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Musikpassagen
20. Juli 2006 WDR 3 Musikpassagen 15:05 - 17:00 Uhr
mit Jan Reichow
Von der Fügung der Fuge, der gefühlten Logik des Liedes und der Kraft der rhythmischen Kadenz
Was man sich bei bloßer Musik so alles denken kann...
Redaktion: Bernd Hoffmann

(MP-Jingle)
1) Johann Sebastian Bach: Praeludium G-Dur BWV 860 0'48
Wohltemperiertes Clavier I (The Well-Tempered Clavier I)
Evgenij Koroliov, Klavier / TACET 93 (LC 07033)
Meine Damen und Herren, können Sie so schnell denken?
Ja sicher! Wenn Evgenij Koroliov so schnell seine Finger bewegen kann, werden Sie wohl so schnell denken können.
Aber was denken Sie?
Sie werden nicht sagen: das verstehe ich nicht mehr, sondern vielleicht: bitte noch einmal, das macht Spaß. Das Stück ist locker gefügt, es ist sogar einfach locker, so wie man heute ständig sein soll, im Fußballpartyland, wer so spielt, ist richtig gut drauf.
Ich bin's auch, natürlich, selbstverständlich, absolut, es gibt keinen Moderator in Deutschland, der es nicht wäre. Am Mikrofon begrüßt Sie J.R., aber ich schaffe das nur mit solcher Musik, ich wüsste nicht, was ich täte, wenn mir jemand sagte: Fang mit einer Fuge an, wir sind schließlich ein Kulturprogramm. Ich glaube, ich würde sagen: Nein, unmöglich, nur über meine Leiche. Ich weiß doch, was mit Jürgen Fliege passiert ist, als er nur noch in Fugen sprach.
Nein, ich bleibe bei den Praeludien, wahre Lockerungsübungen, mein Gott, wie jung muss der alte Bach mal gewesen sein!
(etwas stärker als beim ersten Mal:)
2) Johann Sebastian Bach: Praeludium G-Dur BWV 860 0:48
Wohltemperiertes Clavier I (The Well-Tempered Clavier I)
Evgenij Koroliov, Klavier / TACET 93 (LC 07033)

3) Johann Sebastian Bach: Fuge G-Dur BWV 860 1:00
Wohltemperiertes Clavier I (The Well-Tempered Clavier I)
Evgenij Koroliov, Klavier / TACET 93 (LC 07033)
(abrupt unterbrechen:)
Sagen Sie mal, ist das etwa schon die Fuge??? Wieso ist das denn nicht deutlich markiert?
Wir können ein seriöses Thema erwarten und eine entsprechende Antwort. Und wenn wir wirklich so gut drauf sind, wie ich das - zugegeben: zum Schein - behauptet habe, erkennen wir auch noch die Wiederkehr des Themas im Bass. Es wird nämlich dreistimmig, das ist eine Herausforderung: Sie hören etwas oben, in der Mitte und unten, und zwar nicht abwechselnd, sondern gleichzeitig. Aber seien Sie zuversichtlich: das Thema ist die Hauptsache, und es kommt nie in den drei Stimmen gleichzeitig. Ein Mensch, der von oben nach unten springt, nur um das Thema zu erwischen, tut nichts Verwerfliches.
4) Johann Sebastian Bach: Fuge G-Dur BWV 860 Anfang bis 0:16
Wohltemperiertes Clavier I (The Well-Tempered Clavier I)
Evgenij Koroliov, Klavier / TACET 93 (LC 07033)
(drüber:)
Hier also im Bass! Danach ein Zwischenspiel, und dann kommt es in der Umkehrung! D.h. alle Bewegungen gehen - verglichen mit vorher - in die Gegenrichtung: Die Aufwärtssprünge verwandeln sich in Abwärtssprünge, es ist der pure Mutwille! Zuerst in der Mittelstimme, - Achtung:
Forts. 4) Johann Sebastian Bach: Fuge G-Dur BWV 860 Anfang bis 0:55
Wohltemperiertes Clavier I (The Well-Tempered Clavier I)
Evgenij Koroliov, Klavier / TACET 93 (LC 07033)
(Themeneinsätze angeben!)
(drüber bei 0:47)
Wieder ein Zwischenspiel.
Und gleich wird das Thema wieder in der Normalform kommen, jedoch in der Umkehrungsform beantwortet werden, was für ein Spiel!
Und dann kommt es noch einmal "normal", aber die zweite Stimme wartet nicht ab, sondern versucht sofort einen Kanon.
Forts. 4) Johann Sebastian Bach: Fuge G-Dur BWV 860 aufblenden bei 0:57
Wohltemperiertes Clavier I (The Well-Tempered Clavier I)
Evgenij Koroliov, Klavier / TACET 93 (LC 07033)
(Einwürfe bei 0:57 ("normal"), bei 1:04 ("Umkehrung"), kurz vor 1:16 ("jetzt im Kanon, oben/unten"), raus im Zwischenspiel bis 1:31)
Ein Zwischenspiel. Es würde mich nicht wundern, wenn Sie sagen: alles schön und gut, aber der ganze Drive und die Zwischenspiele gefallen mir am besten. In Ordnung, aber wenn Sie nebenbei noch etwas entdecken, was aus dem treibenden Fluss der Dinge herausragt, ohne seine Wirkung zu beeinträchtigen, - also die Themeneinsätze, das ist doch auch kein Nachteil, - oder? Der Analysezwang ist hiermit aufgehoben!
5) Johann Sebastian Bach: Fuge G-Dur BWV 860 ganz 2:30
Wohltemperiertes Clavier I (The Well-Tempered Clavier I)
Evgenij Koroliov, Klavier / TACET 93 (LC 07033)
Diese letzten Takte, in denen Evgenij Koroliov so schön ritardiert, mit diesem Orgelpunkt auf dem tiefen G und der dreifachen Rhythmusformel, hat Bach übrigens nachträglich hinzukomponiert. Eine so brillante Fuge soll nicht zackig zuendegehen, sondern auslaufen, wie eine Welle am Strand.

