindet, kam in diesem Fall von mir und ist auf meiner Webseite nachzulesen [, die leicht zu finden ist].
Dort auch noch viel mehr zum Thema "Kindheit", "Des Knaben Wunderhorn" und zu "Mahlers Vierter" in Form eines Vortrags, der am 15. Oktober 2006 in Heidelberg gehalten wurde. [ hier der Text ]
Unser Hörertelefon beantwortet Ihre Fragen oder gibt sie weiter, notiert kritische Anmerkungen und sogar Lob, die Telefonnummer wird im anschließenden Trailer genannt.
Meine Damen und Herren, Sie hörten die Musikpassagen auf WDR 3, heute zum Thema:
Des Knaben Wunderhorn - zu Straßburg auf der Schanz, von kindlichem Wesen, Naivität, edler Einfalt, Simplizität, raffinierter Einfachheit, von "schlichten Weisen", Liedern im Volkston, Bauernspäßen und ironischem Understatement.

Vielleicht haben wir nicht alle hier genannten Begriffe erschöpfend behandelt, vielleicht sind die Bauernspäße zu kurz gekommen, dafür sollte abschließend noch Zeit sein.
Ich bedanke mich bei der Technik, die hier in den Händen von Tjard Reimann lag,
und bei unserer Produktionsassistentin Eva Flier (recte: Sarah Brasack), die eine sorgfältige Musikliste erstellt, die von Ihnen demnächst über die Die Redaktion dieser Sendung hatte Bernd Hoffmann.
Ich verabschiede mich und wünsche Ihnen weiterhin eine schöne Zeit mit WDR3, Ihr Jan Reichow.
21) Detmolder Hornquartett Tr. 42 "Gebirgsweise" (M. Franz Strauss) 2:32
O Täler weit. o Höhen / Deutsche Volkslieder der Romantk
Detmolder Honrquartett [& Vokalquartett Drops]
"Gebirgsweise" (Komp.: Franz Strauss, Vater von Richard Strauss)
Musikproduktion Dabringhaus und Grimm MDG 622 0289-2 (LC 06768)
22) Sepp Depp Tr. 11 "Kikeriki" 1:48
(Mel. & Text Trad. /Bearbeitung Biermösl Blosn)
Sepp Depp Hennadreck / Lustige bayrische Kinderlieder ausgesucht von der Biermösl Blosn.
Max Hieber Verlag München MH 2106 CD
23) Spiel der Pygmäenkinder CD I Tr. 15 nach Bedarf 2:22
"Nze-nze-nze" (trad.ohne) Jeux d'enfants
Centrafrique: Anthologie de la Musiques des Pygmées Aka (Simha Arom)
OCORA CD HMV 83 x 2

Literatur


  • Heinz Rölleke (Hg.): Des Knaben Wunderhorn
    Alte deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano

    Frankfurt am Main und Leipzig 2003 ISBN 3-458-17150-9

  • Theodor W. Adorno: Mahler - Eine musikalische Physiognomik
    Frankfurt am Main 1960

  • Max Kalbeck: Johannes Brahms
    Wien bzw. Berlin 1904 ff
    zitiert nach:
    Deutsche Komponisten von Bach bis Wagner, Digitale Bibliothek

  • Wolfgang Suppan: Artikel "Alpenmusik" in:
    MGG - Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Bd. 1 Sp. 472
    Kassel etc. Weimar 1994




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Musikpassagen 16. November 2006 - Des Knaben Wunderhorn - zu Straßburg auf der Schanz