Die Kraft einer solchen Kadenz am Schluss ist eine Bestätigung des ganzen Werkes, drei Schlussakkorde in der klassischen Musik sind die Regel, nur Beethoven übertreibt mal wieder: in der Fünften Sinfonie endet er mit acht C-dur Akkordschlägen und davor stehen auch schon 16 Takte reines C-dur-Gemenge.
Da soll sich noch einer über die indische Musik beschweren! Die folgende Interpretation dauert ja schon wesentlich länger als Beethovens Fünfte bevor es zu dem Schluss kommt, den Sie gleich hören werden, mit den 3 mal 3 Schlagfolgen, die der indische Musiker Tihai nennt. Die zimbalähnlichen Saiteninstrumente heißen Santur, 2 Santure sind hier zu hören, gespielt von Shivkumar Sharma und seinem Sohn Rahul Sharma, die Tabla-Trommel spielt Shafaat Ahmed Khan. Das ist übrigens nicht irgend so eine Begleitung wie in unserer Tanzmusik, man muss diesen durchlaufenden Trommelrhythmus genau so aufmerksam verfolgen wie in der klassischen europäischen Musik, sagen wir, den Bass.

6) Santoor Duet Shivkumar Sharma / Rahul Sharma
Raag Chandrakaums (Schlussphase ca. 4:00)
Live-Aufnahme Indische Nacht Stuttgart 2001
Tabla: Suafaat Ahmed Khan
Chhanda Dhara SNCD 71201
7) Bach Partita Nr.VI e-moll BWV 830 Courante 5:25
Christiane Jaccotet, Cembalo
Saphir INT 830.831 (LC 4226)
Christiane Jaccotet spielte die Courante aus Bachs Partita Nr. 6, e-moll.
Merkwürdigerweise bleibt ja der Bass von dieser rhythmischen Obsession ganz unangetastet, übrigens auch in andern Stücken dieser Art von Bach, etwa in der zweistimmigen Invention E-dur. Zwar wird die melodische Richtung vertauscht, Aufstieg gegen Abstieg, aber nie die rhythmische Rolle der nachschlagenden Oberstimme mit der des Basses. Das Fundament darf nicht wanken.
Was man sich allenfalls leistet in der Alten Musik, ist ein Betonungswechsel, der aber letztlich die Schlusswirkung verstärkt: stellen Sie sich Dreiertakte vor, und am Ende werden plötzlich aus zwei Dreiertakten drei Zweier, also aus 123/123 wird 12/12/12, - noch einmal: ooo / ooo / - oo/oo/oo.
8) André Campra "L'Europe Galante" Passacaille ab 1:12 bis 1:35
CD Jean-Baptiste Lully / André Campra
La Petite Bande Leitung Gustav Leonhardt
EMI deutsche harmonia mundi CMS 7692822 (LC 8586)
Man nennt das auch den "großen Dreier", weil aus zwei Dreiertakten durch Betonungsveränderung ein großer Dreiertakt wird. Wenn Sie lieber ein Fremdwort haben, zumindest jeder Musiker muss es kennen: es handelt sich um eine Hemiole. Hemiolen gibt es nicht nur in der Schlusskadenz, sondern auch zwischendurch, potentiell an jeder Stelle, wo eine vorübergehend abschließende Kadenz auftaucht. Es kann sogar ein Sport werden, überall Hemiolen zu wittern.
Man braucht allerdings eine gewisse kriminelle Energie, um in diesen braven Hemiolen das indische Tihai wiederzuerkennen.
Aber hören Sie mal auf den Bass: immer dieselbe oder fast dieselbe Tonfolge, eine Passacaille, die spanischen Ursprungs ist, und der Franzose André Campra hat sie in seiner Ballettsuite "L'Europe galante" dem Stück "La Turquie" zugeordnet.
Beim Blick in die Noten vermerken wir piquiert, dass sein galantes Europa offenbar aus folgenden Ländern besteht: Frankreich, Spanien, Italien, Türkei. 1697.
Zur posthumen Strafe zählen wir ihm seine Passacaille in krassestem Deutsch kurz und klein.
9) André Campra "L'Europe Galante", Passacaille 3:34
CD Jean-Baptiste Lully / André Campra
La Petite Bande Leitung Gustav Leonhardt
EMI deutsche harmonia mundi CMS 7692822 (LC 8586)
Unter der Leitung von Gustav Leonhardt spielte La Petite Bande eine Passacaille von André Campra, in seinem Ballet "L'Europe galante" erklingt sie (und wird getanzt) innerhalb des Abschnitts "La Turquie".

Mit diesem reizvollen Wechsel des Metrums im Ohr werden Sie nun ein Fragment aus Beethovens dritter Sinfonie, der Eroica, mit anderen Ohren hören. Wir befinden uns am Ende des Scherzos, sind dem schnellen Dreiertakt mit größtem Vergnügen gefolgt, da setzt er noch eins drauf, indem er heftige Akzente auf die schlechte Taktzeit spielen lässt, und dann gleich noch eins: keine Hemiole, aber ein Taktwechsel, der dieselbe Linie wie die Zacken eines Blitzes zur Erde fahren lässt, und weiter geht's in eine kurze Coda: ich höre sie eindeutig als indisches Tihai mit drei Anläufen - und mit wieviel Schlussakkorden? Natürlich, es sind drei!

10) Beethoven Symphony No.3 "Eroica" Scherzo ab 4:38 bis Ende 0:59
The Chamber Orchestra of Europe Leitung Nikolaus Harnoncourt
TELDEC 2292-46452-2 (LC 3706)
11) Famoudou Konaté "Sansani-Saba" 3:51
CD Famoudoue Konaté Maître-djembé: Hamana Föli Kan
Buda Musique 82230-2 DK 017
Dass Beethoven in der Tat einer der ganz großen Rhythmiker der abendländischen Musik ist, weiß man nicht erst seit der sogenannten "Apotheose des Tanzes" in Gestalt der siebenten Sinfonie; es ist kein Zufall, dass er gern mit Afrika in Zusammenhang gebracht wird, sie erinnern sich vielleicht an die Musikpassage "Beethoven und der afrikanische Geiger". Natürlich sind die meisten Rhythmen sehr einfach und multiplizieren ihre Wirkung vor allem durch eine Beharrlichkeit, die das bis dahin abendländische Maß sprengt. Allerdings nie als reiner Rhythmus, sonder immer in Melodie und Harmonie verpackt. Deshalb reagieren wir auch auf reine Trommel-Ensembles wie das von Famoudou Konaté aus Guinea manchmal ratlos und machen uns gar nicht die Mühe, mit den Ohren hineinzutauchen und wirklich Orientierung zu suchen.
In diesem Fall hat er es uns durch kleine Zäsuren einfach gemacht. Zäsuren, die auch sonst nicht fehlen, die wir aber nicht erkennen, weil der Grundrhythmus unbeirrt weiterläuft. Er läuft weiter, weil er das Leben bedeutet!
Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich in einer früheren Musikpassage ein bestimmtes, von einem bestimmten Rhythmus geprägtes Thema bei Mozart nicht wiedergefunden habe; eine Hörerin hat mir auf die Sprünge geholfen, - hier ist es:

12) Wolfgang Amadeus Mozart Trio G-dur KV 564 3. Satz Allegro 1:02
Abegg Trio
TACET 80 (LC07033)
Klaviertrio G-dur, KV 564, das Thema des letzten Satzes.
Den Rhythmus gibt es natürlich schon lange vor Mozart; in der alten Musik kennen wir ihn aus einem Tanz mit Namen Canari (von den kanarischen Inseln soll er stammen), und auch als Typus der Gigue kommt er vor. Zuweilen hat dieser Rhythmus symbolische Kraft: in Schuberts "Winterreise" gehört er zum Posthorn und verbindet sich in tückischer Weise mit dem Herzrhythmus: unvermittelt stockt das Herz - "die Post hat keinen Brief für mich".
13) Franz Schubert Winterreise "Die Post" 2:31
Olaf Bär, Gesang; Geoffrey Parsons, Klavier
EMI 749334 2 (LC 0110)
Ob dieser Rhythmus nun mehr mit den Signalen der Post oder jenen der Jäger zu tun hat, ganz sicher auch mit dem Hufschlag der Pferde. Der Trab läuft im Zweitakt, der Galopp im Dreitakt. Hier haben wir eindeutig einen Dreier.
Aber damit kann man das folgende Lied von Robert Schumann nun überhaupt nicht fassen: der Rhythmus ist im Klaviers etwas vereinfacht, nur im Gesang blitzt er mit der Punktierung auf:
"Es zog eine Hochzeit den Berg entlang, man hörte die Vögel schlagen, da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang, das war ein lustiges Jagen!"
Aber wissen Sie, was der entscheidende Punkt ist? Ich habe ja jetzt betont rhythmisch gesprochen, aber bei Schumann ist das Zögern und Innehalten entscheidend, das Ritardando. Sie merken sofort, dass dies nicht von Bestand ist, die Aufmerksamkeit ist bereit, sich vom offensichtlichen Geschehen zurückzunehmen.
14) Robert Schumann Liederkreis "Im Walde" Anfang bis 0:23
Olaf Bär, Gesang; Geoffrey Parsons, Klavier
EMI 747397 2 (LC 0542)
Das war die erste Strophe, das zweimal erlebte Ritardando wandert jetzt in den Beginn der nächsten Strophe und breitet sich aus, der Rhythmus verliert sich:
"Und eh ichs gedacht, war alles verhallt.
Die Nacht bedecket die Runde,
nur von den Bergen noch rauschet der Wald,
und mich schauerts im Herzensgrunde."
Ein Gedicht von Joseph von Eichendorff, und Schumann wiederholt diese letzte Zeile, mit einer harmonischen Kadenz schließend, die aus der alten Kirchenmusik stammt.
15) Robert Schumann Liederkreis "Im Walde" 1:13
Olaf Bär, Gesang; Geoffrey Parsons, Klavier
EMI 747397 2 (LC 0542)
(Pause lassen)
Robert Schumann:
"Im Walde", und der Wald - so kirchenstill.
Der Inbegriff der ganzen deutschen Romantik - in kaum mehr als einer Minute.
In keine Sprache übersetzbar, und auch unter Deutschen nur denen verständlich, die entsprechende Ohren haben. Die vor allem auch mit der musikalischen Entwicklung von Beethoven bis Schumann ein bisschen vertraut sind und die darüberhinaus wissen, dass es die große Zeit der beginnenden Industrialisierung war und dass Dichter und Musiker mit ihrem verzweifelten Konzept einer Poetisierung der Welt auf verlorenem Posten standen.
Ein ganz verlorener Posten aber wohl doch nicht; denn sonst würden diese höchst empfindlichen Lieder nicht mehr zu uns sprechen, und - es würde nicht so viele Sänger geben, die sich wirklich auf diese schwierige Kunst des Liedgesangs verstehen und uns ins Herz treffen.
Olaf Bär wurde von Geoffrey Parsons am Klavier begleitet.

Wir haben uns den beiden Liedern vom Rhythmus her genähert, der mit Post- oder Jagdhornsignalen und mit galoppierenden Pferdehufen zu tun hat. Aber wir haben uns natürlich auch intuitiv mit dem Gehalt des Textes befasst.
Aber wir haben auch etwas scheinbar Abstraktes registriert: die Strophenform und die Folge der einzelnen Zeilen. Die Zeilen sind hintereinandergesetzt, Einzelsätze, nicht verschachtelt, ohne Wenn und Aber.
Strophe I: Die Hochzeit, der Vogelgesang, die blitzenden Reiter, das Waldhorn, - Zusammenfassung: "Ein lustiges Jagen!"
Strophe II bringt das erlebende Ich ins Spiel: die plötzliche Stille, die Nacht, den rauschenden Wald und das subjektive Fazit: "mich schauerts im Herzensgrunde".
Ich versuche mal, das mit eigenen Worten zu erzählen:
"So war es: Nachdem die lärmende Hochzeit vorübergefahren war, kam mir plötzlich die Stille zu Bewusstsein, zumal die Nacht hereinbrach, die Vögel schwiegen und jetzt nur noch das Rauschen des Waldes von den Bergen herunterkam: da schauerte es mich, als sei ich von Geisterhand berührt worden."
Das ist ein durchaus logischer Zusammenhang, und es ist kein Zufall, dass die Prosaübertragung eine Berührung von außen simuliert, und sei es eine von Geisterhand. In Wahrheit (in Eichendorffs Wahrheit) schauert es mich aber im "Herzengrunde".
Das Gedicht stellt alles gleichberechtigt nebeneinander und am Ende erscheint das Erschauern wie eine weitere Korrespondenz, "zufällig" menschlicher Natur, es ist die Folge, wir fühlen die Logik, aber sie ist - zum Glück - nicht ausformuliert.
Die Musik aber läuft Gefahr, einen viel logischeren Konnex zu schaffen: jede Zeile, der im gesprochenen Text ein kleiner Raum der Stille folgen würde, hat in der Musik - zwar, zunächst, - ein innehaltendes Ritardando zur Folge, aber auch eine Antwort, von der der Text nichts weiß. Sie erinnern sich?

16) Robert Schumann Liederkreis "Im Walde" Anfang bis 0:23
Olaf Bär, Gesang; Geoffrey Parsons, Klavier
EMI 747397 2 (LC 0542)
(Hineinsprechen: "Aussage" - "Antwort" / "Aussage" - "Antwort")
Und weil es so schön ist, noch einmal das ganze Lied.
17) Robert Schumann Liederkreis "Im Walde" 1:13
Olaf Bär, Gesang; Geoffrey Parsons, Klavier
EMI 747397 2 (LC 0542)
Worauf ich aufmerksam machen möchte: dass die Musik oft einer anderen Logik folgt als der Text, insbesondere als ein Gedicht, das einer "gefühlten Logik" folgt.

Ich möchte Ihnen einmal meinen Lieblingschoral vorspielen, dessen Text ich gar nicht kenne, nur den Anfang: "Wendet euch um, ihr Aderlein". Ich werde anschließend versuchen, seine Logik verbal und rein formal vorzugeben. In freier Phantasie, sozusagen wie ein alttestamentarischer Prophet.
Eine ganz andere Frage wäre allerdings, warum dieser Choral mit seiner zeilenhaften Logik manche Menschen unvermittelt zum Weinen bringt.

18) Samuel Scheidt "Wendet euch um ihr Aderlein (B.: Fred Mills) 1:46
Canadian Brass
Pinorrek Records PRCD 3405038 (LC 07679)
Samuel Scheidt: "Wendet euch um ihr Aderlein", gespielt von Canadian Brass.
Wie gesagt, - der folgende, frei erfundene Text hat inhaltlich nichts mit dem Choral zu tun. Er soll nur seine musikalisch-logische Form bezeichnen, hier vorweg in aller Kürze:
Erste Zeile, Prolog "Achtung, es ist soweit."
Zweite Zeile: "Dies ist meine Ausgangsthese."
Dritte Zeile: "Wir können aber dabei nicht stehenbleiben!"
Vierte Zeile: "Es gibt viele Gründe weiter voranzugehen."
Fünfte Zeile: "Ihr zweifelt?"
Sechste Zeile: "Dann werde ich es noch viel deutlicher sagen!"
Siebte Zeile: "Und am Ende erweist sich alles als wahr!"
Nun aber in den konkreteren Worten eines imaginären Propheten:
19) Canadian Brass (Samuel Scheidt) Tr. 2 Wendet euch um 1:46
(zeilenweise vorher gesprochen: )
1. Zeile: Hört zu, ich habe ein ernstes Wort mit euch zu reden
MUSIK
2. Zeile Ihr wisst, dass ich unsere beschränkte Lage sehr wohl kenne.
MUSIK
3.Zeile Aber wir werden trotzdem lernen, über unsere begrenzte Welt hinauszuschauen!
MUSIK
4. Zeile Wir haben doch längst Botschaften aus allen Himmelsrichtungen gehört.
MUSIK
5. Zeile Ihr glaubt vielleicht, ich wiederhole mich nur,
MUSIK
6 .Zeile ...aber ich werde noch weit über alles bisher Gesagte hinausgehen.
MUSIK
7. Zeile Denn, liebe Freunde, es bleibt wahr, auch wenn ich mit dieser letzten Harmoniefolge vollkommen verklungen bin.
MUSIK
"Schmied, mache mir Axt, Hacke und Messer, damit ich arbeiten kann!", singen die Frauen in Guinea. Immer wieder, Zeile für Zeile. Es ist ihr Lebensinhalt, diese Arbeit, oder vielmehr dieser Tanz. Und entsprechend schön ist ihre Melodie. Unvergesslich, wunderbar, - wie Samuel Scheidts Harmoniefolgen.
Und sie bekommen dafür einen Rhythmus geschmiedet, der Samuel Scheidt vergessen lässt. Für diese Trommelsprache fehlt uns wirklich die radiophone Logik. Die Logik der körperlichen Bewegung.

20) Famoudou Konaté "Numun" 7:36
CD Famoudoue Konaté Maître-djembé: Hamana Föli Kan
Buda Musique 82230-2 DK 017
21) Johann Sebastian Bach: Invention 6 E-dur BWV 777 3:19
Bob van Asperen, Cembalo
CD "Lessons with Bach"
Aeolus AE-10034 (LC 02232)
Ich muss mich entschuldigen: vorhin habe ich behauptet, bei Bachs rhythmischen Obsessionen bleibe der Bass immer unangetastet, selbst bei der zweistimmigen Invention in E-dur. Dies hier war sie, und wer genau mitgezählt oder mitgefühlt hat, wird bemerkt haben, dass für kurze Momente die korrekte Zählzeit doch in die Oberstimme wandert, während die untere Stimme nachklappt. Bob van Asperen spielte.
WDR 3, Musikpassagen, heute mit Jan Reichow.
Meine Damen und Herren, wenn Sie den Pressetext dieser Sendung gelesen haben, muss ich noch eins hinzufügen: da habe ich wohl den Mund zu voll genommen. Ich kann mich hier nicht, wie angekündigt, im Detail mit den Malinke-Rhythmen des Famoudou Konaté auseinandersetzen, mit den échauffements und den bloquage-Signalen in seinen Soli, nebenbei noch Logik oder Unlogik der barocken Da-Capo-Form einbeziehen, dazu vielleicht noch die eine oder andere Blues-Strophe. Nein! Auch bei dieser einen Bach-Fuge von vorhin lasse ich es bewenden, keine Orgelfuge also, wie angekündigt. Dafür noch einmal Indien und dann Brahms. Oder wollen wir zunächst mit einem indisch getönten Brahms fortfahren?
Ein Rätsel, - aber eins von den ganz leichten.
22) Johannes Brahms Klarinetten-Trio op. 114 1. Satz Anfang bis 0:28 dreimal hintereinander
Michel Portal, Klarinette; Frédéric Lodeon, Cello, Michel Dalberto, Klavier
APEX 256461792-2
Könnte es nicht das Mantra einer melancholischen Weltsicht sein?
Der alte Brahms liebte kreisförmige Gebilde, "die Schlange beißt sich in den Schwanz", sagte er, als er ein Jugendwerk neu bearbeitete, statt op. 8 könnte es nun op. 108 heißen, und dann kehrte er noch einmal zu den Volksliedern zurück, von denen er als Zwanzigjähriger bereits eins als langsamen Satz der Klaviersonate opus 1 verwendet hatte.
Ich habe den Anfang seines Klarinettentrios op. 114 in ein "Mantra" verwandelt, damit wir später um so deutlicher wahrnehmen, wie Brahms es verlässt, um zur zielgerichteten Auseinandersetzung mit dem Material überzugehen.
Am Ende des Satzes steht ein Fazit in Gestalt des nunmehr beruhigten Hauptthemas, das den ganzen Satz über irritierend gewirkt hat dadurch, dass man eine falsche Eins hörte und dessen allmählich inneward, man stand auf irgendwie schwankendem Boden, - und nun wird er auf zarteste Weise austariert: die zielgerichteten Sechzehntelläufe helfen dabei und verebben schließlich in einem kreisförmig gegeneinanderlaufenden Gedudel. Zauberhaft.
23) Johannes Brahms Klarinetten-Trio op.114 1. Satz Ende 2:02
Michel Portal, Klarinette; Frédéric Lodeon, Cello, Michel Dalberto, Klavier
APEX 256461792-2
Die Formel, die Brahms hier verklärt, heißt ein paar Jahre später, in seinen 4 ernsten Gesängen: "Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh..."
Und da steht dann am Ende das Lied: "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle...." Das ist so wahr, was Brahms hier mit den Worten des Apostels Paulus in Musik ausdrückt, dass man sich fast schämt, räsonnierend im Vor-Vorraum des Tempels stehenzubleiben und zu behaupten: wenn ich aber nun nicht mal Menschen- und Engelszungen verstehe, so hilft mir doch auch die Liebe nicht...
(Musik beginnt, mitten im Alap Purya Kalyan einblenden, vor 15:21)

Die Liebe zur Musik allein hilft mir zum Beispiel nicht, die fremde Zunge der indischen Musik zu verstehen. Ich muss ganz praktische Fragen stellen. Wie erkenne ich die Rahmenbedingungen? Wo ist Punkt und Komma, wo sind die Zeilen, von denen wir bei unsern Liedern vorhin gesprochen haben und sprechen konnten?
Wo gibt es im indischen Fluss ohne Ufer, in diesen musikalischen Riesengebilden so etwas wie eine Melodie, ein Thema zum Festhalten?
Lassen wir einmal das Phänomen Raga beiseite: natürlich gibt es ein Thema oder mehrere Themen, ein solches Thema wird Komposition ("Composition") genannt, obwohl es recht kurz ist; man sollte es begreifen, beim Schopfe fassen, sobald die Tabla-Trommel einsetzt, Achtung:
24) Shivkumar Sharma "Raga Purya Kalyan" hoch ab 15:21
Shivkumar Sharma, Santur; Zakir Hussain, Tabla
CD INDIA World Network 52.984 (LC 6759)

mitsingen und zählen!!! dann schweigen bis zum neuen Themeneinsatz bei 17:56,
durch "Achtung Thema" ankündigen und Anfang mitsingen:

Fortsetzung 17:56 bis 18:35

vor 19:31: "jetzt kommen gleich deutliche rhythmische Kadenzen, Sie erinnern sich?, aber auch wenn Sie diese Sendung eben erst eingeschaltet haben, erkennen sie, dass sich etwas anbahnt: das Thema muss wiederkehren!" - (dann schweigen bis:)

20:39 bei Themenwiederkehr mitsingen und zählen, aber Beschleunigung bei 21:27 einfach hören lassen.
"Die Beschleunigung haben Sie mitbekommen? In einer Minute geht es zurück zum Thema, und diesmal gibt es dort eine ganz vertrackte rhythmische Kontroverse..." 23:18 bis 24:03 (Thema + intrikate Rhythmen)

(Musik vor 26:21 weg und folgenden Text einschalten)
Wenn sonst über indische Rhythmen gesprochen wird, führt man im allgemeinen Tintal vor, einen Zyklus von 16 Zählzeiten, in 4 mal 4 gruppiert. Das kommt uns sehr entgegen, weil wir in solchen einfachen Gruppen musikalisch denken gelernt haben. Wir können die Erleichterung, die Lösung der Spannung auf der EINS - nach jeder Runde oder auch nach jeder zweiten Runde - leicht mitvollziehen.
Aber solch ein Siebener-Zyklus wie der, den wir hier betrachten, "Rupaktal" heißt er, der hat mich vor 15 Jahren, als wir diese WDR-Aufnahme bei Network veröffentlichten, fast zur Verzweiflung gebracht. Man findet nämlich nicht ohne weiteres die EINS, das SAM, jedenfalls ist man sich nicht ganz sicher, und die Erklärung dafür versteht sich nicht von selbst:
Jeder rhythmische Zyklus hat neben dem SAM, der Hauptbetonung, auf EINS, einen Tiefpunkt, einen toten Punkt, Khali - tatsächlich nach der Todesgöttin benannt -, von dem aus es wieder aufwärts zur Hauptbetonung geht: nur bei Rupaktal ist es anders: der beginnt mit Khali!
Aber wie kann er ohne Hauptbetonung, ohne SAM, überhaupt leben ?
Ich würde erwarten, dass darüber in den indischen Traktaten gegrübelt und philosophiert wird, - ein rhythmischer Zyklus, der mit Khali beginnt!
Nichts!
Ich lese bei Gert-Matthias Wegner in seinem Riesenwerk zum Tala- und Tabla-Repertoire wenigstens die Bemerkung, dass der große Tabla-Virtuose Nikhil Ghosh den Zyklus "Rupaktal" als nicht geeignet für große Tabla-Soli befindet, obwohl notfalls auch solche aufzufinden sind. (Z.B. bei Rashid Mustafa Thirakwa, dem Neffen des legendären Ustad Ahmed Jaan Thirakwa).
Mir ist das jedenfalls eine Erklärung dafür, dass die Hauptbetonung in Rupaktal tatsächlich an recht merkwürdiger Stelle liegt: auf der Zählzeit 5, oder wenn wie hier durch die Melodie zwei Rupak-Längen zusammengefasst werden, dann liegt ein Schwerpunkt auf dem Anfang der zweiten Siebener-Gruppe.
Das ist nützlich zu wissen, falls Sie sich die CD zum exzessiven Hören zulegen wollen.
Hier in dieser Sendung, verlassen wir gleich den Zyklus Rupaktal und werden zu Tintal geleitet. Zunächst noch einmal das Thema in Rupaktal, und dann, in ca. einer Minute, kommt eine neue, knappere Version des Themas in Tintal.
25) wie Beispiel 24) Shivkumar Sharma: "Raga Purya Kalyan"
Shivkumar Sharma, Santur; Zakir Hussain, Tabla
CD INDIA World Network 52.984 (LC 6759)
s.a. Erläuterungsblatt zum Raga Purya Kalyan:
(Originalgrösse in neuem Fenster!):
thumbnail zum Erläuterungsblatt Raga Purya Kalyan - © Jan  Reichow 2006 - .jpg Grafik (300k) in neuem Fenster
ab 26:21 Thema in Rupaktal / Überleitung / 27:09 Thema in Tintal
(beide Themen mitsingen, weiterlaufen lassen, endet 27:30, weiter "kleine Melodien")
Musik weiter (in Sendung nach Bedarf unter folgendem Text ausblenden)

Meine Damen und Herren, ich hoffe, ich habe Sie nicht genervt mit meinen Einmischungen. Es ist einfach nützlich zu entdecken, dass es eines gewissen Eigenaufwandes bedarf, wenn man indische Musik genießen will. [ s.a. Hörerreaktionen ]
Es genügt nicht zu meditieren oder gar zu träumen. Es ist wirklich wie bei uns: Musik braucht fast immer wache Aufmerksamkeit, bevor sie ihre Kräfte entfaltet.
Ich springe jetzt auf den Schluss der ganzen Interpretation: da trägt uns das wachsende Tempo von selbst davon...

26) Shivkumar Sharma "Raga Purya Kalyan" ab 39:00 bis Ende 4:30
Shivkumar Sharma, Santur; Zakir Hussain, Tabla
CD INDIA World Network 52.984 (LC 6759)
Das indische Zimbalinstrument Santur, gespielt von Shivkumar-Sharma, auf den Tablas begleitet von Zakir Hussain. Eine große Interpretation des Ragas Purya Kalyan, im Original 44:00 Minuten, hier im Schnelldurchgang zum Kennenlernen und Übersicht gewinnen.
Eine Analyse des Ragas findet man im Booklet der CD, die rhythmische Übersicht aber nur hier in den Musikpassagen auf WDR 3.

Von der Fügung der Fuge, der gefühlten Logik des Liedes und der Kraft der rhythmischen Kadenz haben wir also einiges erfahren.
Und wenn wir statt einer mehr oder weniger strengen Fuge nun zum Abschluss die Zusammenfügung von Stimmen bzw. Instrumenten beobachten und bereit sind, sie ebenso zu bedenken und ernstzunehmen, wie in einem Gespräch unter wenigen Beteiligten, leidenschaftlich Beteiligten allerdings, dann hören wir Johannes Brahms wahrscheinlich auch mit neuen Ohren: von indischer Musik geläutert, empfänglich für raffinierte Rhythmen und Feinheiten in der Kunst des Übergangs.
Das Mantra des Anfangs haben Sie noch im Ohr, nicht wahr? Es folgt der erste Satz des Klarinettentrios op. 114, a-moll. Michel Portal spielt Klarinette, Frédéric Lodeon: Cello, und Michel Dalberto: Klavier.

27) Johannes Brahms Klarinetten-Trio op. 114 1.Satz Allegro 7:02
Michel Portal, Klarinette; Frédéric Lodeon, Cello, Michel Dalberto, Klavier
APEX 256461792-2
Sie hörten die Musikpassagen auf WDR 3. sie handelten von der Fügung der Fuge, der gefühlten Logik des Liedes und der Kraft der rhythmischen Kadenz, was man sich bei bloßer Musik so alles denken kann... Zuletzt beim ersten Satz des Klarinettentrios op. 114, a-moll, von Johannes Brahms, gespielt von Michel Portal, Klarinette, Frédéric Lodeon, Cello, und Michel Dalberto, Klavier.
Ich hoffe, der Nachmittag war weniger anstrengend als anregend, wir haben ja Ferien, da kann man sich schon Zeit nehmen für Dinge, die auf der Fahrt des Lebens sonst allzuschnell vorüberrauschen.

Fragen, Anregungen, Kritik und Lob über unser Hörer-Telefon, die Nummer gleich im folgenden Trailer! Einen Musikablauf finden Sie im WDR 3 Internet unter den Musikpassagen, sobald unser fleißiger Produktionsassistent Ralf Haeger sie fertiggestellt hat, in der Technik hat Timo Becker an manchen Mischungen hart gearbeitet, und ich habe selbst viel mehr gelernt als ich bei der Planung des Programms gedacht hatte.
Die Redaktion dieser Sendung hatte Bernd Hoffmann,
am Mikrofon verabschiedet sich: Jan Reichow.
28) Johannes Brahms Klarinetten-Trio op. 114 3.Satz Andante grazioso 3:55
Michel Portal, Klarinette; Frédéric Lodeon, Cello, Michel Dalberto, Klavier
APEX 256461792-2
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Musikpassagen 20.Juli 2006 - Von der Fügung der Fuge ...